Jump directly to page content

Die schwierige Normalisierung der Beziehungen arabischer Staaten mit Bashar al‑Assad

Aus internationalen Fachzeitschriften, Think-Tank-Publikationen und arabischen Nachrichtenmedien 2019–2020

SWP-Zeitschriftenschau 2020/ZS 01, 16.10.2020, 8 Pages

doi:10.18449/2020ZS01

Research Areas

Während der syrische Bürgerkrieg zugunsten des Regimes von Präsident Bashar al‑Assad entschieden scheint, haben der Prozess und die Debatte über die Normalisierung der Beziehungen arabischer Länder mit Syrien und dessen mögliche Wieder­eingliederung in die Arabische Liga (AL) bereits begonnen. Eine Rück­kehr zur diplo­ma­tischen Nor­ma­lität würde die Legitimität des syrischen Regimes stärken. Dies würde dem Bestreben Deutschlands und der Europäischen Union (EU) entgegen­wirken, die gemeinsam mit den USA das syrische Regime mittels Sanktionen und Isolation zur Verhandlung einer politischen Lösung des Konfliktes bewegen wollen. Neben der Diskussion über die frag­liche Rückkehr Syriens in die AL besprechen die hier vorgestellten Beiträge die Beweggründe arabischer Länder, ihre Beziehungen mit Damaskus zu normalisieren, sowie den Einfluss externer Akteure und der Corona-Pandemie auf diesen Prozess.

Über den von Russland und dem Iran her­bei­geführten militärischen Sieg des Assad-Regimes hinaus ist dessen Legitimierung, besonders durch die arabische Welt, wesent­lich, um seine Autorität zu festigen und das Land wieder aufzubauen. Die Debatte rund um die Wieder­annäherung arabischer Staaten an Damas­kus ist kontrovers. Einer­seits unterstützte die Mehrheit der Länder zu Beginn des Bürgerkriegs die Gegner Assads. Zudem hat dessen kompromissloser Krieg die Nachbarn massiv destabilisiert, vor allem Jordanien und den Libanon. Andererseits war Syrien zu keinem Zeit­punkt des Bürgerkriegs völlig isoliert – auch nicht nach seinem Ausschluss aus der AL im November 2011. Die Maghreb-Staaten, der Irak und der Oman beispielsweise ver­hielten sich der syrischen Regie­rung gegen­über eher neut­ral. Darüber hinaus signali­sierte die Inter­vention Russ­lands bereits 2015 den Fort­bestand der Regie­rung Assad. Seitdem wird die Diskus­sion über die Nor­ma­lisierung der Beziehungen arabischer Länder zum Assad-Regime durch verschiedene Ereignisse be­schleunigt: erstens die Wieder­eröffnung der Bot­schaften der Ver­einigten Arabischen Emi­rate (VAE) und Bahrains in Damaskus im Dezember 2018, zweitens die von Tune­sien, Algerien und vermutlich Ägypten vorangetriebene, jedoch fehlgeschlagene Wiederaufnahme Syriens in die AL im März 2019, drittens die Wiedereinsetzung des omanischen Bot­schafters in Damaskus am 4. Oktober 2020.

Diese Zeitschriftenschau widmet sich dieser Diskussion mit besonderem Fokus auf Jordanien und den Libanon, die keine Konfliktparteien, aber stark vom syrischen Bürgerkrieg betroffen sind. Daneben beleuch­tet sie jene Staaten, die durch ihr reges Engagement und ihre deut­liche Posi­tionierung zur Normalisierung der Bezie­hungen eine Meinungsführerrolle ein­genommen haben: die VAE und Ägypten. Herangezogen werden Analysen arabischer, amerikanischer, europäischer und russi­scher Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die zwischen 2019 und 2020 bei arabischen und internationalen Think-Tanks, in Fachzeitschriften und arabischen Nachrichtenmedien erschienen sind.

Trend zur Normalisierung

In der vorherrschenden Debatte über die Wiederaufnahme Syriens in die AL wird oft der fehlende regionale Konsens für solch eine institutionalisierte Wiedereingliederung thematisiert. Selbst wenn einige Bei­träge an die arabischen Länder appellieren, Damaskus nicht entgegenzukommen, wird gleichermaßen Kritik am Zustand der Orga­nisation und ihrer immer autoritärer ge­führ­ten Mitgliedsländer laut. Andere Stim­men vermuten gar, Damaskus könnte diese Gemengelage zum eigenen Vorteil nutzen.

