Während der syrische Bürgerkrieg zugunsten des Regimes von Präsident Bashar al‑Assad entschieden scheint, haben der Prozess und die Debatte über die Normalisierung der Beziehungen arabischer Länder mit Syrien und dessen mögliche Wiedereingliederung in die Arabische Liga (AL) bereits begonnen. Eine Rückkehr zur diplomatischen Normalität würde die Legitimität des syrischen Regimes stärken. Dies würde dem Bestreben Deutschlands und der Europäischen Union (EU) entgegenwirken, die gemeinsam mit den USA das syrische Regime mittels Sanktionen und Isolation zur Verhandlung einer politischen Lösung des Konfliktes bewegen wollen. Neben der Diskussion über die fragliche Rückkehr Syriens in die AL besprechen die hier vorgestellten Beiträge die Beweggründe arabischer Länder, ihre Beziehungen mit Damaskus zu normalisieren, sowie den Einfluss externer Akteure und der Corona-Pandemie auf diesen Prozess.
Inhaltsverzeichnis
Über den von Russland und dem Iran herbeigeführten militärischen Sieg des Assad-Regimes hinaus ist dessen Legitimierung, besonders durch die arabische Welt, wesentlich, um seine Autorität zu festigen und das Land wieder aufzubauen. Die Debatte rund um die Wiederannäherung arabischer Staaten an Damaskus ist kontrovers. Einerseits unterstützte die Mehrheit der Länder zu Beginn des Bürgerkriegs die Gegner Assads. Zudem hat dessen kompromissloser Krieg die Nachbarn massiv destabilisiert, vor allem Jordanien und den Libanon. Andererseits war Syrien zu keinem Zeitpunkt des Bürgerkriegs völlig isoliert – auch nicht nach seinem Ausschluss aus der AL im November 2011. Die Maghreb-Staaten, der Irak und der Oman beispielsweise verhielten sich der syrischen Regierung gegenüber eher neutral. Darüber hinaus signalisierte die Intervention Russlands bereits 2015 den Fortbestand der Regierung Assad. Seitdem wird die Diskussion über die Normalisierung der Beziehungen arabischer Länder zum Assad-Regime durch verschiedene Ereignisse beschleunigt: erstens die Wiedereröffnung der Botschaften der Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und Bahrains in Damaskus im Dezember 2018, zweitens die von Tunesien, Algerien und vermutlich Ägypten vorangetriebene, jedoch fehlgeschlagene Wiederaufnahme Syriens in die AL im März 2019, drittens die Wiedereinsetzung des omanischen Botschafters in Damaskus am 4. Oktober 2020.
Diese Zeitschriftenschau widmet sich dieser Diskussion mit besonderem Fokus auf Jordanien und den Libanon, die keine Konfliktparteien, aber stark vom syrischen Bürgerkrieg betroffen sind. Daneben beleuchtet sie jene Staaten, die durch ihr reges Engagement und ihre deutliche Positionierung zur Normalisierung der Beziehungen eine Meinungsführerrolle eingenommen haben: die VAE und Ägypten. Herangezogen werden Analysen arabischer, amerikanischer, europäischer und russischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die zwischen 2019 und 2020 bei arabischen und internationalen Think-Tanks, in Fachzeitschriften und arabischen Nachrichtenmedien erschienen sind.
Trend zur Normalisierung
In der vorherrschenden Debatte über die Wiederaufnahme Syriens in die AL wird oft der fehlende regionale Konsens für solch eine institutionalisierte Wiedereingliederung thematisiert. Selbst wenn einige Beiträge an die arabischen Länder appellieren, Damaskus nicht entgegenzukommen, wird gleichermaßen Kritik am Zustand der Organisation und ihrer immer autoritärer geführten Mitgliedsländer laut. Andere Stimmen vermuten gar, Damaskus könnte diese Gemengelage zum eigenen Vorteil nutzen.
