Der Konflikt zwischen Paris und Ankara über scheinbar symbolische Fragen könnte die Türkei weit teurer zu stehen kommen als ihre geopolitischen Fehden mit ihren westlichen Partnern, meint Güney Yildiz.
Frankreich und die Türkei stehen sich in geopolitischen Konflikten auf drei Kontinenten gegenüber. Jetzt hat ein islamistischer Anschlag auf französischem Boden einen Kulturkonflikt zwischen Paris und Ankara entfacht. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan bezichtigte den französischen Präsidenten Emmanuel Macron der Islamophobie und rief zum Boykott französischer Produkte auf. Zunächst scheint es eine Krise von weit geringerer Tragweite als die harten geopolitischen Konflikte zwischen den beiden Staaten zu sein.
In Libyen tritt Paris Ankaras Militärintervention auf Seiten der von den Vereinten Nationen anerkannten Regierung in Tripolis entgegen, die das Machtgleichgewicht zuungunsten der in Bengasi stationierten Streitkräfte von General Chalifa Haftar verschiebt. Für Aufsehen sorgte ein Vorfall, bei dem ein türkisches Kriegsschiff sein Feuerleitradar auf eine französische Fregatte richtete, um es von der Kontrolle eines Frachtschiffs abzuhalten, das mutmaßlich Waffen nach Libyen schmuggelte. Im östlichen Mittelmeerraum ist Frankreich eine der führenden europäischen Stimmen, die die türkische Suche nach Öl und Gas in den umstrittenen Gewässern kritisiert. In Syrien hat sich Frankreich gegen türkische Angriffe auf die von Kurden geführten Rebellen positioniert, die Präsident Macron kürzlich als Frankreichs »Partner gegen den islamischen Dschihadismus« bezeichnete. Und letztlich versucht Frankreich, wo eine beträchtliche Zahl der armenischen Minderheit lebt, als einer der Ko-Vorsitzenden der Minsk-Gruppe der OSZE, der diplomatischen Kampagne Ankaras gegen Armenien im Zusammenhang mit dem Krieg um Berg-Karabach entgegenzuwirken.
Bisher hat Ankara aus all diesen Krisen nur wenig politischen Schaden davongetragen. Paris ist es nicht gelungen, seine europäischen und westlichen Partner in einem koordinierten Vorgehen gegen Ankara zu vereinen. Die europäischen Länder sind in diesen Fragen nicht einer Meinung mit Frankreich und auch weniger von den Problemen betroffen.
Präsident Erdoğan scheint sich der Tragweite der Krise nicht bewusst zu sein. Die jüngsten Vorfälle kultureller und symbolischer Streitigkeiten könnten sich aus drei Gründen als folgenschwerer für die Türkei erweisen als die harten geopolitischen Konflikte. Erstens hat der Streit über den Islam unmittelbare und spürbare Auswirkungen auf die französische Innenpolitik. Die Rechtsextremen, die in Umfragen nur knapp hinter Macron liegen, profitieren von jeglichen Spannungen mit der muslimischen Minderheit des Landes. Paris betrachtet Erdoğans Äußerungen als ernsthafte Einmischung in Frankreichs innere Angelegenheiten.
Zweitens greift die Kampagne von Erdoğan vordergründig Frankreich heraus, zielt aber in Wirklichkeit auch auf andere europäische Länder ab. Spannungen im Zusammenhang mit muslimischen Minderheiten sind nicht nur ein französisches Problem. Sie betreffen so ziemlich jedes westeuropäische Land – unabhängig von der tatsächlichen Größe seiner muslimischen Bevölkerung. Ein Aufbauschen des Problems wirkt sich daher in all diesen Ländern unmittelbar auf die Innenpolitik aus und beschert den extremen Rechten wahrscheinlich Zulauf. Die Ankündigungen des französischen Innenministers Gérald Darmanin, hart gegen islamische Nichtregierungsorganisationen und potenziellen Gefährder durchzugreifen, sollen diesen verhindern. Es bleibt allerdings abzuwarten, ob diese Strategie aufgeht.
Drittens hat diese Krise auch eine bedeutende sicherheitspolitische Dimension. Die von Erdoğans verstärkte Entrüstung der Muslime könnte eine politische Atmosphäre schaffen, die gewaltbereite Extremisten zu Anschlägen anspornt. In Bezug auf Terroranschläge in Städten betrifft diese sicherheitspolitische Dimension alle westeuropäischen Länder, von Spanien über Schweden und Deutschland bis hin zum Vereinigten Königreich. Der jüngste Anschlag in Österreich, zu dem sich der »Islamische Staat« bekannt hat, zeigt, wie unmittelbar diese Gefahr ist. Anschläge dieser Art schaffen auch die Voraussetzungen für Gegenreaktionen seitens rechtsextremer Terroristen in verschiedenen europäischen Ländern.
Die Auswirkungen einer Atmosphäre, die dem islamistischen Extremismus Vorschub leistet, sind somit in ganz Europa zu spüren. Mehrere europäische Regierungen und das Europäische Parlament haben Paris in seinem »Krieg der Worte« mit Ankara bereits öffentlich unterstützt. Je mehr es Erdoğan gelingt, seine anti-französische Agenda voranzubringen, desto eher provoziert er damit eine stärkere Gegenreaktion der EU. Obwohl es keine Verbindung zwischen Erdoğan und den Anschlägen in Frankreich gibt, steht der türkische Präsident im Mittelpunkt der französischen Debatte. Als die ersten Nachrichten von den Anschlägen in Nizza eintrafen, diskutierten die Sender und Kommentatoren diese umgehend im Zusammenhang mit Erdoğans jüngsten Äußerungen über Frankreich.
In den Unterstützungsbekundungen der europäischen Staats- und Regierungschefs und zuletzt auch in der Erklärung des Europäischen Auswärtigen Dienst zeigte sich bereits die Einigkeit in der Frage des Islam in Europa und die uneingeschränkte Unterstützung für Frankreich gegen die Türkei. Wenn die Bemühungen um eine Koordinierung der europäischen Erklärungen und Maßnahmen die Türkei zum Rückzug zwingen, könnten die Erfahrungen in anderen Auseinandersetzungen mit der Türkei genutzt werden. Erdoğan ist nicht gerade bekannt dafür, dem Druck aus Europa nachzugeben, aber es ist sehr wahrscheinlich, dass Ankara seine Kampagne gegen Frankreich angesichts einer koordinierten Reaktion aufgeben würde. Wenn diese Krise dazu beitragen kann, Europa gegen die Türkei zu vereinen, wäre das ein Novum in den vergangenen Jahrzehnten und könnte einen bedeutenden Präzedenzfall schaffen. Es könnte sogar dazu führen, dass Europa endlich einen politischen Hebel findet, wenn es konkrete diplomatische und wirtschaftliche Maßnahmen gegen Ankara erwägt.
Im Streit zwischen Präsident Erdoğan und seinem Amtskollegen Macron geht es um mehr als den Islam. Ankara wehrt sich gegen Frankreichs Bestrebungen, den Einfluss der Türkei auf die türkische Diaspora einzuschränken, und strebt die Führung in der sunnitischen Welt an. Europa sollte jetzt umsichtig vorgehen, meint Sinem Adar.