In einem Beitrag für den Atlantic Council legen die Nahost-Analysten Ali Hussein Bakeer und Giorgio Cafiero dar, dass trotz eines Trends in den arabischen Ländern, ihre Beziehungen mit Syrien zu normali­sieren, die Frage nach Assads Legitimität die Region zutiefst polarisiere. Die VAE, Bahrain, der Irak und die Staaten Nord­afrikas forderten und förderten sowohl die Wiederaufnahme bilateraler Beziehungen als auch die Rückkehr Syriens in die AL. Auch die Beziehungen zum Nachbarn Jordanien verbesserten sich stetig. Saudi-Arabien und Ägypten hingegen verwiesen auf die Notwendigkeit einer politischen Lösung des Bürgerkriegs und nur Katar lehne eine Normalisierung der Beziehungen mit Damaskus kategorisch ab.

Imad K. Harb, Leiter des Arab Center Washington DC, einer mit dem Arab Center for Research and Policy Studies in Doha affiliierten Forschungseinrichtung, schreibt, ironischer­weise seien es die Meinungsverschieden­heiten zwischen den arabischen Ländern, die sie vor dem törichten Fehler bewahrten, Syrien vorschnell wieder in die AL aufzu­neh­men. Die arabische Welt müsse ein Min­destmaß an Ehrlichkeit beweisen und die Erneuerung von Beziehungen zu Assads Regierung an die Bedingung knüpfen, dass Letztere für ihre Straftaten büße und einen politischen Prozess einleite. Allerdings seien die meisten arabischen Regierungen selbst autoritär und sähen mittlerweile gern davon ab, eine demokratische Transition in Syrien einzufordern.

Das Harmoon Center for Contemporary Studies, ein in Doha und Istanbul ansässiges, mit dem oben genannten Arab Center in Doha assoziiertes Forschungs-, Kultur- und Medieninstitut, hält es für unwahrscheinlich, dass die arabischen Länder dem syri­schen Regime, seinen Methoden und seiner feindseligen Haltung ihnen gegenüber einen Freifahrtschein erteilten. Die wesent­lichen in Syrien engagierten arabischen Akteure hätten kein Interesse an einer tri­umphie­ren­den Rückkehr Syriens in die AL. Sie hätten ihre eigenen Prioritäten, Inter­essen und Konditionen, die Assad erfüllen müsse, bevor seine Regierung in den Genuss der Wiedereingliederung in die Region komme. Gleich­wohl diene den Regie­rungen der arabischen Staaten die Normalisierung mit Assad als jüngster Beweis dafür, dass die Aufstände ihrer eigenen Bevölkerungen vergeb­lich seien. Die AL sei seit ihrer erfolg­losen Ini­tia­tive zur Schlichtung des syri­schen Bürgerkriegs von 2011 gelähmt. Ihre Politik reflek­tiere seit­dem vor allem die Divergenzen ihrer Mit­glieder. Dennoch nutze die Organi­sation den arabischen Macht­habern kollek­tiv für die Legitimierung ihrer Herrschaft.

Tatyana Shmeleva, Nahostforscherin am Russian International Affairs Council (RIAC), einem regierungsnahen Think-Tank, meint, den Mitgliedern der AL stehe es nicht zu, Syrien eine Lektion in Sachen Demokratie und Menschenrechte zu erteilen. Syrien sei nicht auf die AL ange­wiesen und könne es sich leisten, auf günstigere regio­nale Rahmen­bedingungen für einen Wieder­beitritt zu warten.

Auch Daniel L. Byman vom Center for Middle East Policy der den US-Demokraten nahe­stehen­den Brookings Institution sieht Damas­kus in einer Position der Stärke gegenüber der arabischen Welt und dem Westen. Aus Furcht vor anhaltender In­stabilität, beson­ders an den Grenzen, such­ten die Nachbarländer den Kontakt zum Assad-Regime, wenn auch nicht öffent­lich. Das syrische Regime könne die Rücknahme syrischer Geflüchteter an die Bedingung finanzieller Unterstützung und struktu­rierter Zusammen­arbeit mit seinen Nach­barn und der EU knüpfen. Auch ein von Damaskus bewusst gesteuertes, begrenz­tes Terrorismusproblem könne der syrischen Regierung helfen euro­päische und amerikanische Unterstützung zu erhalten und sich als Teil der Koalition gegen den Terror zu präsentieren. Zu diesem Zweck könne Assad wie zu Beginn des Bürgerkriegs Jiha­disten des »Islamischen Staates« aus Gefängnissen entlassen, um potenziellen Kooperationspartnern gegen­über Druck aufzubauen.