In einem Beitrag für den Atlantic Council legen die Nahost-Analysten Ali Hussein Bakeer und Giorgio Cafiero dar, dass trotz eines Trends in den arabischen Ländern, ihre Beziehungen mit Syrien zu normalisieren, die Frage nach Assads Legitimität die Region zutiefst polarisiere. Die VAE, Bahrain, der Irak und die Staaten Nordafrikas forderten und förderten sowohl die Wiederaufnahme bilateraler Beziehungen als auch die Rückkehr Syriens in die AL. Auch die Beziehungen zum Nachbarn Jordanien verbesserten sich stetig. Saudi-Arabien und Ägypten hingegen verwiesen auf die Notwendigkeit einer politischen Lösung des Bürgerkriegs und nur Katar lehne eine Normalisierung der Beziehungen mit Damaskus kategorisch ab.
Imad K. Harb, Leiter des Arab Center Washington DC, einer mit dem Arab Center for Research and Policy Studies in Doha affiliierten Forschungseinrichtung, schreibt, ironischerweise seien es die Meinungsverschiedenheiten zwischen den arabischen Ländern, die sie vor dem törichten Fehler bewahrten, Syrien vorschnell wieder in die AL aufzunehmen. Die arabische Welt müsse ein Mindestmaß an Ehrlichkeit beweisen und die Erneuerung von Beziehungen zu Assads Regierung an die Bedingung knüpfen, dass Letztere für ihre Straftaten büße und einen politischen Prozess einleite. Allerdings seien die meisten arabischen Regierungen selbst autoritär und sähen mittlerweile gern davon ab, eine demokratische Transition in Syrien einzufordern.
Das Harmoon Center for Contemporary Studies, ein in Doha und Istanbul ansässiges, mit dem oben genannten Arab Center in Doha assoziiertes Forschungs-, Kultur- und Medieninstitut, hält es für unwahrscheinlich, dass die arabischen Länder dem syrischen Regime, seinen Methoden und seiner feindseligen Haltung ihnen gegenüber einen Freifahrtschein erteilten. Die wesentlichen in Syrien engagierten arabischen Akteure hätten kein Interesse an einer triumphierenden Rückkehr Syriens in die AL. Sie hätten ihre eigenen Prioritäten, Interessen und Konditionen, die Assad erfüllen müsse, bevor seine Regierung in den Genuss der Wiedereingliederung in die Region komme. Gleichwohl diene den Regierungen der arabischen Staaten die Normalisierung mit Assad als jüngster Beweis dafür, dass die Aufstände ihrer eigenen Bevölkerungen vergeblich seien. Die AL sei seit ihrer erfolglosen Initiative zur Schlichtung des syrischen Bürgerkriegs von 2011 gelähmt. Ihre Politik reflektiere seitdem vor allem die Divergenzen ihrer Mitglieder. Dennoch nutze die Organisation den arabischen Machthabern kollektiv für die Legitimierung ihrer Herrschaft.
Tatyana Shmeleva, Nahostforscherin am Russian International Affairs Council (RIAC), einem regierungsnahen Think-Tank, meint, den Mitgliedern der AL stehe es nicht zu, Syrien eine Lektion in Sachen Demokratie und Menschenrechte zu erteilen. Syrien sei nicht auf die AL angewiesen und könne es sich leisten, auf günstigere regionale Rahmenbedingungen für einen Wiederbeitritt zu warten.
Auch Daniel L. Byman vom Center for Middle East Policy der den US-Demokraten nahestehenden Brookings Institution sieht Damaskus in einer Position der Stärke gegenüber der arabischen Welt und dem Westen. Aus Furcht vor anhaltender Instabilität, besonders an den Grenzen, suchten die Nachbarländer den Kontakt zum Assad-Regime, wenn auch nicht öffentlich. Das syrische Regime könne die Rücknahme syrischer Geflüchteter an die Bedingung finanzieller Unterstützung und strukturierter Zusammenarbeit mit seinen Nachbarn und der EU knüpfen. Auch ein von Damaskus bewusst gesteuertes, begrenztes Terrorismusproblem könne der syrischen Regierung helfen europäische und amerikanische Unterstützung zu erhalten und sich als Teil der Koalition gegen den Terror zu präsentieren. Zu diesem Zweck könne Assad wie zu Beginn des Bürgerkriegs Jihadisten des »Islamischen Staates« aus Gefängnissen entlassen, um potenziellen Kooperationspartnern gegenüber Druck aufzubauen.
