Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine zwingt die Europäer in eine konfrontative Sicherheitsordnung. Damit bekommt auch das Ziel strategische Souveränität eine neue Bedeutung für die Europäische Union. Das gilt zuvorderst für die Verteidigungspolitik, aber auch für Wirtschaft, Technologie, Energiepolitik und Institutionen. Bislang lautete ein zentrales Narrativ, dass die EU autonome Handlungsfähigkeit ohne die USA erreichen müsse. Vorrang sollte aber nunmehr haben, wie die EU-Mitgliedstaaten geschützt werden können und wie sich gemeinsame europäische Interessen durchsetzen lassen. Dabei steht die Union vor einem Dilemma, das sich auf absehbare Zeit nicht auflösen, sondern nur abmildern lässt: In der neuen konfrontativen Sicherheitsordnung Europas steigt ihre sicherheitspolitische Abhängigkeit von den USA weiter, während Amerikas langfristige Bündnisfähigkeit mit Fragezeichen behaftet bleibt. Strategische Souveränität muss daher das Streben nach kollektiver Verteidigungsfähigkeit Europas in enger Kooperation und Koordination von EU und Nato einschließen.
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine und die dadurch ausgelösten Verwerfungen in der europäischen Sicherheit werden das politische Narrativ um europäische strategische Souveränität nachhaltig verändern. Wegen der direkten militärischen Bedrohung an den eigenen Grenzen geht es nicht mehr in erster Linie darum, dass die EU größere Autonomie gegenüber den USA erlangt. Vielmehr muss vor allem die Union handlungsfähiger werden, um zum Schutz ihrer Mitgliedstaaten beizutragen sowie europäische Interessen in einer von Großmächterivalitäten geprägten globalen Politik zu behaupten.
In der Folge des Ukraine-Krieges müssen daher auch die Kernfragen im Zusammenhang mit strategischer Souveränität neu beantwortet werden: Wie kann diese militärisch abgesichert werden? Wie verschieben sich die thematischen Prioritäten? Welche institutionellen Reformen schaffen mehr Handlungsfähigkeit? Wie geht die EU künftig mit ihrer Erweiterungspolitik um? Wie verändern sich die Beziehungen der EU zu Partnern und Drittstaaten?
Europas neue konfrontative Sicherheitsordnung
Im Laufe der letzten drei Dekaden ist die Idee einer europäischen Sicherheitsordnung degeneriert, nämlich von der Hoffnung auf eine »dauerhafte und gerechte Friedensordnung von Vancouver bis Wladiwostok« (Hans-Dietrich Genscher) zu einer zunehmend antagonistischen Konstellation zwischen dem Westen und Russland unter Führung von Präsident Wladimir Putin. Ausdruck dieser Entwicklung waren bereits der Georgien-Krieg, die Annexion der Krim und das russische Vorgehen in Syrien.
Mit dem Ukraine-Krieg zeichnet sich der Übergang zu einer konfrontativen europäischen Sicherheitsordnung ab. Diese manifestiert sich nicht nur in der Ukraine und im Verhältnis zwischen den EU- bzw. Nato-Staaten und Russland, sondern auch in der weiteren Nachbarschaft der EU wie etwa im Westbalkan, im Nahen Osten oder in Mali.
EU und Nato bestehen als wesentliche Säulen der »alten Ordnung« fort und scheinen infolge des Angriffs sogar, nach innen gestärkt, an Bedeutung zu gewinnen. Großen Schaden genommen haben dagegen jene Institutionen, die nicht zuletzt dazu dienten, Russland in die europäische Ordnung einzubinden, allen voran OSZE und Europarat. Nato-Russland-Rat und Nato-Russland-Grundakte sind möglicherweise dauerhaft zerstört.
Diese neue Konstellation hat unmittelbare Auswirkungen auf die Möglichkeiten und Grenzen europäischer strategischer Souveränität. Erstens werden die Mitgliedstaaten der EU sowie die europäischen Nato-Partner erhebliche Kosten schultern müssen, um sich von Russland energiepolitisch abzukoppeln und zugleich die sicherheits- und machtpolitischen Ambitionen des Kremls einzudämmen. Damit bleiben weniger Aufmerksamkeit und Ressourcen für Politikfelder, die nicht direkt mit dieser Herausforderung zusammenhängen.
