Während die Weltöffentlichkeit auf Russlands Krieg gegen die Ukraine und den sich verschärfenden Konflikt zwischen den USA und China blickt, hat sich die Sicherheitslage auf der koreanischen Halbinsel weiter verschlechtert. Nordkorea treibt den Ausbau seiner militärischen Fähigkeiten kontinuierlich voran und hat jüngst seine Nukleardoktrin signifikant modifiziert. Der sich rasch verändernde geopolitische Kontext macht zugleich eine Lösung des Atomkonflikts noch unwahrscheinlicher. Pjöngjang hat den Status quo auf der koreanischen Halbinsel unilateral verändert. Diese neue Realität anzuerkennen ist zwar politisch nicht unumstritten. Doch sind Fortschritte in der Nordkorea-Frage kaum vorstellbar, solange die internationale Gemeinschaft weiter von unbegründeten Erwartungen ausgeht und an dem illusorischen Ziel festhält, das Land zum Verzicht auf seine Atomwaffen zu überreden oder zu zwingen.
Obwohl sich die internationale Gemeinschaft seit langem darum bemüht, Nordkorea den Besitz von Kernwaffen zu verwehren, hat Pjöngjang deren Entwicklung unvermindert fortgesetzt und dabei sukzessive den Status quo auf der koreanischen Halbinsel unilateral verändert. 2017 führte das Land den bis dato letzten Nukleartest durch; danach verkündete Nordkorea, es habe die »Entwicklung der staatlichen Atomstreitkräfte« erfolgreich abgeschlossen. Seither wurden insbesondere die Anstrengungen intensiviert, das nationale Raketenprogramm voranzubringen. Nordkorea absolvierte seit Beginn dieses Jahres bereits über 40 Tests ballistischer Raketen und setzte dabei auch das 2018 selbstauferlegte Moratorium für die Erprobung ballistischer Langstreckenraketen außer Kraft. Insbesondere ist Pjöngjang bemüht, sein Raketenprogramm weiter zu diversifizieren. Entsprechend investiert das Land in die Entwicklung neuer Raketentypen – darunter Trägersysteme für mehrere Sprengköpfe, Hyperschallraketen, neue U‑Boot-gestützte ballistische Raketen, manövrierfähigere Langstrecken-Marschflugkörper sowie feststoffbetriebene ballistische Kurzstreckenraketen. Ein besonderer Fokus gilt jenen Technologien, mit denen sich Raketen leichter transportieren, schneller starten und schwerer entdecken lassen. Am 10. Oktober meldete die nordkoreanische Nachrichtenagentur KCNA, das Land habe eine Übung taktischer Nukleareinheiten abgehalten. Das Militär habe den Abschuss ballistischer Raketen geprobt, »bei denen das Laden taktischer Nuklearsprengköpfe simuliert wurde«.
Neben den Fortschritten beim Raketenprogramm scheint Nordkorea den Weg für weitere Atomtests zu ebnen – darauf deuten unter anderem auch entsprechende Aktivitäten auf dem Testgelände Punggye‑ri hin. Laut einem Bericht des UN-Sanktionsausschusses legen Satellitenbilder nahe, dass notwendige Vorbereitungen dort größtenteils abgeschlossen sind, etwa die Wiederherstellung des Tunnelnetzes. Demnach hat Nordkorea auch seine Produktionskapazität für spaltbares Material in der Yŏngbyŏn-Anlage erhöht.
Nordkoreas Nukleardoktrin im Wandel
Parallel zu den militärischen Entwicklungsschritten hat Nordkorea seine Nukleardoktrin modifiziert. Nach dem ersten Atomtest des Landes im Jahr 2006 erklärte Pjöngjang, die zentrale Mission des Nuklearprogramms bestehe in der Kriegsabschreckung und der Sicherung der Regimestabilität. Die eigenen Atomwaffen wurden folglich als »reine Verteidigungswaffen« bezeichnet. Man beteuerte, Kernwaffen niemals zuerst einsetzen zu wollen – eine Position, die 2013 auch gesetzlich verankert wurde. Doch spätere Stellungnahmen haben diese Behauptung mehr und mehr untergraben. Während einzelne Dokumente bereits zuvor die Möglichkeit eines taktischen Einsatzes von Nuklearwaffen bei bestimmten Bedrohungen angedeutet hatten, verwies Staatschef Kim Jong Un im April 2022 offen auf eine »zweite Mission« des Atomarsenals. In einer Rede zum 90. Jahrestag der Gründung der Koreanischen Revolutionären Volksarmee beschwor er nicht nur das Ziel, das Atomwaffenprogramm des Landes »sowohl qualitativ als auch quantitativ« zu stärken, sondern ließ auch erkennen, dass dessen Zweck sich nicht auf die Verhinderung eines Krieges beschränke.