Divergierende Beweggründe

Die Diskussion über die Beweggründe für die angestrebte Normalisierung des Ver­hältnisses zu Syrien zeigt eine komplexe Gemenge­lage auf. Für Jordanien und den Libanon seien wirtschaftliche und innen­politische Interessen entscheidend sowie der Umstand, dass sie vom syrischen Bürger­krieg stark betroffen sind. Die Beweggründe der VAE und Ägyptens werden dagegen erklärt mit wirtschaft­lichen und sicherheitspolitischen Interessen sowie geopolitischer Rivalität gegenüber dem Iran und der Türkei.

In einem Beitrag für die Sammelstudie »Rebuilding Syria« des Istituto per gli Studi Politica Internazionale (ISPI) in Mailand schreibt der libanesische Nahost-Analyst Bachar El-Halabi, dass die drängenden öko­nomischen Bedürfnisse des Libanon und Jor­daniens die Länder zur Offenheit gegen­über Damaskus nötigten. Beide Länder müssten mittelfristig das wirtschaftliche Potenzial des Wiederaufbaus Syriens aus­schöpfen und ihre stra­te­gisch und logistisch günstige Lage nutzen, selbst wenn der poli­tische Preis dafür mög­licherweise zu hoch sei. Im Libanon habe die Wiederannäherung an Damaskus indes auch einen innenpolitischen Treiber: Wegen des stetigen Erstarkens der mit dem Assad-Regime verbündeten Hisbollah habe sich der Diskurs schrittweise zugunsten der Wiederaufnahme der Beziehungen mit dem Nachbarn ent­wickelt. Die Belastung durch eine Mil­lio­n syri­scher Geflüchteter im Land mit dem weltweit größten Flüchtlinge-pro-Einwohner-Verhältnis habe sogar im Anti-Assad-Lager im Libanon teilweise für Bereit­schaft gesorgt, mit Damaskus ins Gespräch zu kommen. Die Rückführung von Geflüch­teten habe auch für Jordanien Priorität in seinen Bezie­hungen zu Syrien. Da Jordaniens angeschlagene Wirtschaft zusätzlich unter den mehrjährigen Grenz­schließungen zum Irak und zu Syrien leidet, sei ebenso die Wie­der­eröffnung von Grenzübergängen ein zentraler Grund für den Austausch mit Damaskus, etwa des Nassib-Jaber-Über­gangs im Oktober 2018, den vormals 17 Pro­zent aller jordanischen Exporte überquerten.

Mohammed Bani Salameh und Ayman Hayajneh von der Yarmouk University in Irbid, Jordanien, betrachten in ihrem Arti­kel im Middle East Quarterly, einer Zeitschrift des Middle East Forum mit Sitz in Philadelphia, USA, die Situation in Jordanien. Sie betonen, das Land werde aufgrund seiner sozioökonomischen und politischen Prob­leme, die die Flüchtlingskrise weiter ver­schärften, immer abhängiger von der Ent­wicklungshilfe der USA, der EU und der Golfstaaten. Dies schränke den außenpolitischen Spielraum Ammans erheblich ein. Einerseits müsse Jordanien der Forderung seiner Geldgeber nachkommen, sich gegen Assad zu positionieren. Andererseits habe Amman seine eigenen Sorgen, was die syrischen Aufstände und die syrische Op­posi­tion betreffe. Immer schwieriger werde Ammans Drahtseilakt, diese komplexen und oft­mals widersprüchlichen innenpolitischen, regionalen und internationalen Interessen in Bezug auf Syrien in einem kohärenten Ansatz zu vereinbaren.