Zweitens hat Putin deutlich gemacht, dass es ihm nicht nur um das Nachbarland geht, sondern um eine grundlegendere Neuordnung europäischer Sicherheit. Das hieße auch, die russische Vormacht im »postsowjetischen Raum« wiederherzustellen. Damit eng verbunden ist ferner das Ziel, die USA politisch und sicherheitspolitisch aus Europa zu verdrängen.
Drittens müssen EU und Nato klären, wie sie ihre jeweiligen Erweiterungsprozesse und -perspektiven unter den Bedingungen einer konfrontativen Sicherheitsordnung fortführen wollen und können. Auf kürzere und mittlere Sicht wird vor allem in Schweden und Finnland über einen schnellen Nato-Beitritt debattiert (siehe SWP-Aktuell 19/2022). Bislang gibt es wenig Anzeichen dafür, dass auch andere bündnisfreie EU-Staaten wie Irland, Malta oder Österreich ihren Status ernsthaft überdenken wollen.
Mit neuer Brisanz stellt sich die Frage nach der sicherheitspolitischen Integration der Staaten in der östlichen Nachbarschaft der EU. Die Ukraine, die Republik Moldau und Georgien haben einen EU-Beitrittsantrag gestellt, und die geostrategische Konkurrenz mit Russland im westlichen Balkan spitzt sich zu. Auszuloten ist, wie weit auch im Sinne strategischer Souveränität die Grenzen der euroatlantischen Sicherheit reichen und wie diese garantiert werden kann. Das ist gerade auch für jene Staaten von Belang, die absehbar keine Aussicht auf Nato-Mitgliedschaft haben.
Was strategische Souveränität jetzt bedeutet
Diese fundamentalen Umbrüche in Europa erfordern es, die Ziele strategischer Souveränität neu zu definieren. Schon in den letzten Jahren war die Debatte um strategische Souveränität, oder – je nach Verständnis – strategische Autonomie Europas ein Fixpunkt des europapolitischen Diskurses.
Spätestens seit Gründung der Europäischen Union mit ihrer Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik waren Grundzüge des Narrativs der »Selbstbehauptung Europas« (Helmut Schmidt) Teil der politischen Begründung für die europäische Integration. Doch erst Trumps Amtszeit als US-Präsident hat die Frage nach strategischer Autonomie in den Vordergrund gerückt.
Deren Befürworter waren trotz oder wegen der hohen sicherheitspolitischen Abhängigkeit von den USA hauptsächlich von dem Problem getrieben, wie Europa autonom von Dritten seine eigenen Interessen und Prioritäten setzen kann (siehe SWP-Studie 2/2019). Das betraf neben den USA auch die anderen »Großmächte« China und Russland. Vor allem das Ziel »Mehr Autonomie gegenüber den USA« hatte zur Folge, dass viele mittel- und osteuropäische Staaten die Idee ablehnten. Mit Blick auf Russland bewerteten sie schon vor Beginn des Ukraine-Krieges das US-amerikanische Bündnisversprechen als existentiell.
Geprägt war die Debatte bisher stark von Disputen über die verschiedenen Definitionen von Termini wie »strategische Autonomie«, »offene strategische Autonomie«, »europäische (strategische) Souveränität« oder »Handlungsfähigkeit«. Diese Schlüsselbegriffe bezeichnen unterschiedliche Anspruchsniveaus.
Der Begriff Handlungsfähigkeit bezieht sich vor allem auf die politischen und materiellen Voraussetzungen der gemeinsamen europäischen Außen- und Sicherheitspolitik. Handlungsfähigkeit erfordert politische Institutionen in oder außerhalb der EU, in denen sich möglichst schnell verbindliche Entscheidungen treffen lassen. Nötig sind auch hinreichende Ressourcen, um militärisch, wirtschaftlich, technologisch oder politisch handeln zu können. Das Ziel Handlungsfähigkeit allein sagt aber nichts darüber aus, mit wem und in welchen Formaten die Europäer gemeinsam handeln.
