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Regionale Personenfreizügigkeit als Chance im Umgang mit Klimamobilität

Großes Potential, schwierige Umsetzung

SWP-Aktuell 2024/A 64, 05.12.2024, 8 Seiten

doi:10.18449/2024A64

Forschungsgebiete

Die Zahl der Menschen, die infolge von Umweltveränderungen ihre Heimat über Grenzen hinweg verlassen müssen, nimmt mit dem fortschreitenden Klimawandel zu. Gleichzeitig mangelt es ihnen an sicheren, geordneten und regulären Migrations­wegen. Regionale Personenfreizügigkeit kann die Handlungsspielräume der vom Klimawandel besonders Betroffenen erweitern. Die afrikanischen Regionalorganisa­tionen ECOWAS und IGAD haben jeweils Abkommen geschlossen, die eine solche Freizügigkeit gewährleisten könnten. An ihrem Beispiel zeigen sich die Potentiale, aber auch die Hürden in der Umsetzung entsprechender Regelungen. Um die Vorteile dieser Abkommen im Sinne der Klimamobilität zu nutzen, sollte sich die deutsche und europäische Entwicklungs- und Migrationspolitik stärker für die Implementierung regionaler Personenfreizügigkeit engagieren. Ebenso gilt es, die Verankerung von Klimaaspekten in den Abkommen zu unterstützen. Kooperationen der EU mit einzelnen afrikanischen Staaten sind zu hinterfragen, sofern sie die Personenfrei­zügigkeit in Afrika durch Migrationsmanagement und Grenzsicherung zu behindern drohen.

Der Klimawandel hat schon jetzt massive Auswirkungen auf menschliche Mobilität. Laut Internal Displacement Monitoring Centre (IDMC) wurden 2023 weltweit 26,4 Millionen Menschen aufgrund von Umweltkatastrophen innerhalb ihres Lan­des vertrieben. Dabei ist der Zusammenhang zwischen Klimawandel und Migration komplexer als oft dargestellt. Umweltverän­derungen sind selten alleinige Migrations­ursache, sondern wirken sich in vielfältiger Art und Weise auf bereits bestehende poli­tische, soziale und ökonomische Treiber der Migration aus. Klar ist aber, dass der Klima­wandel existierende Mobilitätsmuster ver­ändert. Oft wird in der Fachdebatte unter­schieden zwischen Extremwetterereig­nissen (fast-onset events) wie etwa Überschwemmungen, die eher zu kurzfristiger Vertreibung führen, und langsamen Umweltveränderungen (slow-onset events) wie beispielsweise Desertifikation, die in der Regel eine dauer­hafte und stärker geplante Abwanderung zur Folge haben. In manchen Fällen ent­scheiden sich Menschen aber auch trotz erschwerter Lebensbedingungen freiwillig dafür, am Herkunftsort zu bleiben. Gleich­zeitig können besonders vulnerablen Perso­nen die Ressourcen fehlen, um angesichts von Umweltveränderungen zu migrieren – mit der Folge, dass sie unfreiwillig vor Ort »gefangen« sind.

Klimawandelbedingte Mobilität: Suche nach politischen Lösungen

Angesichts stockender Fortschritte im Kli­ma­­schutz wird in den Foren internationaler Politik verstärkt über eine Anpassung an Klimawandelfolgen debattiert, etwa auf der jährlich stattfindenden COP, der Konferenz der Klimarahmenkonvention der Vereinten Nationen (UNFCCC). Auch Migration wird zunehmend als ein Aspekt dieser Anpassung diskutiert. Zwar kann Mobilität im Kontext des Klimawandels auch mit (im)ma­teriellen Verlusten für die Menschen ein­hergehen, weshalb sie in den Klimaverhandlungen oft unter dem Stichwort klima­wandelbedingter Verluste und Schäden thematisiert wird. Wenn Migration jedoch sicher, geordnet und regulär erfolgt, kann sie als Anpassungs- und Risikominderungsstrategie zumindest die Handlungsspielräume von Menschen erweitern, die durch Klimawandelfolgen besonders gefährdet sind. Durch Migration können diese Perso­nen ihre Haushaltseinkommen langfristig diversifizieren und mittels finanzieller Rücküberweisungen auch zurückgebliebenen Angehörigen die Anpassung an den Klimawandel erleichtern. Doch obwohl in internationalen Rahmenwerken wie dem Globalen Pakt für Migration (2018) oder der Schutzagenda der Nansen-Initiative (2015) Migration als mögliche Anpassungsstrategie herausgestellt wird, gibt es dafür bislang keine internationale Rechtsbasis oder ver­bindliche politische Regelung.