Die französisch-libanesische Journalistin Mona Alami schreibt in einem Beitrag für den Atlantic Council, dass die Hisbollah und ihre Verbündeten den Libanon als Plattform zur Unterstützung Assads ausnutzten. Dies trage maßgeblich zum Kollaps des Landes bei und mache die Entwicklung des Libanon zu­sehends vom Schicksal Syriens abhängig. Die mili­tä­rische Beteiligung der Hisbollah am syri­schen Bürgerkrieg ent­gegen dem Beschluss der libanesischen Regierung von 2012, sich von Assad und dem Konflikt zu distanzieren, mache den Libanon zum Paria­staat und ent­ferne ihn von seinen arabischen und west­lichen Partnern. Trotz der ekla­tanten Staatsverschuldung des Libanon und schwindender Währungsreserven sorge die Hisbollah gemeinsam mit anderen prosyrischen Parteien dafür, dass Syrien weiterhin mit subventionierten Lebensmitteln und Öl versorgt werde. Durch die Ko­operation mit Damaskus werde Beirut nicht nur auf die Hilfe der Golfstaaten und der USA zur Bewältigung der Wirtschafts- und Finanzkrise verzichten müssen, son­dern riskiere, von US-Sanktionen im Rahmen des Caesar Act getroffen zu werden.

Chafic Choucair, Forscher libanesischer Herkunft am Al Jazeera Centre for Studies in Doha, kommt zu dem Schluss, dass neben der Umsetzung von Wirtschaftsreformen und einem neuen Gesellschaftsvertrag vor allem die Loslösung Beiruts von Syrien und dem Iran Voraussetzung dafür sei, den Libanon vor dem Kollaps zu bewahren. Die Explosion im Hafen von Beirut und die mögliche direkte oder indirekte Verwicklung der Hisbollah in den Vorfall vertieften die gesellschaftliche Spaltung zwischen den­jenigen, die eine führende Rolle der Hisbollah sowie Beiruts Verbund mit Damaskus befürworteten, und denjenigen, die sich für die Entwaffnung der Miliz und enge Bezie­hungen mit Saudi-Arabien und dem Westen einsetzten. Die Bildung einer liba­ne­sischen Einheitsregierung sei essenziell, um die Spaltung des Landes und seine multiplen Krisen zu überwinden. Dies setze einen regionalen und internationalen Konsens, auch mit dem Iran, über die Neutralisierung des Libanon voraus und müsse den Rückzug der Hisbollah ins In­land bedeuten. Schlage dies fehl, könne der Libanon neben Syrien in weitere regio­nale Konflikte verstrickt werden.

Damit der Einfluss des Iran in der Region sich nicht noch mehr ausweitet, bemühten sich die VAE und Bahrain progressiv um engere Beziehungen mit Assads Regierung, schreibt Giorgio Cafiero, Gründer von Gulf State Analytics, in Inside Arabia, einem ara­bisch-amerikanischen Online-Nachrichten­magazin aus Washington D. C. Die zwei Golf­staaten beabsichtigten mit ihrer Annähe­rung an Damaskus, Syriens Platz in der sunnitischen arabischen Welt zu festigen. Allerdings gebe es bisher keine Anzeichen dafür, dass Assad sich von Teheran lösen wolle. Dennoch könnten die Golfmonarchien Damaskus zwei wichtige Dienste er­weisen, die weder der Iran noch Russland erbringen könnten: die Golfstaaten könn­ten sich beim Wiederaufbau Syriens finan­ziell engagieren und die Wiederannäherung Syriens an die USA und die EU fördern. Das Ver­mächtnis des Irakkriegs von 2003, in dessen Folge die arabische Welt dem irani­schen Einfluss ausgesetzt wurde, sei ein starker Beweggrund für Abu Dhabi, die Hand in Richtung Damaskus auszustrecken.

Joseph Daher, schweizerisch-syrischer Assoziierter Professor am European University Institute (EUI) in Florenz, widerspricht dem in einer Studie für das Projekt Wartime and Post-Conflict in Syria. Es sei irreführend zu denken, dass die Normalisierung der Bezie­hungen der VAE mit Assad auf Abu Dhabis Streben beruhe, den Iran und die Türkei aus Syrien zu verdrängen. Vielmehr sei die Annäherung der VAE an Damaskus begrün­det in regionalen politischen Ent­wick­lun­gen, der damit einhergehenden Ver­schie­bung der außenpolitischen Prio­ritäten Abu Dhabis sowie in wirtschaftlichen Interessen. 2011 und 2012 seien die VAE ihren Part­nern des Golf-Kooperations­rates (GKR) gefolgt in der Verurteilung Assads und der Unterstützung der Opposition. Informell seien diplomatische und wirtschaftliche Kanäle mit Damaskus jedoch offen geblie­ben und die VAE hätten syrischen Regimevertretern Unterschlupf gewährt. Die Abwesenheit der VAE in Syrien zwischen 2015 und 2018 sei den konkurrierenden außenpolitischen Prio­ritäten Abu Dhabis in Libyen und im Jemen sowie dem Boykott Katars seit 2017 geschul­det gewesen. Das beidseitige Interesse, wirt­schaft­liche Bezie­hungen wiederzubeleben, habe einen großen Stellenwert beim Rapprochement zwischen Syrien und den VAE. Letztere hätten lukrative Aufträge in den Bereichen Immobilien, Luxus-Projekte, Transport und Handel in Aussicht – Sektoren, in denen die VAE als größter arabischer Investor vor 2011 sehr präsent waren. Der syrische Bürgerkrieg habe eine neue, regimeloyale wirtschaftliche Elite hervorgebracht. Die zuvor als Vermittler fungierende syrische kaufmännische Diaspora in den VAE habe ihr Netzwerk in Damaskus verloren. Somit seien ausländische Investi­tionen in Syrien unmittelbar an Verbindungen zum Assad-Regime geknüpft.