Strategische Autonomie geht über reine Handlungsfähigkeit hinaus, denn damit ist im Kern die Fähigkeit gemeint, selbst Prioritäten zu setzen, Entscheidungen zu treffen und diese auch umzusetzen (siehe SWP-Studie 2/2019). Impliziert und umstritten ist daher besonders der Aspekt der Autonomie gegenüber den USA mit ihren Sicherheitszusagen für Nato-Europa.
Strategische Souveränität ist das anspruchsvollste Ziel. Der französische Präsident Emmanuel Macron hat das Schlagwort während seiner Sorbonne-Rede 2017 in die Debatte eingeführt. Der politische Begriff Souveränität impliziert eine gemeinsame politische Autorität, welche in demokratischen Staaten vom Volk ausgeht und Ausgangspunkt für die staatliche Gewalt ist. Mehr noch als strategische Autonomie erfordert Souveränität daher ein politisches Konstrukt, das jenseits des Nationalstaates bisher nur die EU bietet. Zwar ist diese weit davon entfernt, ein souveräner Staat zu sein. Dennoch ist sie schon heute ein einzigartiges politisches Gebilde, das dazu taugt, gemeinsam Souveränität in der vollen Bandbreite staatlicher Politik auszuüben.
Strategische Souveränität wurde damit auch zu einem zentralen Narrativ für die Vertiefung der Europäischen Union. Nach Beginn des Ukraine-Krieges hat die Idee der Souveränität eine neue Bedeutung bekommen. Die Gewährleistung von Sicherheit und persönlicher Unversehrtheit gehört zu den Kernaufgaben der Staaten. So wie die Bürgerinnen und Bürger in der Corona-Pandemie erwarteten, dass die EU (unabhängig von formalen Kompetenzen) Verantwortung für die öffentliche Gesundheit übernimmt, erwarten sie angesichts der russischen Invasion der Ukraine, dass die EU für die Sicherheit ihrer Staaten sowie ihrer Bürgerinnen und Bürger Sorge trägt.
Trotz dieser Debatte haben die EU-Europäer zwischen dem Amtsantritt von Donald Trump als US-Präsident und dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine nur wenig konkrete und praktische Fortschritte hin zu mehr Souveränität erzielt. Die Verteidigungshaushalte der meisten EU- und Nato-Staaten sind zwar moderat gestiegen, blieben aber größtenteils weit unter dem in der Nato vereinbarten Ziel von 2 Prozent des BIP.
Die EU hat in Gestalt der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) und des EU-Verteidigungsfonds institutionelle Verfahren geschaffen, aber ihre militärische Handlungsfähigkeit bis dato kaum gestärkt. Mehr greifbare Fortschritte stehen dagegen in wirtschaftlichen Bereichen zu Buche, etwa im Rahmen der Initiativen zum Schutz vor wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen, zu technologischer Resilienz und zur Projektion europäischer Wirtschaftskraft außerhalb der EU (Global Gateway).
Mehr, aber nicht nur militärische Sicherheit
Die kurz- und langfristigen Folgen des Ukraine-Krieges werfen auch die Frage auf, welche Prioritäten europäische Politik künftig setzen wird. Das Ziel strategische Souveränität umfasst das gesamte Spektrum außen- und sicherheitspolitischen Handelns, nicht nur die verteidigungspolitische Dimension. Diese wird dennoch in Zukunft eine weitaus prominentere Stellung einnehmen als bisher. Das betrifft den Aufbau militärischer Fähigkeiten, die Koordination der wachsenden Verteidigungsausgaben, die Aufrechterhaltung der nuklearen Abschreckung und die damit verbundene Beibehaltung der amerikanischen Bündniszusagen.