Am 8. September 2022 verabschiedete das nordkoreanische Parlament – die Oberste Volksversammlung – schließlich ein neues Gesetz »über die staatliche Politik der Atomstreitkräfte«. Damit wurde die Nukleardoktrin des Landes nachhaltig geändert. Das Gesetz erläutert unter anderem die allgemeine Bedeutung und Rolle von Atomwaffen in Nordkoreas Verteidigungsstrategie und legt die Bedingungen fest, unter denen sie eingesetzt würden. Während bestimmte Zusicherungen, etwa im Hinblick auf Nichtverbreitungsfragen, bekräftigt werden, sind insbesondere zwei Aspekte der neuen Doktrin bedeutsam.
Zum einen betont das Gesetz die Möglichkeit eines first use, einschließlich eines Präventivschlags, in Nordkoreas Nuklearstrategie. Während das bisherige Gesetz von 2013 vorsah, dass Atomwaffen eingesetzt werden können, um eine Invasion bzw. einen Angriff eines feindlichen Nuklearstaates abzuwehren und entsprechende Vergeltungsschläge zu unternehmen, geht das neue Gesetz darüber hinaus. Es erlaubt nukleare Präventivschläge nun auch dann, wenn festgestellt würde, dass ein Angriff mit Massenvernichtungswaffen oder ein Angriff gegen »strategische Ziele« des Landes, einschließlich seiner Führung, unmittelbar bevorsteht.
Zum anderen führt das Gesetz aus, wie sich Befugnisse im Hinblick auf die Befehlsgewalt zum Einsatz der Nuklearwaffen delegieren lassen. Offenbar um die Wirksamkeit der südkoreanischen Kill-Chain-Strategie zu untergraben (also jener Präventivstrategie, die Angriffe auf Nordkoreas Führung und wichtige militärische Zentren des Landes vorsieht, sollte Pjöngjang einen Militärschlag gegen Südkorea planen), betont das Gesetz zwar, dass Kim Jong Un »alle Entscheidungsbefugnisse in Bezug auf Atomwaffen« besitze. Im Falle eines Angriffs auf die nordkoreanische Befehls- und Kommandozentrale werde jedoch »automatisch und unverzüglich ein Atomschlag durchgeführt«.
Diese Entwicklungen zeigen, dass Pjöngjang seine Politik angesichts eines sich verändernden strategischen Umfelds anpasst. Sie sprechen jedoch auch dafür, dass Nordkorea in seinem Selbstbild eine Normalisierung und Konsolidierung als Atomwaffenstaat vollzieht.
Implikationen des geopolitischen Kontexts
Nordkoreas militärische Entwicklungsfortschritte und die Modifikation seiner Nukleardoktrin finden in einem geopolitischen Kontext statt, der sich auf regionaler wie globaler Ebene rasch wandelt und den Pjöngjang offensichtlich zu seinen Gunsten ausnutzen will. Die zunehmenden Spannungen zwischen den USA und China sowie der Krieg Russlands gegen die Ukraine verschaffen dem Land neuen Handlungsspielraum. Umgekehrt ist der strategische Wert Nordkoreas für Russland und China dramatisch gestiegen. Diese Konstellation dürfte es noch unwahrscheinlicher machen, dass sich Pjöngjang bereitfindet, mit der internationalen Gemeinschaft in einen Dialog über die Aufgabe seines Nuklearprogramms zu treten. Tatsächlich scheint die neue geopolitische Lage in Nordostasien die Überlebensstrategie Kim Jong Uns vorerst zu stützen. Am deutlichsten zeigte dies wohl die Abstimmung im UN-Sicherheitsrat vom 26. Mai 2022. Nachdem Pjöngjang abermals ballistische Raketen getestet hatte, blockierten Russland und China erstmals seit Einsetzung des Sanktionsregimes 2006 per Veto einen Entwurf der USA, mit dem neue Sanktionen gegen Nordkorea verhängt werden sollten.