Divergierende Beweggründe
Die Diskussion über die Beweggründe für die angestrebte Normalisierung des Verhältnisses zu Syrien zeigt eine komplexe Gemengelage auf. Für Jordanien und den Libanon seien wirtschaftliche und innenpolitische Interessen entscheidend sowie der Umstand, dass sie vom syrischen Bürgerkrieg stark betroffen sind. Die Beweggründe der VAE und Ägyptens werden dagegen erklärt mit wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Interessen sowie geopolitischer Rivalität gegenüber dem Iran und der Türkei.
In einem Beitrag für die Sammelstudie »Rebuilding Syria« des Istituto per gli Studi Politica Internazionale (ISPI) in Mailand schreibt der libanesische Nahost-Analyst Bachar El-Halabi, dass die drängenden ökonomischen Bedürfnisse des Libanon und Jordaniens die Länder zur Offenheit gegenüber Damaskus nötigten. Beide Länder müssten mittelfristig das wirtschaftliche Potenzial des Wiederaufbaus Syriens ausschöpfen und ihre strategisch und logistisch günstige Lage nutzen, selbst wenn der politische Preis dafür möglicherweise zu hoch sei. Im Libanon habe die Wiederannäherung an Damaskus indes auch einen innenpolitischen Treiber: Wegen des stetigen Erstarkens der mit dem Assad-Regime verbündeten Hisbollah habe sich der Diskurs schrittweise zugunsten der Wiederaufnahme der Beziehungen mit dem Nachbarn entwickelt. Die Belastung durch eine Million syrischer Geflüchteter im Land mit dem weltweit größten Flüchtlinge-pro-Einwohner-Verhältnis habe sogar im Anti-Assad-Lager im Libanon teilweise für Bereitschaft gesorgt, mit Damaskus ins Gespräch zu kommen. Die Rückführung von Geflüchteten habe auch für Jordanien Priorität in seinen Beziehungen zu Syrien. Da Jordaniens angeschlagene Wirtschaft zusätzlich unter den mehrjährigen Grenzschließungen zum Irak und zu Syrien leidet, sei ebenso die Wiedereröffnung von Grenzübergängen ein zentraler Grund für den Austausch mit Damaskus, etwa des Nassib-Jaber-Übergangs im Oktober 2018, den vormals 17 Prozent aller jordanischen Exporte überquerten.
Mohammed Bani Salameh und Ayman Hayajneh von der Yarmouk University in Irbid, Jordanien, betrachten in ihrem Artikel im Middle East Quarterly, einer Zeitschrift des Middle East Forum mit Sitz in Philadelphia, USA, die Situation in Jordanien. Sie betonen, das Land werde aufgrund seiner sozioökonomischen und politischen Probleme, die die Flüchtlingskrise weiter verschärften, immer abhängiger von der Entwicklungshilfe der USA, der EU und der Golfstaaten. Dies schränke den außenpolitischen Spielraum Ammans erheblich ein. Einerseits müsse Jordanien der Forderung seiner Geldgeber nachkommen, sich gegen Assad zu positionieren. Andererseits habe Amman seine eigenen Sorgen, was die syrischen Aufstände und die syrische Opposition betreffe. Immer schwieriger werde Ammans Drahtseilakt, diese komplexen und oftmals widersprüchlichen innenpolitischen, regionalen und internationalen Interessen in Bezug auf Syrien in einem kohärenten Ansatz zu vereinbaren.
Die französisch-libanesische Journalistin Mona Alami schreibt in einem Beitrag für den Atlantic Council, dass die Hisbollah und ihre Verbündeten den Libanon als Plattform zur Unterstützung Assads ausnutzten. Dies trage maßgeblich zum Kollaps des Landes bei und mache die Entwicklung des Libanon zusehends vom Schicksal Syriens abhängig. Die militärische Beteiligung der Hisbollah am syrischen Bürgerkrieg entgegen dem Beschluss der libanesischen Regierung von 2012, sich von Assad und dem Konflikt zu distanzieren, mache den Libanon zum Pariastaat und entferne ihn von seinen arabischen und westlichen Partnern. Trotz der eklatanten Staatsverschuldung des Libanon und schwindender Währungsreserven sorge die Hisbollah gemeinsam mit anderen prosyrischen Parteien dafür, dass Syrien weiterhin mit subventionierten Lebensmitteln und Öl versorgt werde. Durch die Kooperation mit Damaskus werde Beirut nicht nur auf die Hilfe der Golfstaaten und der USA zur Bewältigung der Wirtschafts- und Finanzkrise verzichten müssen, sondern riskiere, von US-Sanktionen im Rahmen des Caesar Act getroffen zu werden.