Darüber hinaus schließt strategische Souveränität alle Politikbereiche ein, in denen eine eigenständige Handlungsfähigkeit der EU und ihrer Mitgliedstaaten für ihren eigenen Schutz unter den neuen geopolitischen Vorzeichen relevant sind. Jenseits des Militärischen sind es vor allem drei Themenfelder, deren Bedeutung für strategische Souveränität nach Beginn des russischen Krieges gegen die Ukraine weiter gewachsen ist:
Erstens ist hier die autonome Handelspolitik zu nennen. Darin verfügt die EU bereits über ausschließliche Kompetenzen und aufgrund ihrer Wirtschaftskraft über wirkungsvolle Machtinstrumente. Im Kontext des Ukraine-Krieges stehen die mit Partnern koordinierten Wirtschaftssanktionen gegen Russland im Blickpunkt, aber auch die Ausweitung von Handelsbeziehungen mit Drittstaaten, um Abhängigkeiten von Russland zu reduzieren. Immer wichtiger mit Blick auf Investitionen ist überdies der Schutz der europäischen Wirtschaft vor strategischen Übernahmen.
Der zweite Themenbereich betrifft die internationale Rolle des Euros und damit die finanzpolitische Souveränität. Gemeinsam mit den USA und Großbritannien hat die EU beispiellose Finanzsanktionen gegen Russland und dessen Zentralbank erlassen. Die größte Wirkung ging dabei jedoch von den USA aus, weil der US-Dollar Dreh- und Angelpunkt im globalen Finanzsystem ist. Langfristig kann Europa hier nur handlungsfähig bleiben, wenn nach dem Brexit ein dynamischer Finanzmarkt in der EU entsteht und der Euro als internationale Leitwährung gestärkt wird.
Kritisch ist drittens die Abhängigkeit Europas bei Energieimporten und weiteren strategischen Rohstoffen. In den vergangenen Jahren hat sich gezeigt, wie anfällig die EU sein kann, wenn Akteure wie die USA oder China mit Machtpolitik um essentielle Rohstoffe konkurrieren oder wenn sich die EU-Staaten beim Aufbau von Lieferketten zu sehr auf einzelne Länder stützen.
Angesichts der aktuellen Sicherheitslage in Europa und der weiterhin existentiellen Herausforderung durch den Klimawandel stellt sich besonders dringlich die Frage, wie Kohle, Öl und Gas aus Russland kurz- und mittelfristig durch Diversifizierung und Umstellung auf erneuerbare Energien substituiert werden können. Dabei gilt es neue Abhängigkeiten gegenüber anderen autoritären Regimen zu verhindern.
Neben den drei genannten Themenfeldern bleibt die technologische und digitale Eigenständigkeit eine wichtige Dimension strategischer Souveränität. Zumindest kurzfristig droht sie infolge der Herausforderung durch Russland etwas in den Hintergrund zu treten. Das hängt damit zusammen, dass die technologische und digitale Souveränität besonders im Verhältnis zu China, aber teils auch zu den USA entwickelt und geschützt werden muss. Der Konflikt mit Russland hat jedoch vor Augen geführt, wie stark über lange Zeit entstandene Abhängigkeiten Europas Handlungsspielraum einschränken können. Das trifft noch weit mehr auch auf das Verhältnis zu China zu. Zu technologischer Souveränität gehört schließlich auch die Weltraumpolitik.
Institutionelle Handlungsfähigkeit
Fortschritte hin zu einer größeren strategischen Souveränität Europas hängen wesentlich auch vom institutionellen Handlungsrahmen und von der institutionellen Handlungsfähigkeit ab. Problematisch bleiben die komplexen institutionellen Strukturen in der euro-transatlantischen Sicherheit. Die Mitgliedschaften von EU und Nato überlappen sich nur teilweise. Daneben sind noch zahlreiche minilaterale und Ad-hoc-Koalitionen entstanden. Der Brexit hat dieses Problem verstärkt.
Was die nichtmilitärischen Aspekte strategischer Souveränität anbelangt, bietet nur die EU einen geeigneten institutionellen Handlungsrahmen. Nur sie nämlich verbindet die Kompetenzen, den politischen Rahmen und – wenngleich mit Verbesserungspotential – die demokratische Legitimität, um weitreichende Entscheidungen zu fällen, etwa zu Sanktionen, Energiepolitik, Handelspolitik, Weltraumprogrammen und dem Euro als gemeinsame Währung.