Schutz- und Regelungslücke

So besteht für Menschen, die im Kontext von Klimawandelfolgen gezwungen sind, ihre Heimat über Grenzen hinweg zu ver­lassen, eine rechtliche Schutzlücke. Sie haben – anders als Menschen auf der Flucht vor Gewalt und Verfolgung – kei­nen völkerrechtlichen Anspruch auf Schutz im Erstaufnahmeland. Verbindliche inter­nationale Schutzinstrumente wie die eng gefasste Genfer Flüchtlingskonvention um Klimamobilität zu erweitern wäre jedoch rechtlich schwer umsetzbar und politisch unrealistisch, da aktuell eher die Einschrän­kung des Flüchtlingsschutzes debattiert wird als dessen Erweiterung. Klimawandelbetroffenheit ist als alleinige Fluchtursache außerdem in der Regel kaum zu bestimmen. Auch deshalb ist eine trennscharfe Abgrenzung von Kategorien wie Flucht ver­sus freiwillige Migration gerade im Kontext des Klimawandels oft nicht möglich.

Neben den fehlenden Schutzinstrumenten bleiben den Menschen, die infolge von Klimaveränderungen ihr Heimatland ver­lassen, jedoch auch andere Migrationswege verschlossen. Nur in wenigen Fällen berück­sichtigen migrationspolitische Regelwerke Klimawandelbetroffenheit; zu diesen Aus­nahmen zählt etwa, dass Australien eine spezielle Visakategorie eingeführt hat, um gefährdeten Bürger:innen des Pazifikstaates Tuvalu die Einreise zwecks Arbeit und Stu­dium zu ermöglichen. Doch oft bleibt Men­schen, die im Kontext des Klimawandels migrieren, nur die Möglichkeit irregulärer Einwanderung ohne sicheren Aufenthaltsstatus und staatliche Unterstützung im Auf­nahmeland. Wenn die politischen Rahmen­bedingungen für sichere und reguläre Mig­rationswege nicht gegeben sind, kann Migration Vulnerabilitäten im Kontext des Klimawandels so noch verstärken, etwa wenn die Betroffenen aufgrund fehlenden Rechtsschutzes ausbeuterischen Arbeits­verhältnissen ausgeliefert sind. Um diesen Schutz zu gewähren und zudem das posi­tive Entwicklungspotential von Migration zu fördern, braucht es politische Regel­werke. Ein möglicher Ansatzpunkt sind dabei regionale Instrumente und Akteure.

Regionale Dimension

Klimamobilität ist ein regionales Phänomen. Wenn Menschen nicht innerhalb ihres eigenen Landes vor Umweltveränderungen fliehen, dann wandern sie in erster Linie in Nachbarstaaten ab. Dennoch stehen die Bemühungen regionaler Migrations­governance, Klimamobilität über Grenzen hinweg zu regeln, noch am Anfang. Eine Ausnahme bildet etwa die sogenannte Kam­pala-Erklärung, die 2022 von elf ostafrikanischen Staaten in Uganda unterschrieben wurde. Es handelt sich dabei um das erste regionale Rahmenwerk zur Mobilität im Kontext des Klimawandels. In der Erklärung bekunden die Staaten ihre Absicht, im Be­reich grenzüberschreitender Klimamobilität enger zusammenzuarbeiten. Dies hängt auch damit zusammen, dass der afrikanische Kontinent zu den Gebieten der Welt gehört, die am stärksten von Klimawandel und Klimamigration betroffen sind. Bis 2050 könnten je nach Szenario bis zu 5 Pro­zent der Bevölkerung Afrikas aufgrund der globalen Erderwärmung ihren Heimatort verlassen haben, in der am stärksten von Klimawandelfolgen betroffenen Region am Horn von Afrika sogar bis zu 10 Prozent.