Vor allem dessen Beziehungen zu Russland scheinen sich infolge der zunehmenden Isolation Moskaus rasch zu entwickeln. Im März 2022 war Nordkorea eines von nur fünf Ländern, die gegen eine Resolution der UN-Generalversammlung zur Verurteilung der russischen Invasion in der Ukraine votierten. Am 14. Juli erkannte Nordkorea dann als eines der ersten Länder die sogenannten Volksrepubliken Donezk und Luhansk offiziell als unabhängige Staaten an. Nordkoreas Außenministerin Choe Son Hui bekundete die Absicht ihres Landes, »Beziehungen von Staat zu Staat« mit den beiden Gebieten aufzubauen. Moskau bezeichnete im Gegenzug Nordkorea als »sehr wichtigen strategischen Partner für Russland« und signalisierte, dass nordkoreanische Arbeitskräfte eine entscheidende Rolle beim Wiederaufbau der Donbass-Region spielen könnten – was einen klaren Verstoß gegen die Nordkorea-Sanktionen des UN-Sicherheitsrats darstellen würde. Allerdings haben weder Pjöngjang noch Moskau bisher öffentlich oder offiziell erklärt, dass sie nordkoreanische Truppen oder »Freiwilligen«-Einheiten an russischer Seite in den Kampf schicken würden. Im September 2022 meldeten US-Geheimdienste, dass Russland beabsichtige, Millionen Artilleriegranaten und Raketen von Nordkorea zu kaufen.
Parallel zur Unterstützung der russischen Invasion in der Ukraine leistete Nordkorea rhetorischen Beistand für Chinas Haltung im Taiwan-Konflikt. Als Anfang August 2022 die Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, die Insel besuchte, verurteilte dies ein Sprecher des nordkoreanischen Außenministeriums und bezichtigte Washington der »absichtlichen politischen und militärischen Provokationen«. Taiwan sei »ein untrennbarer Teil Chinas«, und es sei »das Recht eines souveränen Staates, Gegenmaßnahmen gegen äußere Kräfte zu ergreifen, die sich offen in seine inneren Angelegenheiten einmischen«.
Unbequeme Wahrheiten
Der Übergang Nordkoreas zu einem faktischen Atomstaat ist ein Fait accompli, das den Status quo auf der koreanischen Halbinsel verändert hat. Diese neue Realität anzuerkennen bedeutet nicht, Nordkoreas Status als Nuklearmacht zu legitimieren oder das Ziel seiner Denuklearisierung aufzugeben. Vielmehr geht es darum, militärische und diplomatische Mittel auf Grundlage der neuen Bedingungen zweckmäßig und zielführend einzusetzen. Dies setzt jedoch voraus, dass die internationale Gemeinschaft einige unbequeme politische Wahrheiten akzeptiert.
Erstens gilt festzuhalten, dass es von außen nur begrenzte Möglichkeiten gibt, die militärischen Aufrüstungspläne Pjöngjangs einzuhegen. Denn Nordkorea ist bereit, auf politischer, wirtschaftlicher und sozialer Ebene einen extrem hohen Preis zu bezahlen, damit es dem Druck seiner Gegner wie auch seines wichtigsten »Partners« – sprich Chinas – standhalten kann. Letztlich hat das Land seine Sicherheitsstrategie vollständig an den Besitz von Atomwaffen geknüpft.
Vor diesem Hintergrund ist zweitens einzugestehen, dass alle bisherigen Versuche der internationalen Gemeinschaft, Nordkorea auf einen Weg der Denuklearisierung zu verpflichten, einstweilen gescheitert sind. Weder Diplomatie noch politischer und wirtschaftlicher Druck haben zu dem Ziel geführt, das nordkoreanische Atomarsenal vollständig, überprüfbar und unumkehrbar zu zerstören.