Mit der engeren Anbindung an den europäischen Binnenmarkt und an europäische Programme hat die EU zudem ein Angebot der Annäherung für Staaten, die noch kein EU-Mitglied sind. Das betrifft die Ukraine, die Republik Moldau, Georgien und einige Länder des Westbalkans. Will die EU mit dem Anspruch eines global souveränen Akteurs auftreten, muss sie gleichwohl in all diesen Bereichen überprüfen, wie die verschiedenen Stränge strategischer Souveränität zusammengeführt und die Entscheidungsprozesse gestärkt werden können.
In absehbarer Zeit jedoch werden die EU und ihre Mitgliedstaaten weder einen nuklearen Schirm wie den der USA noch eine glaubwürdige konventionelle Beistandsverpflichtung nach Artikel 42 (7) des EU-Vertrags bieten können. Wichtiger noch: Die Debatten über strategische Autonomie und Souveränität haben gezeigt, dass es verhängnisvoll ist, wenn die Mitgliedstaaten die EU gegen die Nato ausspielen und umgekehrt. Das blockiert jeglichen Fortschritt und reißt tiefe Gräben zwischen den EU-Staaten auf. Stattdessen sollte noch stärker auf die Komplementarität und Kooperation der beiden Organisationen hingewirkt werden.
Mittelfristig sollte daher klar sein, dass die Nato der Rahmen für kollektive Verteidigung ihrer Mitglieder bleibt. Jede militärische Integration in der EU sollte daher so eng wie möglich mit der Allianz koordiniert und auch für den Nato-Einsatz ausgerichtet werden. Denn die EU kann einen Beitrag zur Verteidigungsfähigkeit leisten, indem sie auf ihre Stärken setzt: Koordinierung beim Aufwuchs von Verteidigungsausgaben der EU- bzw. Nato-Staaten, Stärkung der europäischen Rüstungsindustrie und der Aufbau eigener integrierter Fähigkeiten, die dann auch der Bündnisverteidigung zur Verfügung stehen.
Europäische Verteidigungsfähigkeit in der Nato bedeutet, dass das Bündnis in fünf oder zehn Jahren auch dann noch glaubhaft seine Mitglieder schützen können muss, falls die USA ihr politisches Engagement und ihre militärischen Beiträge in Europa wieder reduzieren.
Neubewertung der Beziehungen zu Partnern und Drittländern
Strategische Souveränität setzt die Zusammenarbeit sowohl mit engen Partnern voraus, welche die Werte und Ziele der EU weitgehend teilen, als auch mit Drittstaaten, bei denen das nicht der Fall ist. Der Umgang mit Russland sowie den wirtschaftlichen und politischen Folgen des Ukraine-Krieges wird auf absehbare Zeit ein Schwerpunkt, vielleicht sogar der Gravitationspunkt für die europäische Außen- und Sicherheitspolitik sein. Deshalb werden sich auch deren Interaktionsmuster und Abhängigkeiten verändern.
Die Europäer in EU und Nato werden daher neu bewerten müssen, wofür sie Partner brauchen werden, welchen Stellenwert Wertepartnerschaften nach der »Zeitenwende« haben und in welchem Maße ein »neuer Realismus« gefordert sein wird.
Partner für die euroatlantische Sicherheit
Eine zentrale Herausforderung für die strategische Souveränität wird sein, das Vereinigte Königreich einzubinden. Diese Herausforderung wird größer, je mehr sich die EU als Handlungsrahmen für strategische Souveränität profiliert. Denn das Vereinigte Königreich ist nicht einfach aus der EU ausgetreten, sondern die Regierung Johnson hat einen harten Brexit mit größtmöglicher Abgrenzung zur EU ausgehandelt. Hierzu gehörte auch, eine strukturierte Zusammenarbeit mit der EU in der Außen- und Sicherheitspolitik bewusst auszuklammern.
Auf der anderen Seite hat der Krieg in der Ukraine erwiesen, dass das Vereinigte Königreich essentiell für die europäische Sicherheit bleibt. Nach Russland hat es den größten Verteidigungshaushalt in Europa und ist neben Frankreich der europäische Staat mit den größten einsatzfähigen Streitkräften sowie mit einer eigenständigen atomaren Abschreckungsfähigkeit.