Zugleich ist Migration als Anpassungsstrategie in West- und Ostafrika kein aus­schließlich neues Phänomen. In der Ver­gangenheit nutzten beispielsweise Vieh­züchter:innen zirkuläre Migration inner­halb dieser Regionen, um im Fall von Dürre geeignete Weideflächen zu finden. Insge­samt ist intraregionale Migration sowohl in Westafrika als auch in Nordostafrika bereits heute stark ausgeprägt. So stammten 2021 etwa 90 Prozent der 7,4 Millionen Migrant:innen in Westafrika aus den Ländern der Region. Dies hängt auch mit der weit­gehenden Personenfreizügigkeit innerhalb der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) zusammen.

Freizügigkeit und Klimamobilität zusammendenken

Regionalorganisationen können durch Ab­kommen zur Personenfreizügigkeit dazu beitragen, Migrationshindernisse zu besei­tigen und somit auch für besonders gefähr­dete Menschen im Kontext des Klimawandels sichere Migrationswege zu schaffen. Wie weitreichend die regionale Freizügigkeit gilt und inwiefern sie im Zusammenhang mit Umweltveränderungen genutzt werden kann, hängt dabei maßgeblich von der Ausgestaltung des jeweiligen Abkommens sowie vom Stand der nationalen Um­setzung ab.

Erste Erfahrungen

Personenfreizügigkeitsabkommen beziehen sich in der Regel nicht explizit auf Umwelt- oder Klimaereignisse. Stattdessen dienen sie in erster Linie dazu, die wirtschaftliche Integration einer Region voranzutreiben; zu diesem Zweck erleichtern sie die grenz­überschreitende Mobilität von Personen im Rahmen von Arbeit, Bildung und Handel. Dennoch gibt es bereits Fälle, in denen sie auch bei Naturkatastrophen genutzt wur­den. So haben die Abkommen der Karibischen Gemeinschaft (CARICOM) und der Organisation Ostkaribischer Staaten (OECS) wichtige Mobilitätsoptionen für Menschen eröffnet, die vor den Folgen von Wirbelstürmen geflohen sind. In der besonders schweren Hurrikan-Saison 2017 konnten Vertriebene die mit den Abkommen ge­währten Rechte nutzen, um in andere Insel­staaten einzureisen, sich dort niederzulassen und Arbeit aufzunehmen. Außerdem wurden in einigen Fällen Ausnahmen ge­währt, so dass Menschen auch Zugang erhielten, wenn sie ihre Reisedokumente verloren hatten. Dieses Beispiel zeigt, wie sich Freizügigkeitsabkommen im Kontext des Klimawandels nutzen lassen, sofern in den Aufnahmeländern der politische Wille dazu vorhanden ist.

Potentiale und Grenzen am Beispiel von ECOWAS und IGAD

Dass Personenfreizügigkeitsabkommen im Kontext des Klimawandels großes Potential bieten, aber auch an Grenzen stoßen, lässt sich anhand der beiden Regionalorganisa­tionen ECOWAS und IGAD (Intergovernmental Authority on Development) aufzei­gen. Sie vertreten Staaten – im ersten Fall in Westafrika, im zweiten am Horn von Afrika gelegene –, die besonders vom Kli­mawandel betroffen sind. Um das Potential von Freizügigkeit für grenzüberschreitende Klimamobilität zu bewerten, lassen sich drei zentrale Kriterien heranziehen, die auf der Schutzagenda der Nansen-Initiative basieren: erstens regulärer Zugang zu siche­rem Territorium, zweitens Aufenthalts­status und Rechte im Aufnahmeland und drit­tens Wege zu dauerhaftem Aufenthalt dort.

Die Mitgliedstaaten von ECOWAS und IGAD haben jeweils Abkommen zur Perso­nenfreizügigkeit geschlossen, die auf dem Papier ähnlich umfassend sind – mit Rege­lungen in den drei Bereichen Einreise, Arbeitsaufnahme und dauerhafter Aufent­halt. Bereits 1979 etabliert, sollte das Ab­kommen der ECOWAS in drei Phasen (visumfreie Einreise, Aufenthalt und Be­schäftigung, geschäftliche Niederlassung) bis 1995 mithilfe von vier Zusatzprotokollen umgesetzt werden. Eine visumfreie Ein­reise für bis zu 90 Tage ist innerhalb der ECOWAS-Staaten weitestgehend möglich und grenzüberschreitende Mobilität in der Region üblich. Aspekte der Arbeitsaufnahme und des langfristigen Aufenthalts sind jedoch bis heute nicht vollständig implementiert. Die IGAD steht mit ihrem 2020 geschlossenen Freizügigkeitsabkommen, das bisher nicht von allen Mit­gliedstaaten ratifiziert wurde, noch am Anfang. Nach Vorbild der ECOWAS soll das Abkommen in vier Phasen – visumfreie Einreise, Frei­zügigkeit für Arbeitnehmer:in­nen, Aufent­haltsrecht und geschäftliche Nie­derlassung – bis 2037 umgesetzt wer­den.

