Vieles deutet darauf hin, dass die georgischen Kommunalwahlen am Samstag die politische Krise im Land nicht beenden. Diese färbt zunehmend auf die Beziehungen zur EU ab. Somit liegt auch eine Prüfung der bisherigen EU-Politik nahe, meinen Franziska Smolnik und Mikheil Sarjveladze.
Noch im Frühjahr hofften viele, dass mit den Kommunalwahlen am 2. Oktober Georgiens Politik endlich konstruktiveres Fahrwasser erreichen würde. Nach den umstrittenen Parlamentswahlen vom Herbst 2020 und dem darauffolgenden Boykott durch die Oppositionsparteien sollte ein durch EU-Ratspräsident Charles Michel vermitteltes Abkommen den Weg aus der monatelangen politischen Krise weisen. Doch vieles deutet darauf hin, dass die Spannungen zwischen Regierung und Opposition auch nach der Wahl bestehen bleiben.
Die auch als »Charles-Michel-Abkommen« bekannte Vereinbarung vom 19. April 2021 sieht richtungsweisende Reformen vor, unter anderem in den zentralen Bereichen Wahlgesetzgebung und Justiz. Eine weitere Klausel bezieht sich konkret auf die Kommunalwahlen: Die Regierungspartei »Georgischer Traum« konzediert darin mit Blick auf die innenpolitische Stabilität vorgezogene Parlamentswahlen, sollte sie weniger als 43 Prozent aller Stimmen erzielen. Ein Ende der politischen Krise, wie Charles Michel sie bei der Unterzeichnung ausrief, bedeutete das Abkommen indes nicht, war es doch von Beginn an mit Unwägbarkeiten behaftet.
Die größte Oppositionspartei »Vereinte Nationale Bewegung« (VNB) verweigerte ihre Unterschrift und verlängerte ihren Parlamentsboykott um gut einen weiteren Monat. Die Regierungspartei geriet kurze Zeit später in die Kritik, weil ihre Fortführung der als politisiert wahrgenommenen Bestellung der Richterinnen und Richter für den Obersten Gerichtshof Georgiens aus EU-Sicht das Abkommen konterkarierte. Am 28. Juli dann trat die Regierungspartei vom Abkommen zurück, verwies unter anderem auf die fehlende Unterzeichnung durch die VNB. Diese unterzeichnete plakativ am 2. September die Vereinbarung nachträglich, ohne sich bis dahin besonders konstruktiv gezeigt zu haben. Immer deutlicher zeichnete sich ab, dass die politische Krise neben der innenpolitischen auch zunehmend eine außenpolitische Dimension bekommt, indem sie auf die EU-Georgien-Beziehungen abfärbt.
Zuletzt warfen insbesondere zwei Ereignisse Schatten auf das Verhältnis: Ende August erklärte die georgische Regierung ihren Verzicht auf die EU-Makrofinanzhilfe mit der Begründung, das Land habe durch starkes Wirtschaftswachstum ausreichende Ressourcen und wolle die Auslandsverschuldung senken. Brüssel hingegen gab zu verstehen, dass Georgien die Bedingungen für die Auszahlung, nämlich Reformen zur Verbesserung der Unabhängigkeit und Transparenz der Justiz, nicht erfüllt habe. Daneben sorgte eine mögliche Überwachung von EU-Diplomatinnen und -Diplomaten durch den georgischen Geheimdienst für Aufsehen, wie sie vermeintlich aus diesem geleakte Dokumente nahelegen. In den vergangenen Wochen haben sich Beobachterinnen und Beobachter mit Blick auf das Verhältnis zwischen Brüssel und Tiflis daher immer öfter gefragt: Quo vadis?
Die Rhetorik der Regierungspartei deutet darauf hin, dass man das Bild eines folgsamen Schülers vis-à-vis einer belehrenden EU korrigieren und einen selbstbewussteren, national eigenständigen Kurs einschlagen möchte. Die Entwicklungen in den kommenden Monaten dürften zeigen, inwieweit diese machtpolitischem Kalkül geschuldet ist oder ob sie einer außenpolitisch substantielleren Kursänderung den Weg bereitet.
In Brüssel jedenfalls haben die Ereignisse der vergangenen Wochen und Monate durchaus irritiert. Dabei greift die Sondierung eines »Wie weiter?« über das unmittelbare EU-Georgien-Verhältnis hinaus. Angesichts der Verschiebung regionaler Kräfteverhältnisse im Kontext des 44-Tage-Kriegs in und um Bergkarabach stellt sich auch die Frage nach der Rolle der Europäischen Union im Südkaukasus. Das EU-Engagement in Georgien im Verlauf dieses Jahres lässt sich als Versuch Brüssels werten, dort stärkere Präsenz zu zeigen. Dass nun offenbar die »Soft Power« der EU sowie ihre finanziellen Anreize beim bislang am zuverlässigsten pro-europäisch ausgerichteten Staat in der Region an Grenzen stößt, sollte der EU zu denken geben.
Für den Fall, dass Georgien Vereinbarungen, wie eben Reformen zur Stärkung des Rechtsstaats, nicht umsetzt, behält sich die EU die Anwendung des sogenannten »less for less«-Prinzips vor: wer weniger umsetzt, erhält auch weniger Unterstützung. Das Beispiel Makrofinanzhilfe hat aber gezeigt, dass seine präemptive Wirkung begrenzt ist. Ein Risiko des Prinzips ist zudem, dass es ein Entfremden der Partner katalysiert, statt abwendet. Anstelle von »less for less« – welches das sonst waltende Prinzip »more for more« spiegelt – könnte daher ein »better targeted«-Ansatz sinnvoller sein.
Die EU-Unterstützung würde dabei etwa noch stärker auf die Bedürfnisse der Bevölkerung zugeschnitten. Sozioökonomische Problemlagen werden in Umfragen regelmäßig als prioritäre Herausforderungen genannt; die Covid-Pandemie dürfte die Haushalte weiter belasten. Die EU könnte daher versuchen, ungenutzte Potentiale des Abkommens über die vertiefte und umfassende Freihandelszone (DCFTA) für die lokale Entwicklung zu nutzen, etwa für die Modernisierung der Landwirtschaft. Daneben könnte sie mit direkter Unterstützung der Zivilgesellschaft, die örtliche Strukturen und Kapazitäten besser berücksichtigt, Teilhabe an gesellschaftlichen, sozioökonomischen und politischen Entwicklungsprozessen fördern. Auf politischer Ebene könnte eine Task Force nach dem Beispiel der »Support Group for Ukraine« Reformen engmaschig begleiten und Unterstützungsleistungen innerhalb der EU sowie mit anderen externen Akteuren koordinieren. Wie erfolgreich ein solches Instrument wäre, hängt letztlich jedoch vom politischen Willen der Regierung in Tiflis ab. Im Moment scheint es so, als hätten machtpolitische Interessen dort mehr Gewicht.
Die derzeitigen Verstimmungen zwischen Tiflis und Brüssel bedeuten nicht, dass sich die EU weniger, sondern dass sie sich mehr mit einer eigenen strategischen Vision für ihre Rolle in Georgien und im Südkaukasus auseinandersetzen sollte. Der für Dezember geplante Gipfel der Östlichen Partnerschaft etwa würde sich für die Formulierung einer solchen Vision anbieten.
Politische Krise und regionale Veränderungen verlangen Antworten der EU
doi:10.18449/2021A27