Noch vor Kriegsbeginn hat das Vereinigte Königreich die Ukraine mit Waffenlieferungen und Ausbildung unterstützt. Zudem spielt es, besonders wegen London als Finanzzentrum, eine wichtige Rolle bei der Durchsetzung westlicher Sanktionen. Für viele mittel- und osteuropäische Partner ist das Vereinigte Königreich zudem ein vertrauenswürdigerer Sicherheitspartner als Frankreich oder Deutschland (siehe SWP-Aktuell 16/2022).
Die Einbindung Londons wäre ein weiterer wichtiger Grund dafür, die EU-Nato-Partnerschaft zu intensivieren. Darüber hinaus sollten London und Brüssel die Entstehung einer konfrontativen europäischen Sicherheitsordnung zum Anlass nehmen, das Brexit-Zerwürfnis hinter sich zu lassen und eine neue Sicherheitspartnerschaft zu gründen. Hierfür könnte sich das Vereinigte Königreich an EU-Programmen wie der militärischen Mobilität beteiligen. Aber auch die EU sollte London als bevorzugtem Partner mehr Flexibilität in der Mitwirkung einräumen.
Die USA waren für die EU selbst während der Präsidentschaft Trumps stets der wichtigste außereuropäische Partner. Wegen der sicherheits- und verteidigungspolitischen Folgen des Krieges sowie der absehbaren Versicherheitlichung zahlreicher nichtmilitärischer Themenfelder dürfte Europas Abhängigkeit von den USA eher wachsen. Das gilt beispielsweise auch für den Energiebereich.
Die unmittelbaren Reaktionen der USA auf den Ukraine-Krieg erscheinen aus europäischer Sicht ermutigend: Die Biden-Administration untermauerte ihr Bekenntnis zur Sicherheit der Nato, indem sie von Anfang Februar bis Ende März 2022 mehr als 11.000 zusätzliche Soldaten des Heeres und der Luftwaffe nach Europa entsandte. Überparteiliche Mehrheiten in beiden Häusern des US-Kongresses unterstützten zudem die humanitäre und militärische Hilfe (letztere in Form von Waffenlieferungen) für die Ukraine.
Dennoch sollte nicht aus dem Blick geraten, dass die langfristigen innenpolitischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme, die 2016 maßgeblich zum Wahlsieg Trumps beitrugen, keineswegs verschwunden sind. Dazu zählen besonders die parteipolitische Polarisierung, die wachsende soziale Ungleichheit und die strukturellen Umbrüche in der Wirtschaft zulasten des Industriesektors (siehe SWP-Studie 6/ 2021). Ein Leitmotiv in US-Präsident Bidens »State of the Union«-Rede Anfang März 2022 lautete »Buy American«: So sollten sich die USA von internationalen Lieferketten unabhängig machen und möglichst viele Produktkomponenten in den USA herstellen.
Anders als in Europa wird zudem die Herausforderung durch China und das Engagement in Asien Hauptschwerpunkt der US-amerikanischen Außen- und Sicherheitspolitik bleiben. Daher sind auch die USA stark daran interessiert, dass die Europäer langfristig ihre Sicherheit so weit wie möglich selbst garantieren können.
Europa kann sich nicht darauf verlassen, dass 2024 nicht erneut Trump selbst oder ein »Trumpist« zum US-Präsidenten gewählt wird. Zudem könnten die USA gezwungen sein, sich im Falle einer offenen Konfrontation mit China auch kurzfristig stärker auf Asien zu konzentrieren.
Drittstaaten: Realpolitische Kompromisse nötig
Der Ukraine-Krieg wird sich auch auf die Beziehungen der EU zu China auswirken. Früher hatte sich die Union gegen das amerikanische Anliegen gestemmt, China in erster Linie als Systemrivalen zu betrachten und sich in der sino-amerikanischen Rivalität klar an die Seite der USA zu stellen. Stattdessen pflegte die EU eine differenzierte Sichtweise und wertete China je nach konkretem Thema als Kooperationspartner, Konkurrenten oder Gegenspieler.