In beiden Regionen ist also eine visumfreie Einreise für alle Bürger:innen von Mit­gliedstaaten der jeweiligen Organisation vorgesehen. Die Einreise bedarf keiner Be­gründung. Anders als beim Flüchtlingsschutz muss dabei nicht die individuelle Situation der einzelnen Person geprüft wer­den – dies erspart Menschen, die aufgrund von Klimaveränderungen ihr Land verlas­sen, Unsicherheit und bürokratische Proze­duren. Allerdings können potentielle Kos­ten beim Grenzübertritt sowie das Erforder­nis von Ausweispapieren ein Hindernis für besonders vulnerable Personen darstellen, vor allem wenn im Zuge von Extremwetterereignissen Dokumente verloren gingen oder zerstört wurden.

Auch eine Arbeitsaufnahme im Zielland wird durch die Abkommen der beiden Organisationen prinzipiell ermöglicht. Der Arbeitsmarktzugang kann jedoch etwa da­durch eingeschränkt sein, dass Aufenthalts- oder Niederlassungspapiere nicht ausgestellt werden. Das IGAD-Abkommen sieht auch den Zugang zu sozialen Sicherungs­systemen im Aufnahmeland vor, etwa in Bezug auf Gesundheitsversorgung. Ein dauerhafter Aufenthalt bis hin zur Einbür­gerung ist im Rahmen beider Abkommen prinzipiell möglich, liegt aber im Ermessen des jeweiligen Aufnahmelandes in den Regionen. Gerade eine solche langfristige Perspektive ist jedoch wichtig für Menschen, die aufgrund irreversibler Umweltfolgen nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren können.

Beide Abkommen sehen also umfang­reiche Regelungen für Einreise, Aufenthalt und Niederlassung vor. Sie bieten den Mit­gliedstaaten jedoch auch die Option, die Freizügigkeit unter bestimmten Bedingungen auszusetzen und manchen Personengruppen die Einreise zu verwehren – etwa im Falle schwerwiegender Bedrohungen der inneren Sicherheit oder wenn Migrant:in­nen finanziell nicht eigenständig sind. Von diesen Ausnahmeregelungen könnten Staa­ten gerade dann Gebrauch machen, wenn aufgrund von Klimawandelfolgen große Flucht- und Migrationsbewegungen ent­ste­hen. Dass Einreisemöglichkeiten in be­stimmten Situationen beschränkt werden, ist nicht ungewöhnlich; so hat etwa Kenia im Kontext der Dürre und Hungersnot am Horn von Afrika 2011 die Grenze zu Soma­lia geschlossen und dies mit nationalen Sicherheitsbedenken begründet. Somit hängt es vom politischen Willen der Auf­nahmeländer ab, ob Freizügigkeitsnormen auch im Krisenfall gelten. Um dieses Risiko einzuhegen, wäre es nützlich, Klimakatastrophen in den Abkommen als Einreisegrund zu verankern.

Im Unterschied zum Abkommen der ECOWAS berücksichtigt jenes von IGAD – als bislang einziges weltweit – explizit Klimawandelbetroffenheit. Laut Artikel 16 sollen Mitgliedstaaten Menschen, die in »Erwartung, während oder nach einer Kata­strophe« Schutz in einem anderen Mitglied­staat suchen, die Einreise gewähren. Da der Begriff der Katastrophe sehr breit gefasst ist, schließt dies auch schleichende Umweltveränderungen ein. Im Rahmen des Ab­kommens haben Bürger:innen der Region somit die Möglichkeit, auch vorausschau­end zu migrieren, also schon vor akuten Wetterereignissen. Am dürregeplagten Horn von Afrika ist dies ein wichtiges Sig­nal. Der Katastrophenbegriff im IGAD-Abkommen schafft politische Sichtbarkeit für die Herausforderungen, die mit grenz­überschreitender Klimamobilität einher­gehen, und erhöht potentiell die Verbindlichkeit für Mitgliedstaaten, Freizügigkeits­normen im Kontext von Klimawandelfolgen einzuhalten. Allerdings befindet sich das IGAD-Abkommen noch in der Ratifizierungsphase, und zur Anwendung von Arti­kel 16 gibt es bisher nur erste Erfahrungswerte. Generell lässt sich sagen: Je weitgehender die Freizügigkeit in einem Abkom­men definiert ist, je besser dieses umgesetzt wird und je bindender es für die Mitgliedstaaten ist, desto mehr Möglichkeiten bietet es auch im Kontext des Klimawandels. Bei sehr weitgehender Freizügigkeit wäre nicht unbedingt ein spezifischer Bezug auf Klima­katastrophen notwendig. Da ein solches Maß an Freizügigkeit aber nur selten gege­ben ist, bleibt es sinnvoll, das Kriterium der Klimakatastrophen in den Abkommen fest­zuschreiben.

