Die Präsidentschaftswahlen vom 10. Januar 2021 und das damit verbundene Verfassungsplebiszit sind das Ergebnis einer von Gewalt begleiteten Dynamik, die Kirgistan seit Oktober 2020 in Atem hält. Mit der Wahl des Populisten Sadyr Japarov zum Präsidenten und der Zustimmung zu der von ihm forcierten Wiedereinführung eines Präsidialsystems wird der Weg bereitet für einen Abbau demokratischer und rechtsstaatlicher Prinzipien, mit dem sich Kirgistan den politischen Verhältnissen in den zentralasiatischen Nachbarstaaten annähert. Eine neue Verfassung ist in Vorbereitung. Der Entwurf trägt die Handschrift von Akteuren, die eine Pfadumkehr unter neo-traditionalen Vorzeichen anstreben. Er düpiert eine junge Generation politischer Kräfte, die für mehr Demokratie und Rechtsstaatlichkeit eintreten, und ist geeignet, das Land anhaltend zu polarisieren.
Die politische Krise, die zu den vorgezogenen Wahlen führte, wurde ausgelöst durch gewaltsame Proteste, die zum dritten Mal seit 2005 und 2010 einen Machtwechsel erzwungen haben. Anlass der Proteste waren Stimmenkauf und andere Unregelmäßigkeiten bei den Parlamentswahlen am 4. Oktober. In der Folge kamen von den 16 Parteien, die sich zur Wahl gestellt hatten, nur vier über die Siebenprozenthürde, unter ihnen die Parteien Birimdik und Mekenim Kyrgyzstan. Erstere repräsentierte das politische Establishment um den seit Oktober 2017 amtierenden Präsidenten Sooronbai Jeenbekov, letztere stand in Verdacht, politischer Arm der organisierten Kriminalität zu sein. Außer ihnen schafften nur zwei kleinere Oppositionsparteien den Einzug ins Einkammernparlament, die Jogorku Kenesh.
Aus Empörung über die schon im Vorfeld dokumentierten Wahlmanipulationen veranstalteten die Anhänger der unterlegenen Parteien Kundgebungen und verlangten die Annullierung des Wahlergebnisses. Die Zentrale Wahlkommission kam dieser Forderung bereits am 6. Oktober nach, um »Spannungen zu vermeiden«, und setzte für den Folgemonat Neuwahlen an. Mittlerweile hatten die Proteste aber eine Dynamik entfaltet, die durch solche Korrekturen nicht mehr zu stoppen war und die offenbarte, dass mehr auf dem Spiel stand als die Neuwahl des Parlaments. Von nun an dominierten Akteure das Protestgeschehen, die durch eine Kampagne in sozialen Medien mobilisiert worden waren, große Aggressivität an den Tag legten und sich als Anhänger jenes Sadyr Japarov präsentierten, der seither im politischen Bischkek die Spielregeln vorgibt.
Dynamik des Umsturzes
Japarovs politische Karriere begann während der »Tulpenrevolution« von 2005, die die Präsidentschaft Askar Akayevs beendete und Kurmanbek Bakiyev zur Macht verhalf. Bakiyev verband eine nationalistische Agenda, die auch die von ihm gegründete Partei Ak Jol verfolgte, mit einem zunehmend autoritären Regierungsstil. Im April 2010 wurde auch er durch Massenproteste aus dem Amt vertrieben. Diese zweite Revolution war deshalb bedeutsam, weil sie zu einer Verfassungsänderung führte, die die Macht zwischen Präsident, Premierminister und Parlament neu verteilte und einem parlamentarischen System den Weg bereitete. Japarov – nun Abgeordneter der neu gegründeten Partei Ata-Jurt, einem Sammelbecken der Bakiyev-Anhänger – versuchte weiterhin mit einer nationalistischen Agenda zu reüssieren. Sogar Gewalt wurde eingesetzt, als er 2012 mit Gleichgesinnten den Sitz der Regierung in Bischkek stürmte, um diese zu stürzen. Einer Haftstrafe entzog er sich durch Flucht ins Ausland. 2017 wurde er festgenommen, als er nach Kirgistan einreisen wollte, und zu elfeinhalb Jahren Haft verurteilt.