Nach Beginn des Ukraine-Krieges stellt sich für Europa die Frage, ob es sich wirtschaftlich nicht nur von Russland, sondern auch von China wird unabhängiger machen müssen und können. Dies trifft vor allem dann zu, wenn die Partnerschaft zwischen Russland und China wie erwartet enger wird.
Zugleich steigt die Bedeutung Chinas auch für Europa, weil die Sanktionen des Westens dauerhaft wohl nicht wirksam sein werden, wenn China sich dazu entschließt, sie systematisch zu umgehen. China könnte sowohl als Nachfrager von russischem Gas, Öl und anderen Rohstoffen einspringen als auch als Lieferant von Ausrüstungs- und Konsumgütern.
Als wichtiger Exporteur von Öl, Gas, Weizen und Waffen übt Russland weiterhin politischen und wirtschaftlichen Einfluss in vielen Ländern aus. Zwar zeichnet sich nicht ab, dass der russische Angriffskrieg die internationale Staatenwelt polarisieren oder gar spalten könnte. Eine große Mehrheit der VN-Mitgliedstaaten (141 an der Zahl) verurteilte in der Vollversammlung Anfang März 2022 denn auch den russischen Angriff auf die Ukraine.
Aber das Bild einer geeinten internationalen Gemeinschaft bekam Risse. Immerhin 35 Staaten enthielten sich bei der Abstimmung, darunter Indien und Südafrika als internationale Schwergewichte und Wertepartner der EU.
Schließlich muss sich Europa in seinem Streben nach weniger Abhängigkeit von russischer Energie zumindest kurz- und mittelfristig in größere Abhängigkeiten von anderen Akteuren begeben, die nur bedingt europäische Werte teilen. So gelten neben den USA und Norwegen auch Algerien, Aserbaidschan, Katar und Ägypten als potentielle Lieferanten, die russisches Gas ersetzen könnten. Angesichts steigender Ölpreise hofiert der Westen auch wieder verstärkt Länder wie Venezuela und Saudi-Arabien. Die Diversifizierung beim Zugang zu strategischen Rohstoffen erfordert von Europa somit zunächst realpolitische Kompromisse, bei denen mitunter die Bedeutung von Menschenrechten und Demokratie hintangestellt wird.
Schlussfolgerungen
Das Streben nach europäischer strategischer Souveränität ist durch den neuen großen militärischen Konflikt in Europa dringlicher geworden. Die Transformation hin zu einer konfrontativen europäischen Sicherheitsordnung erfordert jedoch ein Umdenken, mit welchen Zielen, Rahmen, Prioritäten und Partnern strategische Souveränität umgesetzt werden kann und soll. Daraus sollte die deutsche und europäische Politik vier Schlussfolgerungen ziehen:
Erstens sollte die EU ihren Kurs ändern. Nicht mehr autonome Handlungsfähigkeit, sondern strategische Souveränität sollte an erster Stelle stehen. Dabei sollte die EU den Schwerpunkt auf die Sicherheit ihrer Mitglieder legen, mit allen Konsequenzen. Die EU ist der politische Handlungsrahmen, in dem strategische Souveränität in ihrer gesamten Breite wirken könnte, etwa in Bereichen wie Handelspolitik und Sanktionen, Energiesicherheit und Minderung der Abhängigkeit von strategischen Ressourcen, Digitales und Technologie sowie Wirtschaft und Finanzpolitik. Hier kann und sollte die EU ihre Stärken ausspielen.
Zweitens offenbart der russische Krieg gegen die Ukraine einmal mehr die Achillesferse der EU als Handlungsrahmen für strategische Souveränität, nämlich die weiterhin schwache gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik.
Es ist absehbar, dass die EU- und Nato-Staaten ihre individuellen und kollektiven Verteidigungsanstrengungen deutlich vergrößern werden. Dennoch dürften Jahre vergehen, bis diese Mittel – darunter das im Februar 2022 von Bundeskanzler Olaf Scholz angekündigte Sondervermögen Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro – in spürbar gesteigerte militärische Fähigkeiten übersetzt werden.