Aber auch die Integration von Klima­wan­delbetroffenheit bietet keinen umfassenden Schutz durch Freizügigkeit im Kontext des Klimawandels. Denn weder das IGAD-Abkommen noch die Freizügigkeitsprotokolle der ECOWAS sind völkerrechtlich bin­dend für Mitgliedstaaten. Dies bedeutet, dass Menschen, die im Rahmen von Freizü­gigkeit fliehen, keinen Rechtsanspruch auf die damit verbundenen Vorzüge haben. Ob­wohl beide Abkommen Massenausweisungen verbieten, sind Personen, die sich ge­mäß der Personenfreizügigkeit innerhalb von ECOWAS und IGAD über Grenzen hinwegbewegen, nicht grundsätzlich vor Zurückweisungen in Gebiete geschützt, die wegen Klimawandelfolgen zunehmend unbewohnbar werden. Außerdem unterscheiden die Abkommen nicht grundsätzlich zwischen Arbeitsmigration und unfrei­williger Vertreibung, weshalb Schutzbedarfe vulnerabler Gruppen wie unbegleiteter Minderjähriger nicht systematisch erfasst werden. Dies kann dazu führen, dass sich not­wendige Maßnahmen wie humanitäre oder psychosoziale Unterstützung etwa durch das VN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) oder die Internationale Organisation für Migration (IOM) nicht gewährleis­ten lassen.

In der Konsequenz können Freizügigkeitsabkommen einigen Personen(‑gruppen) die Mobilität im Kontext des Klimawandels erleichtern, damit aber keineswegs flücht­lingspolitische Instrumente wie Resettlement-Programme oder humanitäre Visa ersetzen. Wenn durch Freizügigkeit jedoch eine weitere Option der Mobilität für die­jenigen offensteht, die in der Lage sind und die Ressourcen haben, um sich selbständig zu bewegen und Arbeit aufzunehmen, kann dies flüchtlingspolitische Schutz­instrumente entlasten. Personenfreizügigkeit sollte deshalb als ein Baustein in einem Set verschiedener Lösungen unterstützt werden.

Umsetzungshürden

Auf dem Papier sehen die Abkommen von ECOWAS und IGAD weitgehende Freizügigkeit vor. Die Umsetzung ist für die Mitglied­staaten aber mit hohen technischen, finan­ziellen und personellen Anforderungen ver­bunden und in den beiden Regionen sehr unterschiedlich weit fortgeschritten. Wäh­rend ECOWAS für eine his­to­risch gewachsene und gelungene Reise­frei­heit, aber auch für die mangelnde Um­set­zung dauer­hafter Aufenthaltsmöglichkeiten steht, ist im Falle von IGAD noch offen, wie erfolg­reich das Abkommen implementiert wird.

Eine zentrale Herausforderung für die Mitgliedstaaten von ECOWAS und IGAD besteht darin, die Vorgaben der Abkommen in nationale Regelwerke zu überführen. Vor­aussetzung für funktionierende Perso­nen­freizügigkeit sind etwa die Bereitstellung von Reisedokumenten für alle Bürger:innen oder die technische und personelle Ausstat­tung der Grenzposten, derer es bedarf, um eine sichere und geord­nete Einreise zu er­möglichen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Abkommen keine genauen Anga­ben zu den einzelnen Schrit­ten der Umset­zung machen. Darüber hin­aus fehlt es den Regio­nalorganisationen an Kapazitäten und Be­fugnissen, um Mitgliedstaaten bei der Im­plementierung zu unter­stützen, Fort­schritte zu überprüfen und etwaige Ver­säumnisse zu sanktionieren. Die IGAD wird etwa nur zu einem geringen Teil durch Beiträge der Mitgliedstaaten finanziert und ist darüber hinaus auf exter­ne Mittel an­gewiesen.