Auch für Ägypten seien wirtschaftliche Interessen, besonders im Zusammenhang mit dem syrischen Wiederaufbau, ein Beweggrund zur Kontaktaufnahme mit Damaskus, schreibt der ägyptische Journa­list Albaraa Abdullah auf der arabisch-amerikanischen Nachrichtenseite Al‑Moni­tor. In erster Linie sei Kairo aber die Stabi­lität Ägyptens wichtig. Der ägyptische Präsident al‑Sisi, selbst Militär, unterstütze die syri­sche Armee, weil er die Integrität Syriens als wesentlich für die Sicherheit und Stabi­lität Ägyptens betrachte. [Dabei geht es schwerpunktmäßig um die regionale Be­kämp­fung islamistischer Gruppen; d. Verf.] Da Ägypten keine Kriegs­partei in Syrien sei, Kontakte sowohl zum Regime als auch zu Teilen der syrischen Opposition pflege und in der Vergangenheit bereits einen Waffen­stillstand zwischen oppositionellen syri­schen Fraktionen herbeigeführt habe, sei Kairo der am besten geeignete Vermittler zwischen Syrien, den Ländern der Region und der internationalen Gemeinschaft.

Großmächte und arabische Interessen

Internationale Kommentatorinnen und Kommentatoren sind sich einig darüber, dass Russland für die arabische Welt die relevante Ordnungsmacht geworden sei. Nichtsdestotrotz überwiege das Drohpotenzial US-amerikanischer und europäischer Sanktionen und verhindere die Normalisierung der Beziehungen der arabischen Welt mit dem syrischen Regime. Nichtwestliche Beobachter und Beobachterinnen kritisieren, die USA und Europa wollten mit ihrer Politik der Isolation Syriens ihre Untätigkeit während des syrischen Bürgerkriegs und den Misserfolg ihrer Demokratisierungs­politik in der Region übertünchen.

Der aus dem Libanon stammende Ziyad Majid, Professor für Nahoststudien an der American University in Paris, schreibt in einem Artikel für das Al Jazeera Centre for Studies aus Doha, die Entscheidung der ara­bischen Länder, nach ihrer ursprüng­lichen Ablehnung des syrischen Regimes nun die Normalisierung der Beziehungen mit Damaskus zu suchen, kennzeichne eine neue Phase im Syrienkonflikt. Washington habe mit seiner zurückhaltenden Politik gegenüber dem syrischen Regime, selbst als dieses Chemiewaffen einsetzte, der arabi­schen Welt deutlich signalisiert, dass es trotz anfänglicher Mobilisierung gegen Assad nicht daran interessiert gewesen sei, ihn zu stürzen. Russ­land habe darauf­hin mit seiner Intervention 2015 den Fortbestand des syri­schen Regimes zemen­tiert und unter ande­rem im Rahmen des Astana-Pro­zesses neue Fakten vor Ort geschaffen. Die Duldung dieses neuen Status quo durch westliche und arabische Hauptstädte habe, beflügelt durch den Kreml, den Weg zur Wieder­aufnahme des Kontakts einiger ara­bischer Staaten mit Damaskus geebnet. Dass sich dem tatkräftigen Vorstoß der VAE zu­nächst keine weiteren arabischen Länder anschlossen, sei den amerikanischen und europäischen Sanktionen zuzuschreiben. Maß­gebliche Gründe für die meisten arabi­schen Länder, keine weiteren Risiken bei der An­näherung an Assad einzugehen, seien der Umfang dieser Sanktionen, der unbe­rechen­bare Kurs Washingtons gegen­über dem Iran und die unabsehbaren Folgen eines end­gültigen Rückzugs der USA aus Syrien.

