Zu Jahresbeginn wurde Kasachstan von gewaltsamen Protesten erschüttert. Die von Präsident Tokajew daraufhin initiierte Intervention der OVKS markiert einen Präzedenzfall mit weitreichenden Folgen für den postsowjetischen Raum, argumentieren Margarete Klein und Andrea Schmitz.
Anfang Januar kam es aufgrund gestiegener Gaspreise in Westkasachstan zu Protesten, die sich rasch auf andere Landesteile ausweiteten. Dabei nahmen die Proteste zunehmend eine politische Stoßrichtung an und wandten sich insbesondere gegen Ex-Präsident Nursultan Nasarbajew, der zum Symbol der Stagnation im Land geworden war. Nasarbajew war zwar 2019 von seinem Amt zurückgetreten, hatte jedoch den Vorsitz des Nationalen Sicherheitsrats beibehalten und damit das politische Geschehen bis zuletzt maßgeblich mitbestimmt. Als die Proteste in Gewalt umschlugen, forderte Präsident Qassym-Schomart Tokajew am 5. Januar Truppen der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS) zur Unterstützung an.
Im Zuge der eskalierenden Straßengewalt, die von unbekannten Akteuren ausging und deren Hintergründe nach wie vor im Dunklen liegen, wurden Geschäfte geplündert und Regierungsgebäude in Brand gesteckt, verbreiteten sich Gerüchte, denen zufolge Teile der Sicherheitskräfte ihre Posten verlassen, gar die Seiten gewechselt hätten. Präsident Tokajew, der anfänglich versucht hatte, das Protestgeschehen durch Dialogangebote einzudämmen, war offenkundig die Kontrolle entglitten, so dass er sich genötigt sah, die OVKS um Hilfe zu bitten und dies mit einer vermeintlichen »Bedrohung durch Terroristen aus dem In- und Ausland« begründete.
Diese Entscheidung hat weitreichende Folgen für Kasachstans Beziehungen zu Russland. Moskau dürfte sich nunmehr in seiner Rolle als Bündnispartner Kasachstans und Garant für dessen Sicherheit gestärkt sehen. Dieser Bedeutungszuwachs kommt zu einem kritischen Zeitpunkt. Die Spannungen zwischen Russland und dem Westen hatten die von der Staatsführung stets beschworene Wahrung der außenpolitischen Balance schon zuvor erschwert – und die Gewichte dürften sich nun weiter verschieben. So ist nicht ausgeschlossen, dass Russland für seine militärische Unterstützung Gegenleistungen einfordern wird, zum Beispiel eine Reduzierung der militärischen Kooperation Kasachstans mit den USA oder eine Anerkennung der Krim-Annexion. Vor allem innenpolitisch ist eine engere Bindung an Russland problematisch. In Kasachstan ist mittlerweile eine Generation herangewachsen, die keine biografischen Bezüge mehr zum Sowjetimperium hat und die den russischen Einfluss auf identitätspolitische Fragen in Kasachstan zunehmend hinterfragt. Vor diesem Hintergrund signalisiert Tokajews Unterstützungsgesuch auch eine politische Positionierung zugunsten Russlands, die seiner Popularität in Kasachstan nicht zuträglich sein dürfte und die einen autoritäreren Politikstil begünstigen könnte.
Jenseits des bilateralen Verhältnisses zu Kasachstan stellt die Militärintervention für Moskau eine Möglichkeit dar, sich als wichtigster sicherheitspolitischer Akteur in Zentralasien zu präsentieren. Im Zuge seiner ökonomischen Expansion hat China in den vergangenen Jahren auch seine sicherheitspolitische Zusammenarbeit mit den zentralasiatischen Staaten ausgebaut und damit einen der wichtigsten Pfeiler russischer Großmachtpolitik ausgehöhlt. Der Einsatz in Kasachstan könnte nun Russlands Gewicht in der Region vis-à-vis China wieder ausgleichen. Als Nebeneffekt kann Moskau auch gegenüber den USA und der Nato demonstrieren, dass es entschlossen ist und über die nötigen Fähigkeiten verfügt, seine Interessen notfalls auch militärisch durchzusetzen. Dies erhöht den Druck in Russlands Zwangsdiplomatie gegenüber dem Westen.