Auf subregionaler Ebene können außerdem Konflikte sowie Korruption an den Grenzen die Personenfreizügigkeit behin­dern. Erst im Januar 2024 sind Burkina Faso, Mali und Niger nach Militärputschen und wirtschaftlichen Sanktionen der ECOWAS aus der Regionalorganisation ausgetreten. Zugleich lässt sich auch in afrikani­schen Staaten – ähnlich wie in anderen Weltregionen – eine zunehmende Skepsis gegenüber Grenzöffnungen und Einwanderung beobachten. Obwohl die Freizügigkeitsprotokolle ratifiziert wurden, kommt es etwa innerhalb der ECOWAS immer wie­der zu Ausweisungen von Migrant:innen, die aus der Region stammen, zu Zurück­weisungen an Binnengrenzen oder willkür­lichen Grenzschließungen.

Auch die auswärtige EU-Migrationspoli­tik kann ein Hindernis für die vollständige Umsetzung regionaler Personenfreizügigkeit in Afrika darstellen. 2015 hat die EU begonnen, Partnerschaften mit Transit- und Herkunftsstaaten in West- und Ostafrika auszubauen, unter anderem um die Migra­tion nach Europa zu kontrollieren und ein­zudämmen. Im Rahmen ihres Treuhandfonds für Afrika schloss die EU 2016 etwa Migrationspartnerschaften mit Äthiopien und Niger, die in erster Linie auf die Zu­sam­menarbeit im Bereich irregulärer Migra­tion und der Rückübernahme von Staats­ange­hörigen abzielten. Diese Engführung auf restriktive Maßnahmen wie den Ausbau von Grenzanlagen und verstärkte Kontrollen hat die Bewegungsfreiheit innerhalb der ECOWAS behindert, anstatt sie zu fördern, und zur Kriminalisierung grenzüberschreitender Migration beigetragen. So hat die EU mithilfe von Informationskampagnen vor den Gefahren irregulärer Migration inner­halb der Region gewarnt, nicht aber über Rechte und Möglichkeiten aufgeklärt, die mit regulärer Arbeitsmigration im Rahmen der Freizügigkeit einhergehen können. Zu­dem hat die nigrische Regierung 2015 unter Druck der EU den Transport von Migrant:in­nen in Richtung Libyen oder Algerien ver­boten, auch wenn diese sich als ECOWAS-Staatsangehörige regulär im Land aufhielten. Generell haben solche Kooperationen mit einzelnen afrikanischen Staaten das Potential, Misstrauen unter den Mitgliedern der Regionalorganisationen zu sähen. Regierungen können sich vor die Entscheidung gestellt sehen, zwischen externer finanzieller Unterstützung und regionalen Zielen der Personenfreizügigkeit wählen zu müssen.

Empfehlungen

Umweltveränderungen bedrohen die Lebensgrundlage vieler Menschen und stel­len insbesondere Staaten des sogenannten Globalen Südens vor gewaltige Heraus­forde­rungen. Nicht zuletzt mit Blick auf Klima­gerechtigkeit sind die Industrieländer in der Verantwortung, besonders betrof­fene Staa­ten beim Umgang mit Klima­mobilität zu unterstützen. Damit Migration als Strategie zur Anpassung an Umwelt­veränderungen gelingen kann, sollten den Menschen mög­lichst viele Bewegungsoptionen offenstehen. Abkommen zur Personenfreizügigkeit ermöglichen flexible Mobilitätsmuster wie kurzfristige und zirkuläre Migration; sie schaffen potentiell aber auch nachhaltige Bleibeperspektiven in Nachbarländern für jene, die aufgrund irreversibler Klimaschäden nicht in ihren Heimatort zurückkehren können.