Dies bestätigt Vladimir Bartenev, Direktor des Centre for Security and Development Studies (CSDS) der Lomonosov Moscow State University, in einem Beitrag für Valdai Discussion Club. Russland habe gehofft, dass sich das von den Golfmonarchien geförderte, gute regionale Klima gegenüber Syrien festigen würde. Allerdings habe Washingtons Einwirken auf Abu Dhabi und Riad mit dem Ziel, deren Annäherung mit Damas­kus einzudämmen, derzeit größeren Ein­fluss auf das Handeln der Golfstaaten als deren wachsende Kooperation mit Moskau. Indes sporne dies die russische Diplomatie erst recht an – und an dessen Kompass orientiere sich das syrische Regime.

Der bereits genannte Artikel von Tatyana Shmeleva vom Russian International Affairs Council steht ebenfalls stellvertretend für die russische Perspektive, die die west­liche Politik der Isolation Syriens zwar als mäch­tig, aber grundfalsch ansieht. Die Auto­rin erläutert, dass der Westen die Re­integration Syriens in die Region verhindere, da die Legitimierung der syrischen Regierung durch arabi­sche Länder das Scheitern seiner Politik in Syrien und gleichzeitig die Effek­tivität der russischen Politik in der Region offenbare.

Weniger parteiisch, wenn auch ähnlich kritisch, formuliert es Eyal Zisser, Vize­rektor der Universität Tel Aviv, in einem Arti­kel im Middle East Quarterly: Die Syrien­politik des Westens (hier der USA) und die damit einhergehende Isolierung des Assad-Regimes sei immer noch von dem Irrglauben geleitet, der Nahe Osten könne demo­kra­tisiert werden. Assads brutales Vorgehen gegen die eigene Bevöl­ke­rung und sein Bündnis mit Moskau und Teheran habe dieses Ziel endgültig begraben und das Ende der Pax Americana in der Region ein­geläutet. Russland gehe aus diesem Konflikt als wahrer Gewinner hervor und könne seine verlorene Stellung als stärkste auslän­dische Macht im Nahen Osten wieder besetzen.

Der Journalist und Essayist Faisal Al Yafai spricht sich in einem Beitrag für die englischsprachige Tages­zeitung The National, die in Abu Dhabi erscheint, dagegen aus, dass die USA und Russland auf das Verhältnis arabischer Staaten zu Syrien Einfluss nehmen. Indem Russland auf die Wiedereingliederung Syriens in die arabische Welt dränge, beabsichtige es die Golfstaaten als Financiers für den kost­spieligen Wiederaufbau Syriens zu gewin­nen; dessen Kurs werde Moskau mittel- bis lang­fristig mitlenken. Die USA ächteten zwar richtiger­weise das Regime, bestraften mit ihren Sank­tionen aber auch die Zivil­bevölkerung und ermutigten Damaskus, die Re­gion weiter zu destabilisieren. Die Posi­tio­nen der USA und der arabischen Länder seien dia­metral ent­gegengesetzt: Die USA seien über­zeugt, die Isolierung Assads werde ihn früher oder später dazu zwingen, seine Alli­anz mit dem Iran auf­zugeben; aus ara­bi­scher Per­spektive treibe gerade diese Aus­grenzung Syrien in die Arme Russlands und des Iran. Weder die USA noch Russland wür­den dazu beitragen können, die Lage der Syrerinnen und Syrer im In- und Aus­land zu verbessern. Daher sei es höchste Zeit, dass die arabischen Länder die Ent­schei­dung über ihr Verhältnis zu Syrien in ihrem eigenen Interesse fällten.

Die Covid‑19-Pandemie

Verschiedene Beiträge über die Auswirkungen der Corona-Pandemie in Nahost zeigen auf, dass die Krise die Normalisierung di­plo­matischer Beziehungen arabischer Länder mit Damaskus zu begünstigen scheint.