Als die Parlamentswahlen am 4. Oktober 2020 stattfanden, befand sich Japarov in einem Hochsicherheitsgefängnis in Bischkek. Im Zuge der sich immer stärker ausweitenden Proteste stürmte am 5. Oktober eine Gruppe von Demonstranten die Haftanstalt und befreite Japarov ebenso wie eine Reihe weiterer Ex-Politiker. Während diese bald wieder inhaftiert wurden, erzwangen Japarovs Anhänger innerhalb kürzester Zeit dessen Aufstieg an die Spitze des Staates: Auf Verlangen der mit Gewalt drohenden Demonstranten trat der amtierende Premierminister am 6. Oktober zurück, und Japarov erklärte sich unter Berufung auf den »Volkswillen« zum neuen Regierungschef.
Doch verweigerte ihm das Parlament zunächst die Zustimmung. Aufgrund des Drucks, den Japarovs Anhänger in Straßenkämpfen mit dessen Gegnern entfalteten, sprach sich das Parlament in einer außerordentlichen Sitzung am 10. Oktober schließlich für dessen Ernennung zum Premierminister aus. Die Rechtmäßigkeit der Abstimmung war angesichts des verfehlten Quorums von Anfang an umstritten, hatte doch weniger als die Hälfte der Abgeordneten an der entscheidenden Sitzung teilgenommen. Gleichwohl begann der neue Regierungschef umgehend Fakten zu schaffen und Schlüsselpositionen in Staatsanwaltschaft, Geheimdienst und Regierungsapparat mit Akteuren seines Netzwerks zu besetzen, viele von ihnen aus dem Umfeld des früheren Präsidenten Bakiyev. Bereits am 12. Oktober fand die erste Kabinettssitzung statt, am 14. Oktober bestätigte das Parlament, nun mit ausreichender Anzahl von Stimmen, den selbsternannten Premierminister in seinem Amt.
Doch dessen Ziel war damit noch nicht erreicht. Japarovs Anhänger, die weiterhin zentrale Plätze in Bischkek besetzt hielten, forderten den Rücktritt von Präsident Jeenbekov, der mehrfach signalisiert hatte, nicht an der Macht festhalten zu wollen, zunächst aber auf einer geordneten Amtsübergabe bestand. Tatsächlich unterzeichnete er, offenbar unter dem Druck Japarovs und seiner gewaltbereiten Anhänger, schon am 15. Oktober seine Rücktrittserklärung. Parlamentssprecher Kanat Isajev, der qua Verfassung an Jeenbekovs Stelle hätte treten müssen, verzichtete. Am 16. Oktober beauftragte das Parlament Japarov, den das Oberste Gericht am selben Tag von allen Anklagen freisprach, mit der kommissarischen Leitung der Staatsgeschäfte. Japarov übte nun also zwei Ämter in Personalunion aus: das des Premierministers und das des Interimspräsidenten.
Das Parlament als Notariat
Von Anfang an hatte Japarov erklärt, Kirgistan wieder ein Präsidialsystem geben, dazu eine neue Verfassung erarbeiten und die Bevölkerung in einem Referendum darüber abstimmen lassen zu wollen. Zunächst aber stand die Neuwahl der Jogorku Kenesh im Raum, die auf Druck von Japarovs Gleichgesinnten in den Reihen der Abgeordneten von der Zentralen Wahlkommission unter Berufung auf »höhere Gewalt« erneut, nun auf den 20. Dezember, verschoben worden war. Dies war nicht der einzige Fall eines von kirgisischen Rechtsexperten als verfassungswidrig bewerteten Umgangs der Legislative mit ihren Befugnissen. Am 22. Oktober beschloss eine Mehrheit der Abgeordneten kurzerhand eine Änderung des Wahlgesetzes, die es erlaubte, die Neuwahl der Jogorku Kenesh bis zum Sommer 2021 hinauszuschieben. Bei der Abstimmung kam es zu groben prozeduralen Verstößen und wohl auch zu Stimmenfälschungen. Doch für den Interimspräsidenten war dieser Schachzug – die Verlängerung der Amtszeit des Parlaments – entscheidend, weil er es möglich machte, durch strategische Allianzen in der Jogorku Kenesh Rückendeckung für eine rasche Verfassungsänderung zu mobilisieren und so der Gefahr vorzubeugen, dass ein neues Parlament das Vorhaben blockiert.