Daher muss drittens zur Kenntnis genommen werden, dass Nordkorea seine Atomwaffen vorerst nicht aufgeben wird. Dies spiegelt sich in der offiziellen Rhetorik und inoffiziellen Erklärungen des Landes ebenso wie seinen konkreten politischen Entscheidungen wider. Seit im Februar 2019 das Gipfeltreffen von Hanoi zwischen Kim Jong Un und dem damaligen US-Präsidenten Donald J. Trump scheiterte und im Oktober desselben Jahres auch ein bilaterales Treffen auf Arbeitsebene in Stockholm ergebnislos blieb, hat Nordkorea sein Nuklear- und Raketenprogramm mit aller Kraft ausgebaut. Ein umfassender Fünfjahresplan zur Modernisierung der Verteidigung, der im Januar 2021 angekündigt wurde und in dem auch die Entwicklung taktischer Atomwaffen eine entscheidende Rolle spielt, wird unvermindert umgesetzt.
Vor diesem Hintergrund ist es kaum verwunderlich, dass Pjöngjang alle Angebote abgelehnt hat, die seit 2019 von den USA und einzelnen EU-Staaten zur Wiederaufnahme von Denuklearisierungsgesprächen an nordkoreanische Vertreter gerichtet wurden. Entsprechend ist davon auszugehen, dass jegliches Dialogformat, das auf eine vollständige, überprüfbare und unumkehrbare Denuklearisierung Nordkoreas abzielt, derzeit zum Scheitern verurteilt ist. Dies wiederum wirft die Frage auf, welche Optionen den involvierten Staaten bleiben und inwiefern die gegenwärtige Strategie der internationalen Gemeinschaft im Umgang mit Pjöngjang angepasst werden muss, um dem neuen Status quo auf der koreanischen Halbinsel gerecht zu werden.
Begrenzte Optionen der internationalen Gemeinschaft
Zweifelsohne ist die derzeitige Situation extrem kompliziert und das Spektrum an Handlungsoptionen der internationalen Gemeinschaft begrenzt. Angesichts der kontinuierlich wachsenden Bedrohungen, die militärisch und sicherheitspolitisch von Nordkorea ausgehen, ist es jedoch keine praktikable Option, die Herausforderung schlichtweg zu ignorieren. Vielmehr muss die gegenwärtige Strategie an die veränderten Realitäten auf der koreanischen Halbinsel angepasst werden.
Zwei Säulen einer angepassten Strategie
Wenn davon ausgegangen wird, dass sich eine Denuklearisierung des Landes nicht kurzfristig erreichen lässt, ist bis auf mittlere Sicht ein realistischerer Ansatz zum Umgang mit Nordkorea erforderlich. Konkret sollten zwei Elemente der bisherigen Strategie modifiziert werden, um dem neuen Status quo auf der koreanischen Halbinsel Rechnung zu tragen. Erforderlich sind erstens zielgerichtete Schritte zwischen Südkorea und den USA sowie trilateral zwischen Südkorea, den USA und Japan in Richtung einer verstärkten Abschreckung und Verteidigungszusammenarbeit. Zweitens sollte der Schwerpunkt der Diplomatie gegenüber Nordkorea vom unmittelbaren Ziel der Denuklearisierung hin zur Eindämmung der von Pjöngjang ausgehenden Bedrohungen verlagert werden.
Stärkung der Abschreckung und der regionalen Verteidigungskooperation
Da die militärischen Fähigkeiten Nordkoreas stetig wachsen, ist es für die USA, Südkorea und Japan von entscheidender Bedeutung, die Glaubwürdigkeit der erweiterten Abschreckung auf der koreanischen Halbinsel und in ihrem Umfeld weiter zu erhöhen. Das entsprechende Vorgehen muss den veränderten Status quo widerspiegeln und so konzipiert sein, dass es sich gegen einen Staat richtet, der tatsächlich Nuklearwaffen besitzt und nicht bloß danach strebt. Entscheidende Schritte in diese Richtung sind die jüngst erfolgte Wiederaufnahme bzw. Reaktivierung zweier zentraler Maßnahmen: der gemeinsamen Militärübungen zwischen den USA und Südkorea sowie des Austauschs in der Extended Deterrence Strategy and Consultation Group – einem hochrangiges Forum zwischen den USA und Südkorea, in dem politisch-strategische Fragen zur Stärkung der Abschreckung, des Bündnisses und der Stabilität im indopazifischen Raum diskutiert werden. Die USA müssen ihr Engagement für die Sicherheit Südkoreas deutlich und langfristig bekräftigen und Pjöngjang zu verstehen geben, dass sie im Falle eines (eventuell auch taktischen) nordkoreanischen Atomwaffeneinsatzes gegen ihre regionalen Verbündeten umgehend Vergeltung üben würden.