So kann Freizügigkeit dazu beitragen, die bestehende migrationspolitische Regelungslücke im Kontext des Klimawandels ein Stück weit zu schließen. Gerade auf dem afrikanischen Kontinent, wo es bereits meh­rere entsprechende Abkommen gibt und gleichzeitig der Bedarf an politischen Lösungen im Umgang mit den Klimafolgen besonders groß ist, kann es von großem Nutzen sein, diese Übereinkommen zu för­dern. Insgesamt kommt Personenfreizügigkeit der wirtschaftlichen Entwicklung und der politischen Stabilität einer Region zu­gute und kann sie widerstandsfähiger gegen die Herausforderungen des Klimawandels machen – was auch im Interesse der deut­schen und europäischen Politik liegt. Vor­aussetzung dafür ist jedoch, dass die Umset­zung der Abkommen vorangetrieben wird, Umweltaspekte als Ursache von Mobilität integriert werden und Personenfreizügigkeit in Afrika nicht durch andere Prioritäten in der auswärtigen europäischen Migra­tionspolitik eingeschränkt wird.

Regionale Kapazitäten für die Umsetzung von Freizügigkeit stärken. Im Fall des IGAD-Abkommens sollte der weitere Pro­zess von Ratifizierung und Umsetzung unterstützt werden; bei ECOWAS ließe sich insbesondere die Implementierung jener Komponenten des Abkommens fördern, die Aufenthalt und dauerhaften Status betref­fen. Um in beiden Fällen eine schnelle Um­setzung zu ermöglichen, sollten regionale und nationale Bemühungen dort unterstützt werden, wo die Voraussetzungen für Migration im Rahmen von Personenfreizügigkeit noch fehlen. Eine wichtige Bedingung für die Arbeitsaufnahme und langfris­tige Integration in den Arbeitsmarkt von Nachbarländern ist etwa die Anerkennung ausländischer Berufsqualifikationen. Deut­sche migrationsbezogene Entwicklungs­zusammenarbeit kann hier einen wichtigen Beitrag leisten, etwa durch das Projekt »Ver­besserung von Migrations- und Flüchtlingspolitiken in der IGAD-Region« (SIMPI II), das die Entwicklung des sogenannten IGAD-Qualifikationsrahmens unterstützt hat. Dieser soll die Anerkennung von Qualifikationen regional vereinheitlichen und den Zugang von Geflüchteten zu nationalen Bildungssystemen verbessern.

Die Abordnung von Personal der deutschen Entwicklungszusammenarbeit in die zuständigen Sekretariate von ECOWAS und IGAD kann ebenfalls ein sinnvoller Schritt sein, um die Umsetzung der Abkommen personell und technisch zu unterstützen. Solche passgenauen entwicklungspolitischen Maßnahmen sollten verstärkt finan­ziert werden. Zudem könnte die finanzielle Unterstützung regionaler Dialogformate (RCPs) zu migrationspolitischen Themen – wie des Migrationsdialogs für Westafrika (MIDWA) der ECOWAS mit einer Arbeitsgruppe zur Klimamobilität – dazu beitra­gen, den Austausch über reguläre Migration zu stärken. Gleichzeitig bieten diese Dialog­foren eine Plattform für Staaten, um sich über die Herausforderungen der Klimamobilität zu verständigen; auch helfen sie da­bei, zwischen gegensätzlichen nationalen Interessen zu vermitteln, und unterstützen so eine konsequente Umsetzung von Perso­nenfreizügigkeit.

Kleinteilige Schritte in der Umsetzung fördern. Angesichts der großen Hürden, die einer vollständigen Implementierung der Abkommen entgegenstehen, sollten kleinteilige Schritte personeller und techni­scher Art unterstützt werden, die wie ein Umsetzungskatalysator für die Freizügig­keitsabkommen von ECOWAS und IGAD wirken können. Um die zwischenstaatliche Zusammenarbeit der zuständigen Behörden in den Bereichen Grenzschutz, Verwaltung, Katastrophenschutz oder Unterbringung zu verbessern, wurden 2022 und 2023 etwa in den Regionen Kenias, die an Uganda und Äthiopien grenzen, sogenannte Standard­verfahren entwickelt. Gefördert durch den Multi-Partner Trustfund der Vereinten Nationen, wurden auf Basis von Szenarien grenzüberschreitender Vertreibung nach einer Klimakatastrophe konkrete Leitlinien erarbeitet: für Einreise und Aufnahme, Registrierung und Aufenthalt sowie Unter­stützung bei Rückkehr oder der Verlänge­rung des Aufenthaltstitels. So können per­sonelle und institutionelle Kapazitäten wie das Personal an Grenzposten langfristig in die Lage versetzt werden, im Katastrophen­fall adäquat zu reagieren. Die Entwicklung von Standardverfahren sollte deshalb auf andere Grenzgebiete ausgeweitet werden, vor allem in den Regionen, die besonders anfällig für Klimakatastrophen sind. Aber auch bilaterale Abkommen wie die Visa­vereinbarung zwischen Kenia und Äthio­pien können – ob formalisiert oder nicht – zunächst die Einreise zwischen einzel­nen Ländern einer Region regeln und somit erste Bausteine für eine umfassende regio­nale Freizügigkeit liefern. Ein graduelles Vorgehen ist sinnvoll, da jeder Schritt kon­kret die Mobilitätsoptionen vor Ort erweitert.