Chafic Choucair, Forscher libanesischer Herkunft am Al Jazeera Centre for Studies in Doha, kommt zu dem Schluss, dass neben der Umsetzung von Wirtschaftsreformen und einem neuen Gesellschaftsvertrag vor allem die Loslösung Beiruts von Syrien und dem Iran Voraussetzung dafür sei, den Libanon vor dem Kollaps zu bewahren. Die Explosion im Hafen von Beirut und die mögliche direkte oder indirekte Verwicklung der Hisbollah in den Vorfall vertieften die gesellschaftliche Spaltung zwischen denjenigen, die eine führende Rolle der Hisbollah sowie Beiruts Verbund mit Damaskus befürworteten, und denjenigen, die sich für die Entwaffnung der Miliz und enge Beziehungen mit Saudi-Arabien und dem Westen einsetzten. Die Bildung einer libanesischen Einheitsregierung sei essenziell, um die Spaltung des Landes und seine multiplen Krisen zu überwinden. Dies setze einen regionalen und internationalen Konsens, auch mit dem Iran, über die Neutralisierung des Libanon voraus und müsse den Rückzug der Hisbollah ins Inland bedeuten. Schlage dies fehl, könne der Libanon neben Syrien in weitere regionale Konflikte verstrickt werden.
Damit der Einfluss des Iran in der Region sich nicht noch mehr ausweitet, bemühten sich die VAE und Bahrain progressiv um engere Beziehungen mit Assads Regierung, schreibt Giorgio Cafiero, Gründer von Gulf State Analytics, in Inside Arabia, einem arabisch-amerikanischen Online-Nachrichtenmagazin aus Washington D. C. Die zwei Golfstaaten beabsichtigten mit ihrer Annäherung an Damaskus, Syriens Platz in der sunnitischen arabischen Welt zu festigen. Allerdings gebe es bisher keine Anzeichen dafür, dass Assad sich von Teheran lösen wolle. Dennoch könnten die Golfmonarchien Damaskus zwei wichtige Dienste erweisen, die weder der Iran noch Russland erbringen könnten: die Golfstaaten könnten sich beim Wiederaufbau Syriens finanziell engagieren und die Wiederannäherung Syriens an die USA und die EU fördern. Das Vermächtnis des Irakkriegs von 2003, in dessen Folge die arabische Welt dem iranischen Einfluss ausgesetzt wurde, sei ein starker Beweggrund für Abu Dhabi, die Hand in Richtung Damaskus auszustrecken.
Joseph Daher, schweizerisch-syrischer Assoziierter Professor am European University Institute (EUI) in Florenz, widerspricht dem in einer Studie für das Projekt Wartime and Post-Conflict in Syria. Es sei irreführend zu denken, dass die Normalisierung der Beziehungen der VAE mit Assad auf Abu Dhabis Streben beruhe, den Iran und die Türkei aus Syrien zu verdrängen. Vielmehr sei die Annäherung der VAE an Damaskus begründet in regionalen politischen Entwicklungen, der damit einhergehenden Verschiebung der außenpolitischen Prioritäten Abu Dhabis sowie in wirtschaftlichen Interessen. 2011 und 2012 seien die VAE ihren Partnern des Golf-Kooperationsrates (GKR) gefolgt in der Verurteilung Assads und der Unterstützung der Opposition. Informell seien diplomatische und wirtschaftliche Kanäle mit Damaskus jedoch offen geblieben und die VAE hätten syrischen Regimevertretern Unterschlupf gewährt. Die Abwesenheit der VAE in Syrien zwischen 2015 und 2018 sei den konkurrierenden außenpolitischen Prioritäten Abu Dhabis in Libyen und im Jemen sowie dem Boykott Katars seit 2017 geschuldet gewesen. Das beidseitige Interesse, wirtschaftliche Beziehungen wiederzubeleben, habe einen großen Stellenwert beim Rapprochement zwischen Syrien und den VAE. Letztere hätten lukrative Aufträge in den Bereichen Immobilien, Luxus-Projekte, Transport und Handel in Aussicht – Sektoren, in denen die VAE als größter arabischer Investor vor 2011 sehr präsent waren. Der syrische Bürgerkrieg habe eine neue, regimeloyale wirtschaftliche Elite hervorgebracht. Die zuvor als Vermittler fungierende syrische kaufmännische Diaspora in den VAE habe ihr Netzwerk in Damaskus verloren. Somit seien ausländische Investitionen in Syrien unmittelbar an Verbindungen zum Assad-Regime geknüpft.