Um die Abschreckung zu stärken, ist auch die fortgesetzte und regelmäßige Stationierung strategischer US-Mittel in Südkorea und der Region erforderlich. Zur Verteidigung Südkoreas hat sich Washington erneut verpflichtet, nachdem Anfang September in Pjöngjang das neue »Nukleargesetz« verabschiedet worden war.
Maßnahmen zur erweiterten Abschreckung müssen darüber hinaus mit einer ernsthaften Debatte über die Modernisierung des amerikanisch-südkoreanischen Bündnisses einhergehen. Zu diskutieren ist insbesondere über Details und Komponenten einer weiter gestärkten Raketenabwehrstrategie und über entsprechende Abwehrsysteme, mit denen sich nordkoreanische (Träger-)Raketen besser aufspüren, abwehren oder gegebenenfalls noch vor deren Einsatz zerstören lassen. Dies macht jedoch signifikante Investitionen erforderlich, etwa in Sensoren, fortschrittliche Kommando- und Kontrollsysteme, Aufklärungs-, Überwachungs- und Erkundungstechnologie sowie verschiedene Waffensysteme. Da die USA ihre military posture gleichzeitig in Europa und Asien umsetzen müssen, werden sie früher oder später mit der Herausforderung konfrontiert sein, zwischen konkurrierenden Prioritäten abzuwägen. Entsprechend wird Washington voraussichtlich höhere Beiträge von seinen Verbündeten im asiatisch-pazifischen Raum einfordern, um eine wirksame Multi-theater-Strategie im Kontext zunehmender Großmachtrivalität implementieren zu können. Daher wird Seoul seine Investitionen in eigene Fähigkeiten, mit denen sich die Bedrohungen aus Nordkorea abwehren lassen, wohl weiter aufstocken müssen.
Ebenso wichtig ist eine strategische Anpassung der gemeinsamen Militärübungen von Südkorea und den USA. Um gegebenenfalls Schwachstellen zu identifizieren und eine bessere Vorbereitung auf einen Konflikt zu schaffen, der unter Umständen auch den Einsatz von (taktischen) Nuklearwaffen beinhalten würde, müssen die den Militärübungen zugrunde liegenden Szenarien gemäß dem neuen Status quo modifiziert werden.
Zudem ist die trilaterale Sicherheitszusammenarbeit zwischen den USA, Südkorea und Japan weiter zu stärken, damit die regionalen Abschreckungsfähigkeiten ausgeweitet werden. Da anhaltende und komplizierte historische Streitigkeiten dieser Kooperation kurz- bis mittelfristig Grenzen setzen, sollte der Schwerpunkt auf Bereiche gelegt werden, in denen sie für eine erweiterte Abschreckung unerlässlich ist. Sowohl hochrangige Dialoge als auch unterstützende Track-1.5- bzw. Track-2-Konsultationen, also informelle Konsultationen unterhalb der Regierungsebene, können dazu beitragen, Vertrauen und eine breitere Unterstützung für eine nachhaltige Sicherheitszusammenarbeit zu schaffen – ungeachtet sich unter Umständen verändernder politischer Dynamiken.
Verlagerung des diplomatischen Schwerpunkts
Derzeit ist es unrealistisch, dass die Verhandlungen mit Nordkorea über eine Denuklearisierung des Landes wieder aufgenommen werden. Dies macht es unumgänglich, den diplomatischen Schwerpunkt im Umgang mit Pjöngjang zu verlagern. Zu behandeln ist primär die Frage, wie sich die nukleare Bedrohung, die von dem Land ausgeht, eindämmen lässt. Wichtig ist das auch deshalb, weil Nordkorea seit 2009, als in der zentralen Anlage Yŏngbyŏn alle Überwachungskameras und Siegel der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO) entfernt wurden, die Entwicklung seiner Atom- und Raketenprogramme unkontrolliert vorantreibt. Seit den beiden Abkommen, die 2007 im Rahmen der Sechs-Parteien-Gespräche erzielt wurden, hat es keine Übereinkunft mit Nordkorea mehr gegeben, mit der sich die Entwicklung seiner Programme stoppen ließe. Die Leap Day-Vereinbarung zwischen Pjöngjang und der Obama-Regierung von 2012 wurde ebenso wenig implementiert wie die Gemeinsame Erklärung von Singapur mit der Trump-Regierung aus dem Jahr 2018.