Zudem bleibt abzuwarten, inwiefern die neue sicherheitspolitische Lage den politischen Willen und die Kohärenz in der EU erhöht, um gemeinsam Fähigkeiten aufzubauen und im Krisen- oder Kriegsfall auch einzusetzen. So bleiben auf mittlere Sicht die USA und mit ihr die Nato unverzichtbare verteidigungspolitische Akteure für die Verteidigung der territorialen Integrität auch der EU.
Strategische Souveränität in ihrer Gesamtheit kann also nur euro-atlantisch gedacht werden – mit dem Ziel, europäische Handlungs- und Verteidigungsfähigkeit im Bündnisrahmen sukzessive zu stärken. Angesichts der Unsicherheit über die langfristige Ausrichtung US-amerikanischer Sicherheitspolitik müssen die EU und ihre Mitgliedstaaten dieses Ziel noch konsequenter verfolgen. Der im März 2022 verabschiedete Strategische Kompass der EU hat dafür leider nicht das erforderliche Ambitionsniveau. Ein wesentliches Defizit des Kompasses liegt darin, dass die EU-Mitgliedstaaten im sicherheits- und verteidigungspolitischen Bereich dort weiterhin stark auf das zivile und militärische Krisenmanagement abheben.
Drittens ist zu betonen, dass strategische Souveränität nicht über kleinere Reformen auf europäischer Ebene erlangt werden kann. Es reicht nicht, nur auf den – nach wie vor blockierten – Wechsel hin zu Mehrheitsentscheidungen in der Außen- und Sicherheitspolitik zu drängen oder an den Stellschrauben der PESCO-Projekte zu drehen. Vielmehr braucht die europäische Politik ihre eigene Zeitenwende, in der sämtliche Anstrengungen unternommen werden, um EU-Politiken auf gemeinsame strategische Souveränität auszurichten. Dies kann zu einem einenden Narrativ für die europäische Integration werden, mit dem sich auch die Interessen der EU-Mitgliedstaaten zusammenbringen lassen.
Die Bürgerempfehlungen bei der Konferenz zur Zukunft Europas deuten zudem darauf hin, dass auch viele Bürgerinnen und Bürger der EU Sicherheit und Selbstbehauptung als tragende Säule für die Union im 21. Jahrhundert sehen. Hierfür müsste die strategische Souveränität aber gemeinsam mit der wirtschaftlichen Transformation im Sinne eines Green Deal und der Digitalisierung als drittes Leitmotiv der europäischen Politik gedacht und umgesetzt werden.
Viertens schließlich erfordert das Streben nach strategischer Souveränität auch mehr Führungsverantwortung von Deutschland. Die Initiativen für strategische Souveränität gingen bis dato vor allem von Paris aus, während Berlin eher eine abwartende Rolle gespielt hat.
Als größte europäische Wirtschaftsmacht kommt Deutschland eine besondere Führungsverantwortung zu – sowohl mit Blick auf die nichtmilitärischen Komponenten strategischer Souveränität innerhalb der EU als auch auf die Koordinierung und Integration bei der Stärkung militärischer Handlungsfähigkeit in EU und Nato. Strategische Souveränität, etwa durch Reduzierung von Abhängigkeiten bei Energieimporten und strategischen Rohstoffen, wird sich nur durch interne Lastenteilung und mehr Haushaltsflexibilität herstellen lassen.
Aus Sicht vieler mittel- und osteuropäischer Partner markiert der russische Angriffskrieg aber auch das Scheitern der deutschen Außenpolitik eines »Wandels durch Handel«, und die Glaubwürdigkeit Deutschlands hat im Vorfeld des Krieges stark gelitten. Soll strategische Souveränität erfolgreich vorangetrieben werden, müssen Berlin und Paris die Interessen aller Mitgliedstaaten im Blick haben und diese Interessen europäisch gemeinsam schützen.
Dr. Nicolai von Ondarza ist Leiter der Forschungsgruppe EU / Europa. Dr. Marco Overhaus ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Amerika.
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doi: 10.18449/2022A29