Auch für Ägypten seien wirtschaftliche Interessen, besonders im Zusammenhang mit dem syrischen Wiederaufbau, ein Beweggrund zur Kontaktaufnahme mit Damaskus, schreibt der ägyptische Journalist Albaraa Abdullah auf der arabisch-amerikanischen Nachrichtenseite Al‑Monitor. In erster Linie sei Kairo aber die Stabilität Ägyptens wichtig. Der ägyptische Präsident al‑Sisi, selbst Militär, unterstütze die syrische Armee, weil er die Integrität Syriens als wesentlich für die Sicherheit und Stabilität Ägyptens betrachte. [Dabei geht es schwerpunktmäßig um die regionale Bekämpfung islamistischer Gruppen; d. Verf.] Da Ägypten keine Kriegspartei in Syrien sei, Kontakte sowohl zum Regime als auch zu Teilen der syrischen Opposition pflege und in der Vergangenheit bereits einen Waffenstillstand zwischen oppositionellen syrischen Fraktionen herbeigeführt habe, sei Kairo der am besten geeignete Vermittler zwischen Syrien, den Ländern der Region und der internationalen Gemeinschaft.
Großmächte und arabische Interessen
Internationale Kommentatorinnen und Kommentatoren sind sich einig darüber, dass Russland für die arabische Welt die relevante Ordnungsmacht geworden sei. Nichtsdestotrotz überwiege das Drohpotenzial US-amerikanischer und europäischer Sanktionen und verhindere die Normalisierung der Beziehungen der arabischen Welt mit dem syrischen Regime. Nichtwestliche Beobachter und Beobachterinnen kritisieren, die USA und Europa wollten mit ihrer Politik der Isolation Syriens ihre Untätigkeit während des syrischen Bürgerkriegs und den Misserfolg ihrer Demokratisierungspolitik in der Region übertünchen.
Der aus dem Libanon stammende Ziyad Majid, Professor für Nahoststudien an der American University in Paris, schreibt in einem Artikel für das Al Jazeera Centre for Studies aus Doha, die Entscheidung der arabischen Länder, nach ihrer ursprünglichen Ablehnung des syrischen Regimes nun die Normalisierung der Beziehungen mit Damaskus zu suchen, kennzeichne eine neue Phase im Syrienkonflikt. Washington habe mit seiner zurückhaltenden Politik gegenüber dem syrischen Regime, selbst als dieses Chemiewaffen einsetzte, der arabischen Welt deutlich signalisiert, dass es trotz anfänglicher Mobilisierung gegen Assad nicht daran interessiert gewesen sei, ihn zu stürzen. Russland habe daraufhin mit seiner Intervention 2015 den Fortbestand des syrischen Regimes zementiert und unter anderem im Rahmen des Astana-Prozesses neue Fakten vor Ort geschaffen. Die Duldung dieses neuen Status quo durch westliche und arabische Hauptstädte habe, beflügelt durch den Kreml, den Weg zur Wiederaufnahme des Kontakts einiger arabischer Staaten mit Damaskus geebnet. Dass sich dem tatkräftigen Vorstoß der VAE zunächst keine weiteren arabischen Länder anschlossen, sei den amerikanischen und europäischen Sanktionen zuzuschreiben. Maßgebliche Gründe für die meisten arabischen Länder, keine weiteren Risiken bei der Annäherung an Assad einzugehen, seien der Umfang dieser Sanktionen, der unberechenbare Kurs Washingtons gegenüber dem Iran und die unabsehbaren Folgen eines endgültigen Rückzugs der USA aus Syrien.