Informelle Track-1.5-Gespräche könnten einen wichtigen Beitrag dazu leisten, die Wissenslücken zumindest ansatzweise zu schließen, die im Zuge von Nordkoreas nationalem Corona-Lockdown entstanden sind. Ebenso wäre auf diesem Wege auszuloten, inwiefern sich offizielle Kontakte wieder aufnehmen lassen, welche Themen dabei zu erörtern wären und welche Anreize dafür, wenn überhaupt, realistisch sein könnten. Voraussetzung ist, dass Pjöngjang beschließt, seine zu Beginn der Pandemie selbstauferlegte Abschottung zu beenden.
Insbesondere europäische Denkfabriken haben in der Vergangenheit immer wieder eine zentrale Rolle dabei gespielt, informelle Kommunikationskanäle mit Nordkorea zu fördern, auch und gerade wenn der offizielle Regierungsaustausch blockiert war. Potentielle Themen für eine erneute Kontaktaufnahme mit dem Land könnten die Nichtverbreitung von Kernwaffen, die Verbesserung der allgemeinen Transparenz und Sicherheit des Nuklearprogramms und – zu einem späteren Zeitpunkt – eventuell Aspekte der Rüstungskontrolle sein.
Auch China ist möglicherweise interessiert, an solchen Gesprächen teilzunehmen. Europa sollte sich bei den betreffenden Fragen eng mit Peking abstimmen. Insbesondere das Thema Nichtverbreitung könnte eine realistische Ausgangsbasis bieten, um wieder informelle Kontakte mit Pjöngjang aufzunehmen. In Artikel 10 des nordkoreanischen Gesetzes von September 2022 heißt es, man werde »weder Kernwaffen im Hoheitsgebiet anderer Länder stationieren noch sie weitergeben und keine Kernwaffen, Technologie und Ausrüstung sowie waffenfähige nukleare Substanzen weitergeben«. Solche Erklärungen liefern einen möglichen Ansatzpunkt, um mit Nordkorea direkt über Aspekte der Nichtverbreitung zu sprechen.
Argumente gegen eine Anerkennung des neuen Status quo
Es käme einem signifikanten Politikwechsel gleich, den neuen Status quo auf der koreanischen Halbinsel anzuerkennen und – gekoppelt mit einer robusten Abschreckung – das Hauptziel der Diplomatie im Umgang mit Nordkorea zu verlagern. Dagegen lassen sich durchaus gewichtige Argumente vorbringen.
Erstens könnte ein solcher Schritt negative Folgen für das globale Nichtverbreitungsregime haben und die Glaubwürdigkeit des Nichtverbreitungsvertrags (NVV) weiter schwächen. Doch wenn schlichtweg ignoriert wird, dass Nordkorea den Status quo verändert hat und die internationale Gemeinschaft heute weniger denn je über dessen Atomprogramm weiß, bietet dies keinen besseren Schutz für die Überzeugungskraft des NVV – es vergrößert vielmehr die Sicherheitsrisiken auf der koreanischen Halbinsel und darüber hinaus. Gerade deshalb sollte die Wiederaufnahme von Kontakten mit Pjöngjang, insbesondere zum Thema Nichtverbreitung, angestrebt werden.
Zweitens könnte der beschriebene Kurswechsel die Botschaft aussenden, dass illegitimes Verhalten zumindest geduldet werde. Immerhin hat Nordkorea jahrelang die Resolutionen des UN-Sicherheitsrats missachtet, in denen es aufgefordert wurde, sein Nuklear- und Raketenprogramm einzustellen. Vor diesem Hintergrund könnte jedwede Akzeptanz des neuen Status quo als faktische Anerkennung dieses Vorgehens gedeutet werden und Nordkorea – wie anderen Staaten – den Eindruck vermitteln, dass seine (illegitimen) Handlungen keine Konsequenzen hätten. Auch könnte das Land daher versucht sein, die nuklearen Aktivitäten auszuweiten, weil es annimmt, keine Vergeltungsmaßnahmen seitens der USA oder der internationalen Gemeinschaft insgesamt befürchten zu müssen. Die veränderten Realitäten auf der Halbinsel anzuerkennen würde jedoch weder Nordkoreas Status als Nuklearmacht legitimieren noch automatisch den Druck auf Pjöngjang reduzieren. Das Land wird weiterhin einem umfassenden internationalen Sanktionsregime ausgesetzt sein, das einen Großteil seiner Importe und Exporte blockiert. Ferner wird sich Pjöngjang mit einer verstärkten Abschreckungsstrategie von Washington und Seoul konfrontiert sehen.