Klimakatastrophen in Abkommen be­rücksichtigen. Da Freizügigkeitsabkommen meist Ausnahmeregeln enthalten, mit denen ihre Bestimmungen ausgesetzt wer­den können, sollten Klimakatastrophen als Ursache von Mobilität in den Übereinkommen verankert werden. Artikel 16 des IGAD-Abkommens kann hier als Vorbild dienen, damit die Mitgliedstaaten einen geringeren Spielraum haben, Vereinbarungen unter bestimmten Umständen zu sus­pendieren. Ähnlich wie im Fall von IGAD, deren Abkommen die EU im Rahmen ihres Treuhandfonds mitausgearbeitet und ver­handelt hat, könnte auch die ECOWAS technisch und personell dabei unterstützt werden, Zusatzprotokolle zu entwickeln, die auf Klimakatastrophen verweisen. Da­bei könnte man an die regionale Klimastrategie der ECOWAS von 2022 anknüpfen, die Klimamobilität bereits als einen zentra­len Handlungsbereich anerkennt. Um Frei­zü­gigkeit nachhaltig in den Mitgliedstaaten von ECOWAS und IGAD voranzutreiben, sollten jedoch auch die wirtschaftlichen Vorteile von gelungener Freizügigkeit durch regionale Integration betont werden. Andernfalls könnte die Integration von Klimawandelbetroffenheit möglicherweise auch dazu führen, dass Mitgliedstaaten zurückhaltender sind, die Abkommen zu unterzeichnen und konsequent umzusetzen. Letztere im Sinne von Migration als Anpassung an den Klimawandel zu nutzen, ohne sie jedoch zu überladen und dadurch ihre Umsetzung zu gefährden, setzt einen Balanceakt voraus, der ebenso herausfordernd wie notwendig ist.

Afrikanische Personenfreizügigkeit in der auswärtigen EU-Migrationspolitik mitdenken. Während regionale Freizügigkeit in der IGAD-Region durch die EU ge­fördert wird, kann europäische Migrationspolitik den Zielen von Personenfreizügigkeit in Afrika auch entgegenstehen – dies zeigen die Erfahrungen in der ECOWAS-Region. Im Interesse einer kohärenten aus­wärtigen EU-Migrationspolitik ist des­halb darauf zu achten, Personenfreizügigkeit, die an einer Stelle gefördert wird, nicht an einer anderen zu gefährden. In diesem Sinne sollte auch bei Migrationskoopera­tionen oder ähnlichen Abkommen der Blick nicht auf die einzelnen Partnerländer beschränkt bleiben, sondern immer die gesamte Region erfassen. Gegen den mög­lichen kurzfristigen Vorteil der Migrationskooperation mit einzelnen Staaten ist der entwicklungspolitische und ökonomische Nutzen abzuwägen, der sich längerfristig aus gut funktionierender regionaler Zu­sammenarbeit allgemein und konkret aus der Personenfreizügigkeit innerhalb afrika­nischer Regionen ergibt. In einer Situation, da europäische Politik in Afrika vermehrt angefochten wird und gleichzeitig der Ein­fluss Russlands und Chinas auf dem Konti­nent wächst, ist es umso wichtiger, im Rah­men einer partnerschaftlichen Politik die Interessen der Regionalorganisationen im Auge zu behalten und funktionierende regionale Kooperation nicht zu stören.

Dr. Kristina Korte ist Wissenschaftlerin, Emma Landmesser Forschungsassistentin in der Forschungsgruppe Globale Fragen. Das Aktuell wurde verfasst im Rahmen des vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung geförderten Projekts »Strategische Flucht- und Migrationspolitik«.

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