Dies bestätigt Vladimir Bartenev, Direktor des Centre for Security and Development Studies (CSDS) der Lomonosov Moscow State University, in einem Beitrag für Valdai Discussion Club. Russland habe gehofft, dass sich das von den Golfmonarchien geförderte, gute regionale Klima gegenüber Syrien festigen würde. Allerdings habe Washingtons Einwirken auf Abu Dhabi und Riad mit dem Ziel, deren Annäherung mit Damaskus einzudämmen, derzeit größeren Einfluss auf das Handeln der Golfstaaten als deren wachsende Kooperation mit Moskau. Indes sporne dies die russische Diplomatie erst recht an – und an dessen Kompass orientiere sich das syrische Regime.
Der bereits genannte Artikel von Tatyana Shmeleva vom Russian International Affairs Council steht ebenfalls stellvertretend für die russische Perspektive, die die westliche Politik der Isolation Syriens zwar als mächtig, aber grundfalsch ansieht. Die Autorin erläutert, dass der Westen die Reintegration Syriens in die Region verhindere, da die Legitimierung der syrischen Regierung durch arabische Länder das Scheitern seiner Politik in Syrien und gleichzeitig die Effektivität der russischen Politik in der Region offenbare.
Weniger parteiisch, wenn auch ähnlich kritisch, formuliert es Eyal Zisser, Vizerektor der Universität Tel Aviv, in einem Artikel im Middle East Quarterly: Die Syrienpolitik des Westens (hier der USA) und die damit einhergehende Isolierung des Assad-Regimes sei immer noch von dem Irrglauben geleitet, der Nahe Osten könne demokratisiert werden. Assads brutales Vorgehen gegen die eigene Bevölkerung und sein Bündnis mit Moskau und Teheran habe dieses Ziel endgültig begraben und das Ende der Pax Americana in der Region eingeläutet. Russland gehe aus diesem Konflikt als wahrer Gewinner hervor und könne seine verlorene Stellung als stärkste ausländische Macht im Nahen Osten wieder besetzen.
Der Journalist und Essayist Faisal Al Yafai spricht sich in einem Beitrag für die englischsprachige Tageszeitung The National, die in Abu Dhabi erscheint, dagegen aus, dass die USA und Russland auf das Verhältnis arabischer Staaten zu Syrien Einfluss nehmen. Indem Russland auf die Wiedereingliederung Syriens in die arabische Welt dränge, beabsichtige es die Golfstaaten als Financiers für den kostspieligen Wiederaufbau Syriens zu gewinnen; dessen Kurs werde Moskau mittel- bis langfristig mitlenken. Die USA ächteten zwar richtigerweise das Regime, bestraften mit ihren Sanktionen aber auch die Zivilbevölkerung und ermutigten Damaskus, die Region weiter zu destabilisieren. Die Positionen der USA und der arabischen Länder seien diametral entgegengesetzt: Die USA seien überzeugt, die Isolierung Assads werde ihn früher oder später dazu zwingen, seine Allianz mit dem Iran aufzugeben; aus arabischer Perspektive treibe gerade diese Ausgrenzung Syrien in die Arme Russlands und des Iran. Weder die USA noch Russland würden dazu beitragen können, die Lage der Syrerinnen und Syrer im In- und Ausland zu verbessern. Daher sei es höchste Zeit, dass die arabischen Länder die Entscheidung über ihr Verhältnis zu Syrien in ihrem eigenen Interesse fällten.
Die Covid‑19-Pandemie
Verschiedene Beiträge über die Auswirkungen der Corona-Pandemie in Nahost zeigen auf, dass die Krise die Normalisierung diplomatischer Beziehungen arabischer Länder mit Damaskus zu begünstigen scheint.
Beispielhaft dafür ist ein Artikel von Sandy Alkoutami und Khulood Fahim, zwei James C. Gaither Junior Fellows syrisch-amerikanischer bzw. ägyptischer Herkunft beim Carnegie Endowment for International Peace in Washington D. C. Sie schreiben, Länder wie Jordanien, die VAE, Ägypten und Bahrain nutzten den Ausnahmezustand der Pandemie, um die Erneuerung ihrer Beziehungen mit dem syrischen Regime zu rechtfertigen. Dies trage zur schrittweisen Akzeptanz Assads in der Region wie auch international bei. Besonders die Gesten des Kronprinzen der VAE, Muhammad Bin Zayid, könnten die regionale Wiedereingliederung Syriens vorantreiben: Er habe betont, die humanitären Herausforderungen der Pandemie rückten etwaige politische Differenzen vorerst in den Hintergrund. Auch Moskau komme die Krise sehr gelegen in seinem Streben, Assads Regierung regional und international zu rehabilitieren. Präsident Putin bestehe darauf, dass Maßnahmen zur Krisenbewältigung und etwaige Hilfslieferungen an Syrien einzig und allein vom Regime in Damaskus verwaltet würden. Die Vereinten Nationen hätten währenddessen gefordert, die Sanktionen gegen Syrien im Kontext der Pandemie zu lockern.