Drittens könnte die Billigung des Status quo andere Länder wie etwa den Iran dazu ermutigen, ihr eigenes Nuklearwaffenprogramm zu forcieren. Es ist jedoch mehr als fraglich, ob das »Beispiel« Nordkorea überhaupt als solches gelten kann. Kein anderes Regime scheint bereit zu sein, einen ähnlichen Weg einzuschlagen, dafür politisch, wirtschaftlich und sozial einen so hohen Preis zu bezahlen und das eigene Überleben so eng an den Besitz von Atomwaffen zu knüpfen. Andererseits wird davor gewarnt, dass ein nukleares Nordkorea jenen Stimmen in Südkorea und Japan zum Durchbruch verhelfen könnte, die sich für die Entwicklung eigener Nuklearwaffen aussprechen. Doch ob sich Seoul und Tokio für eigene Atomwaffenprogramme entscheiden werden, hängt letztlich stärker von der Glaubwürdigkeit der amerikanischen Abschreckung ab als von einer vorübergehenden Akzeptanz eines neuen Status quo.
Abschließende Überlegungen
»Die Zeit für Dialog zum Thema Denuklearisierung ist abgelaufen.« So formulierte es jüngst ein in Europa stationierter nordkoreanischer Beamter im Rahmen eines informellen Austauschs. In der Tat ist es derzeit äußerst unwahrscheinlich, dass die Denuklearisierungsverhandlungen mit Pjöngjang wieder aufgenommen werden. Dagegen spricht nicht nur, dass Nordkorea sein militärisches Aufrüstungsprogramm unvermindert umsetzt, sondern auch, wie sich das Land im Wettbewerb der Großmächte und im Kontext der sich verändernden Geopolitik Nordostasiens positioniert. Ob die internationale Gemeinschaft es wahrhaben möchte oder nicht: Nordkorea ist eine De-facto-Nuklearmacht und hat sich dafür entschieden, die eigene Überlebensstrategie vollumfänglich an den Besitz von Nuklearwaffen zu binden.
Ein modifizierter Ansatz gegenüber Pjöngjang muss diesem Status quo auf der koreanischen Halbinsel Rechnung tragen. Damit wird weder das nordkoreanische Atomprogramm legitimiert noch das langfristige Ziel einer Denuklearisierung des Landes aufgegeben. Vielmehr geht es darum, die politische Realität nüchtern zu bewerten und auf dieser Grundlage die militärischen und diplomatischen Mittel der involvierten Staaten zielführender einzusetzen. Militärisch bedeutet dies, Abschreckungsmaßnahmen bewusst auf einen De-facto-Nuklearstaat auszurichten. Diplomatisch sollte der kurz- bis mittelfristige Fokus auf spezifische Herausforderungen unterhalb der Schwelle einer Denuklearisierung verschoben werden.
Europäische Akteure könnten eine wichtige Rolle dabei spielen, die strategische Neujustierung gegenüber Nordkorea zu kommunizieren. Zu diesem Zweck könnten sie die notwendigen Dialogkanäle auf informeller und offizieller Ebene bereitstellen. Dasselbe gilt für die Vermittlung der Strategie gegenüber China. Die empfohlene Neuausrichtung des Kurses ist zwar politisch nicht unumstritten und ihr Erfolg nicht garantiert. Doch sind Fortschritte in der Nordkorea-Frage kaum vorstellbar, solange die internationale Gemeinschaft weiter von unbegründeten Erwartungen ausgeht und an dem illusorischen Ziel festhält, das Land zum Verzicht auf seine Atomwaffen zu überreden oder zu zwingen.
Dr. Eric J. Ballbach ist Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe Asien. Diese Publikation wurde ermöglicht durch die freundliche Unterstützung der Korea Foundation.
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DOI: 10.18449/2022A65