Beispielhaft dafür ist ein Artikel von Sandy Alkoutami und Khulood Fahim, zwei James C. Gaither Junior Fellows syrisch-amerikanischer bzw. ägyptischer Herkunft beim Carnegie Endowment for International Peace in Washington D. C. Sie schreiben, Länder wie Jordanien, die VAE, Ägypten und Bahrain nutzten den Ausnahme­zustand der Pandemie, um die Erneuerung ihrer Beziehungen mit dem syrischen Re­gime zu rechtfertigen. Dies trage zur schritt­weisen Akzeptanz Assads in der Region wie auch international bei. Beson­ders die Gesten des Kronprinzen der VAE, Muhammad Bin Zayid, könnten die regionale Wiedereingliederung Syriens vorantreiben: Er habe betont, die humanitären Herausforderungen der Pandemie rückten etwaige poli­tische Diffe­renzen vorerst in den Hinter­grund. Auch Moskau komme die Krise sehr gelegen in seinem Streben, Assads Regierung regional und international zu reha­bilitieren. Präsi­dent Putin be­stehe darauf, dass Maßnahmen zur Krisen­bewältigung und etwaige Hilfslieferungen an Syrien einzig und allein vom Regime in Damaskus verwaltet würden. Die Vereinten Nationen hätten währenddessen gefordert, die Sanktionen gegen Syrien im Kontext der Pandemie zu lockern.

Khaled Yacoub Oweis, jordanischer Jour­nalist und Nahost-Analyst, argumentiert in einem Artikel für The National, dass das syri­sche Regime die Krise gezielt aus­nutze, um die Sanktionspolitik der USA und der EU für die Notlage im eigenen Land verantwort­lich zu machen. Das syrische Regime versuche in die AL zurückzukehren und beteuere des­halb seine Unabhängigkeit vom Iran; daher propagiere Assad, das Virus sei von schiiti­schen Pilgern aus den Nachbar­ländern ins Land getragen worden, nicht etwa, wie ver­mutet, von in Syrien stationierten Milizen, die unter dem Befehl Teherans stehen.

Fazit

Die Debatte zeigt einen Trend hin zur bi­lateralen Normalisierung der Beziehungen einiger arabischer Länder mit Assads Regie­rung. Die besprochenen Beiträge stellen dar, wie der fehlende regionale Konsens über die Wiederaufnahme Syriens in die AL sowie die Isolation Syriens durch die USA und die EU verhindern, dass die Norma­lisierung der Beziehungen der ara­bischen Staaten mit Damaskus fortschreitet. Zwar begrüßen die Autorinnen und Auto­ren Letzteres in der Regel, stellen jedoch auch heraus, dass die Umsetzung der Politik Europas und der USA gegenüber Syrien Auswir­kun­gen auf die Nachbarländer hat – steht sie doch deren wirtschaft­lichen, innen- und sicherheitspolitischen Anliegen entgegen. Ferner übergeht sie die Nöte, die die Koope­ration von Ländern wie Jordanien und dem Liba­non mit Damaskus teilweise begründen.

Gleichzeitig verdeutlichen die Beiträge: Die fehlende Einigkeit der arabischen Länder und die Lähmung der AL unterbinden die Formu­lierung und Durchsetzung gemeinsamer arabischer Interessen hin­sichtlich des Umgangs mit Syrien. Die Meinungs­führer VAE und Ägypten verfolgen in ihrer Annähe­rung an Damaskus eigene Interessen – kom­merzielle, sicherheits- und geopolitische.

Deutschland und die EU sollten in ihrer Syrienpolitik sowohl die Debatte als auch die Dynamiken des Nor­malisierungs­prozesses zwischen der arabi­schen Welt und Damaskus berücksichtigen, wobei die Beweggründe der Beteiligten nicht außer Acht gelassen werden dürfen. Die deutsche und europäische Syrienpolitik setzt weiter­hin, gemeinsam mit den USA, auf eine Verhaltensänderung Damaskus’ mittels politischer und wirtschaftlicher Isolation. Dabei sollte sie die von den Autoren und Auto­rinnen dar­gelegten politischen und wirt­schaft­lichen Verflechtungen der Nach­barländer mit Syrien mitdenken, außerdem das destabilisierende Potenzial der Flücht­lingskrise für die Region. Als Denkanstoß sollte Berlin und Brüssel das kritische Licht dienen, das die Beiträge auf die Inkohärenz der Syrien­politik Europas und der USA werfen wie auch auf die ihrer Nahostpolitik zugrunde liegenden Prämissen.