Die Klage kirgisischer Aktivistinnen und Aktivisten, die die Entscheidung des Parlaments unter Berufung auf eine von der Verfassungskammer des Obersten Gerichts erbetene Stellungnahme der Venedig-Kommission des Europarats anfechten wollten, wies die Verfassungskammer zurück. Auch Protestkundgebungen vermochten nicht zu verhindern, dass der offenbar strategisch geplante Umbau des politischen Systems nun Schritt für Schritt umgesetzt wurde. Am 17. November veröffentlichte die Parlamentswebsite den Entwurf für eine neue Verfassung, der mutmaßlich dem nach wie vor einflussreichen ideologischen Umfeld des ehemaligen Präsidenten Bakiyev entstammt; eine 89-köpfige Kommission wurde von Talant Mamytov – er hatte die kommissarische Leitung der Staatsgeschäfte am 14. November von Japarov übernommen, damit dieser bei den Präsidentschaftswahlen kandidieren konnte – mit der Überarbeitung des Textes beauftragt. Gleichzeitig wurden der Termin für die Neuwahl des Präsidenten und das Plebiszit bestimmt, bei dem sich die Kirgisen für eine »Präsidialrepublik«, eine »Parlamentarische Republik« oder »keines von beiden« – gemeint war die Beibehaltung des Status quo – aussprechen sollten. Während Experten noch darüber stritten, ob es rechtmäßig sei, ein solches Plebiszit abzuhalten, ohne der Öffentlichkeit Gelegenheit zu geben, sich gründlich mit dem Entwurf auseinanderzusetzen, schaffte die Legislative erneut Fakten: Am 10. Dezember verabschiedete eine Mehrheit willfähriger Parlamentarierinnen und Parlamentarier in einer hastigen Abstimmung ein Gesetz, das die Durchführung des Referendums rechtlich absicherte.
Vorwärts in die Vergangenheit
Fast 80 % der Wählerinnen und Wähler haben am 10. Januar für Japarov gestimmt, mehr noch für die Wiedereinführung des präsidentiellen Regierungssystems. Auch wenn sich nur knapp 40 % der Wahlberechtigten am Urnengang beteiligten, ist das Ergebnis doch eindeutig. Damit ist der Weg frei für die von den neuen Machthabern um Japarov forcierte Neukonzeption der Verfassung. Der Entwurf, der noch nicht endgültig ausgearbeitet ist – die finale Fassung wird wahrscheinlich Gegenstand eines neuerlichen Referendums sein –, enthält eine Reihe weitreichender Änderungen. Wie in Präsidialsystemen üblich steht der Präsident, der sich künftig zweimal in Folge für je fünf Jahre (statt wie bisher einmal für sechs Jahre) zur Wahl stellen kann, an der Spitze der Exekutive. Anders als in der geltenden Verfassung von 2010 ist der Regierungschef dem Präsidenten unterstellt und wird auch von ihm bestimmt. Das Parlament kann den Präsidenten nur im Falle schwerer Gesetzesverstöße oder von Amtsunfähigkeit aus medizinischen Gründen absetzen.
Wesentliche Artikel des Verfassungsentwurfs sind neo-traditionalen Konzepten verpflichtet. Während etwa die Zahl der Abgeordneten des wie bisher aus einer Kammer bestehenden Parlaments von derzeit 120 auf 90 (wie vor 2010) verkleinert werden dürfte, soll ein »Volksrat« (Kurultay) nach dem Vorbild der kirgisischen Volkstradition als »oberstes Beratungs- und Koordinationsorgan der Volksherrschaft« fungieren. Die Modalitäten der Wahl bzw. Ernennung der Mitglieder sind noch zu klären; über die Einberufung entscheidet der Präsident, der Empfehlungen des Volksrats zu allen Politikfeldern sowie zu Personalentscheidungen entgegennimmt und ihm Rechenschaftsberichte vorlegt.
Anders als in der Verfassung von 2010 fehlt in dem Neuentwurf von 2020 das Bekenntnis zur Herrschaft des Rechts. Stattdessen wird in der Präambel die »Orientierung an den Traditionen und Empfehlungen der Vorfahren« sowie »allgemeinmenschlichen moralischen Prinzipien« betont, die in einem eigenen Verfassungsartikel erläutert werden und patriarchale Normen – den Wert von Familie, Brauchtum und Religion – besonders hervorheben. Die Verbreitung von Informationen, die den »anerkannten moralischen Werten und Traditionen« widersprechen, ist verboten und wird geahndet. Sollten diese Werte Verfassungsrang erhalten, steht zu befürchten, dass sie auch in positives Recht überführt werden.