Der Einsatz des von Russland angeführten Militärbündnisses OVKS setzt den Trend zur Militarisierung der russischen Außenpolitik fort. Neu ist das Instrumentarium, dessen sich Moskau nun bedient. Denn zum ersten Mal werden militärische Strukturen der OVKS einsetzt: die sogenannten Kollektiven Friedenstruppen. Moskau geht es dabei nicht um Lastenteilung; die militärischen Strukturen des Bündnisses basieren zum großen Teil auf russischem Personal, Ausrüstung und Führungsstrukturen. Das zeigt auch der Einsatz in Kasachstan, wo die übrigen Bündnisstaaten nur kleinere Kontingente stellten. Das Mandat der OVKS dient Moskau primär dazu, den de facto russischen Militäreinsatz multilateral zu legitimieren.
Dass der erste Einsatz der OVKS nun im Zusammenhang mit den Protesten in Kasachstan erfolgt, zeigt, dass es innerhalb des Bündnisses nur eine gemeinsame Bedrohungsperzeption gibt, die die Führungen aller Mitgliedstaaten teilen: die Sorge vor einer Bedrohung autoritärer Stabilität, die stets als von außen geschürt dargestellt wird. Der Sicherheitsbegriff, der dem Militärbündnis zugrundliegt, ist damit einer, der nationale Sicherheit mit Regimesicherheit gleichsetzt.
Der Einsatz in Kasachstan könnte damit als ein Modell für weitere OVKS-Interventionen dienen. Russlands Präsident Waldimir Putin erklärte auf der außerordentlichen Sitzung des OVKS-Rats am 10. Januar bereits, dass die Unruhen in dem zentralasiatischen Land nicht der erste und nicht der letzte Versuch von außen seien, in innere Angelegenheiten der Bündnispartner einzugreifen. Vor diesem Hintergrund ist zu erwarten, dass die Mitgliedsstaaten der OVKS künftig noch enger zusammenarbeiten, was die Ausarbeitung und Koordination von Repressionsmaßnahmen gegen Opposition und Zivilgesellschaft und deren eventuelle Verbindungen mit ausländischen Akteuren angeht. Für autoritäre Herrscher, die sich durch größere Proteste unter Druck sehen, kann der Appell an das Bündnis künftig zudem eine attraktive Option sein.
Da mit dem Einsatz der OVKS aber auch Einflussmöglichkeiten Russlands einhergehen, kommt es für Moskau nun darauf an, sich als verlässlicher Sicherheitspartner für die autoritären Machthaber im postsowjetischen Raum zu präsentieren und Sorgen vor einer Nutzung der OVKS als Hegemonial-Instrument zu zerstreuen. Daher ist es nur folgerichtig, dass das Bündnis nun mit dem Truppenabzug aus Kasachstan begonnen hat. Denn der Eindruck, dass mit der Entsendung der OVKS-Truppen eine längerfristige, von Kasachstan nicht gewünschte russische Truppenpräsenz einhergeht, wäre perspektivisch für Moskau kontraproduktiv. Der Gewinn wäre dafür mittelfristig größer: die Etablierung eines Modells zur militärischen Intervention in Bündnisstaaten – und eventuell auch in anderen postsowjetischen Staaten – mit multilateraler Legitimation der OVKS.
doi:10.18449/2021A04
doi:10.18449/2019S20
Nach dem Machtwechsel in Kasachstan stehen die Zeichen auf Kontinuität. Doch könnten sich künftig gesellschaftliche Stimmungen stärker Geltung verschaffen. Es ist nicht ausgeschlossen, dass damit unruhigere Zeiten auf das Land zukommen. Eine Einordnung von Andrea Schmitz.
Ziele, Instrumente und Perspektiven