Khaled Yacoub Oweis, jordanischer Journalist und Nahost-Analyst, argumentiert in einem Artikel für The National, dass das syrische Regime die Krise gezielt ausnutze, um die Sanktionspolitik der USA und der EU für die Notlage im eigenen Land verantwortlich zu machen. Das syrische Regime versuche in die AL zurückzukehren und beteuere deshalb seine Unabhängigkeit vom Iran; daher propagiere Assad, das Virus sei von schiitischen Pilgern aus den Nachbarländern ins Land getragen worden, nicht etwa, wie vermutet, von in Syrien stationierten Milizen, die unter dem Befehl Teherans stehen.
Fazit
Die Debatte zeigt einen Trend hin zur bilateralen Normalisierung der Beziehungen einiger arabischer Länder mit Assads Regierung. Die besprochenen Beiträge stellen dar, wie der fehlende regionale Konsens über die Wiederaufnahme Syriens in die AL sowie die Isolation Syriens durch die USA und die EU verhindern, dass die Normalisierung der Beziehungen der arabischen Staaten mit Damaskus fortschreitet. Zwar begrüßen die Autorinnen und Autoren Letzteres in der Regel, stellen jedoch auch heraus, dass die Umsetzung der Politik Europas und der USA gegenüber Syrien Auswirkungen auf die Nachbarländer hat – steht sie doch deren wirtschaftlichen, innen- und sicherheitspolitischen Anliegen entgegen. Ferner übergeht sie die Nöte, die die Kooperation von Ländern wie Jordanien und dem Libanon mit Damaskus teilweise begründen.
Gleichzeitig verdeutlichen die Beiträge: Die fehlende Einigkeit der arabischen Länder und die Lähmung der AL unterbinden die Formulierung und Durchsetzung gemeinsamer arabischer Interessen hinsichtlich des Umgangs mit Syrien. Die Meinungsführer VAE und Ägypten verfolgen in ihrer Annäherung an Damaskus eigene Interessen – kommerzielle, sicherheits- und geopolitische.
Deutschland und die EU sollten in ihrer Syrienpolitik sowohl die Debatte als auch die Dynamiken des Normalisierungsprozesses zwischen der arabischen Welt und Damaskus berücksichtigen, wobei die Beweggründe der Beteiligten nicht außer Acht gelassen werden dürfen. Die deutsche und europäische Syrienpolitik setzt weiterhin, gemeinsam mit den USA, auf eine Verhaltensänderung Damaskus’ mittels politischer und wirtschaftlicher Isolation. Dabei sollte sie die von den Autoren und Autorinnen dargelegten politischen und wirtschaftlichen Verflechtungen der Nachbarländer mit Syrien mitdenken, außerdem das destabilisierende Potenzial der Flüchtlingskrise für die Region. Als Denkanstoß sollte Berlin und Brüssel das kritische Licht dienen, das die Beiträge auf die Inkohärenz der Syrienpolitik Europas und der USA werfen wie auch auf die ihrer Nahostpolitik zugrunde liegenden Prämissen.
Hervorzuheben sind die Appelle einiger arabischer Autorinnen und Autoren, die sich für zwei Dinge aussprechen: mehr Teilhabe arabischer Länder an den Friedensverhandlungen für Syrien, mehr Selbstbestimmung arabischer Länder in der Gestaltung ihrer Beziehungen mit Damaskus. In der Debatte erscheinen die VAE und Ägypten als die zentralen arabischen Akteure, die den Kurs der Normalisierung der arabischen Staaten mit Syrien beeinflussen können. Zwar müssen sich Deutschland und die EU bewusst sein, dass Abu Dhabi und Kairo, unterstützt von Moskau, bereit sind, die westliche Politik der Isolation des syrischen Regimes zu untergraben – zwecks einer konstruktiven Gestaltung des Normalisierungsprozesses müssen Berlin und Brüssel dennoch den Dialog mit ihnen suchen.