Eine polarisierte Gesellschaft
Diese Änderungen bedeuten eine klare Absage an demokratische und rechtsstaatliche Prinzipien, die die Revolution von 2010 etabliert hatte. Japarov, der seine Machtübernahme von Anfang an damit legitimierte, dass er den »Willen des Volkes« vollziehe, genießt nicht nur den Rückhalt maßgeblicher Teile der Elite, sondern auch einer rasch mobilisierbaren Allianz von Unzufriedenen. Diese lehnen das politische und intellektuelle Establishment ebenso ab wie das parlamentarische System. Das Idealbild eines starken Präsidenten, der für Ordnung und Gerechtigkeit sorgt, ist offenbar eine attraktive Option für das national- und wertkonservative Milieu, aus dem sich Japarovs Anhängerschaft mehrheitlich rekrutiert. Diese ist überwiegend im ländlichen Raum verwurzelt, wo weite Teile der Bevölkerung nur schlecht über die Runden kommen. Das populistische Versprechen einer »ehrlichen« Politik findet dort ebenso Anklang wie die einfache Politikauffassung, die Japarov anbietet.
Japarovs Popularität wird durch die Kritik an den demokratischen Defiziten seiner Politik nicht geschmälert. Die offene und latente Gewalt, die seinen Aufstieg zur Macht begleitete, spricht in den Augen seiner Anhänger ebenso wenig gegen ihn wie seine aggressive Wahlkampagne und die Tatsache, dass er dafür Staatsressourcen in Anspruch genommen hat. Auch der Verdacht, dass prominente Kriminelle Japarovs Wahlkampf finanziert haben und dass seiner Popularität durch professionelle Manipulation in sozialen Medien kräftig nachgeholfen wurde, scheint seine Fans nicht zu stören.
Doch den Kritikern von Japarovs autoritärem Populismus stehen düstere Zeiten bevor. Dies betrifft all jene zivilgesellschaftlichen Organisationen, Intellektuellen, Medienschaffenden und nicht zuletzt die vielen Frauen, die seit Jahren für die Gewährleistung der Menschenrechte und für eine demokratische Ordnung streiten. Diese Akteursgruppen sind seit den Ereignissen vom Oktober 2020 Einschüchterung und Gewaltandrohung ausgesetzt, und es steht zu befürchten, dass sie künftig noch mehr unter Druck geraten. Dies gilt vor allem für den Fall, dass Japarov die Erwartungen seiner Anhänger nicht erfüllen kann. Um neuerliche Proteste gar nicht erst aufkommen zu lassen, könnte der amtierende Präsident, wie seinerzeit Präsident Bakiyev, versucht sein, Kritik mit zusehends repressiveren Mitteln abzuwehren.
Deutschland und die EU sollten einer solchen Entwicklung mit allen Mitteln gegensteuern und darauf drängen, dass der Verfassungsentwurf, der gegenwärtig von der Venedig-Kommission begutachtet wird, einer grundlegenden Revision unterzogen wird. Darüber hinaus sollte die Unterstützung der kritischen Medienöffentlichkeit in den Vordergrund gerückt und zu einem prioritären Thema des politischen Dialogs gemacht werden.
Dr. Andrea Schmitz ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.
© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2021
Alle Rechte vorbehalten
Das Aktuell gibt die Auffassung der Autorin wieder.
Mit Ausnahme der im Deutschen eingebürgerten Schreibung Kirgistan wurde bei der Umschrift von Eigennamen bzw. Begriffen aus dem Kirgisischen die englische Schreibweise verwendet.
SWP-Aktuells werden intern einem Begutachtungsverfahren, einem Faktencheck und einem Lektorat unterzogen. Weitere Informationen zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP-Website unter https://www. swp-berlin.org/ueber-uns/ qualitaetssicherung/
SWP
Stiftung Wissenschaft und Politik
Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit
Ludwigkirchplatz 3–4
10719 Berlin
Telefon +49 30 880 07-0
Fax +49 30 880 07-100
www.swp-berlin.org
swp@swp-berlin.org
ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2021A04