Besprochene Publikationen
Abdullah, Albaraa, »Cairo Keeps Itself Front and Center in Syria Negotiations«, in: Al‑Monitor, 27.2.2019.
Alami, Mona, »Lebanon’s Fate Appears to Be Irreversibly Tied to Syria«, Washington, D. C.: The Atlantic Council, 21.7.2020 (Blog).
Alkoutami, Sandy / Khulood Fahim, Revived by Disease, Washington, D. C.: Carnegie Endowment for International Peace, 11.5.2020 (Diwan).
Al Yafai, Faisal, »Middle Eastern Nations Must Decide for Themselves How to Engage with Syria«, in: The National, 21.5.2019 (Comment).
Bakeer, Ali Hussein / Giorgio Cafiero, »Bashar al-Assad and the Greater Arab World«, Washington, D. C.: The Atlantic Council, 8.2.2019 (Blog).
Bani Salameh, Mohammed / Ayman Hayajneh, »The End of the Syrian Civil War. How Jordan Can Cope«, in: Middle East Quarterly, 26 (Summer 2019) 3.
Bartenev, Vladimir, The Syrian Azimuth of Gulf Talks: Is the Wind of Change Losing Power?, Moskau: Valdai Discussion Club, 12.3.2019 (Expert Opinion).
Byman, Daniel L., »Can Syria Return to the Regional Stage?«, Washington, D. C.: Brookings Institution, 28.2.2019 (Order from Chaos).
Cafiero, Giorgio, »Can Arab Gulf States Neutralize Iranian Influence in Syria?«, in: Inside Arabia, 11.3.2019.
Choucair, Chafic, Lubnan ma ba‘da infijar Bairut: tahadiyyat al-nuhud wa darurat al-tawafuq [Libanon nach der Explosion von Beirut: Herausforderungen des Wiederaufbaus und Notwendigkeiten des Konsenses], Doha: Al Jazeera Centre for Studies, 13.8.2020 (Report).
Daher, Joseph, The Dynamics and Evolution of UAE–Syria Relations: Between Expectations and Obstacles, Florenz: European University Institute (EUI), 25.10.2019 (Research Project Report 2019/14).
El-Halabi, Bachar, »Syria’s Reconstruction: Risks and Benefits for Lebanon and Jordan«, in: Eugenio Dacrema / Valeria Talbot (Hg.), Rebuilding Syria. The Middle East’s New Power Game?, Mailand: Istituto per gli Studi di Politica Internazionale (ISPI), 20.9.2019, S. 95–116.
Harb, Imad K., The Trickiness of Syria’s Return to the Arab League, Washington, D. C.: Arab Center Washington DC, 29.3.2019 (Policy Analysis).
Harmoon Center for Contemporary Studies, Al-mahamma al-sa‘ba: I‘adat ta‘hil al-nizam al-suri ‘arabiyyan [Eine schwierige Aufgabe: Die Rehabilitierung des syrischen Regimes in der arabischen Welt], Doha / Istanbul, 4.3.2019 (Political Analysis).
Majid, Ziyad, Afaq al-tatbi‘ al-‘arabi al-murtabik ma‘a al-nizam al-suri [Die Aussichten der vertrackten arabischen Normalisierung mit dem syrischen Regime], Doha: Al Jazeera Centre for Studies, 6.2.2019 (Report).
Oweis, Khaled Yacoub, »Coronavirus: Syrian Regime Sees Pandemic as Blessing in Disguise«, in: The National, 9.4.2020.
Shmeleva, Tatyana, The Odds of Syria’s Return to the Arab League: Opportunities and Threats, Moskau: Russian International Affairs Council (RIAC), 9.4.2019 (Article).
Zisser, Eyal, »The End of the Syrian Civil War. The Many Implications«, in: Middle East Quarterly, 26 (Summer 2019) 3.
Sarah Charlotte Henkel, M. A. ist Programm-Managerin im Brüsseler Büro der SWP.
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ISSN 1611-6380
doi: 10.18449/2020ZS01