Hervorzuheben sind die Appelle einiger arabischer Autorinnen und Autoren, die sich für zwei Dinge aussprechen: mehr Teil­habe arabischer Länder an den Friedens­ver­hand­lungen für Syrien, mehr Selbst­bestim­mung arabischer Länder in der Gestaltung ihrer Beziehungen mit Damaskus. In der Debatte erscheinen die VAE und Ägypten als die zentralen ara­bischen Akteure, die den Kurs der Normalisierung der arabischen Staaten mit Syrien beeinflussen kön­nen. Zwar müssen sich Deutschland und die EU be­wusst sein, dass Abu Dhabi und Kairo, unterstützt von Moskau, bereit sind, die westliche Poli­tik der Isola­tion des syrischen Regimes zu untergraben – zwecks einer konstruktiven Gestal­tung des Norma­li­sie­rungsprozesses müssen Berlin und Brüssel dennoch den Dialog mit ihnen suchen.

Besprochene Publikationen

Abdullah, Albaraa, »Cairo Keeps Itself Front and Center in Syria Negotiations«, in: Al­‑Monitor, 27.2.2019.

Alami, Mona, »Lebanon’s Fate Appears to Be Irreversibly Tied to Syria«, Washington, D. C.: The Atlantic Council, 21.7.2020 (Blog).

Alkoutami, Sandy / Khulood Fahim, Revived by Disease, Washington, D. C.: Carnegie Endowment for International Peace, 11.5.2020 (Diwan).

Al Yafai, Faisal, »Middle Eastern Nations Must Decide for Themselves How to Engage with Syria«, in: The National, 21.5.2019 (Comment).

Bakeer, Ali Hussein / Giorgio Cafiero, »Bashar al-Assad and the Greater Arab World«, Washington, D. C.: The Atlantic Council, 8.2.2019 (Blog).

Bani Salameh, Mohammed / Ayman Hayajneh, »The End of the Syrian Civil War. How Jordan Can Cope«, in: Middle East Quarterly, 26 (Summer 2019) 3.

Bartenev, Vladimir, The Syrian Azimuth of Gulf Talks: Is the Wind of Change Losing Power?, Moskau: Valdai Discussion Club, 12.3.2019 (Expert Opinion).

Byman, Daniel L., »Can Syria Return to the Re­gional Stage?«, Washington, D. C.: Brook­ings Institution, 28.2.2019 (Order from Chaos).

Cafiero, Giorgio, »Can Arab Gulf States Neutralize Iranian Influence in Syria?«, in: Inside Arabia, 11.3.2019.

Choucair, Chafic, Lubnan ma ba‘da infijar Bairut: tahadiyyat al-nuhud wa darurat al-tawafuq [Libanon nach der Explosion von Beirut: Herausforderungen des Wieder­aufbaus und Notwendigkeiten des Konsenses], Doha: Al Jazeera Centre for Studies, 13.8.2020 (Report).

Daher, Joseph, The Dynamics and Evolution of UAE–Syria Relations: Be­tween Expectations and Obstacles, Florenz: European University Institute (EUI), 25.10.2019 (Research Project Report 2019/14).

El-Halabi, Bachar, »Syria’s Reconstruction: Risks and Benefits for Lebanon and Jordan«, in: Eugenio Dacrema / Valeria Talbot (Hg.), Rebuilding Syria. The Middle East’s New Power Game?, Mailand: Istituto per gli Studi di Politica Internazionale (ISPI), 20.9.2019, S. 95–116.

Harb, Imad K., The Trickiness of Syria’s Return to the Arab League, Washington, D. C.: Arab Center Washington DC, 29.3.2019 (Policy Analysis).

Harmoon Center for Contemporary Studies, Al-mahamma al-sa‘ba: I‘adat ta‘hil al-nizam al-suri ‘arabiyyan [Eine schwierige Aufgabe: Die Rehabilitierung des syri­schen Regimes in der arabischen Welt], Doha / Istanbul, 4.3.2019 (Political Analysis).

Majid, Ziyad, Afaq al-tatbi‘ al-‘arabi al-murtabik ma‘a al-nizam al-suri [Die Aussichten der vertrackten arabischen Nor­malisierung mit dem syrischen Regime], Doha: Al Jazeera Centre for Studies, 6.2.2019 (Report).

Oweis, Khaled Yacoub, »Coronavirus: Syrian Regime Sees Pandemic as Blessing in Disguise«, in: The National, 9.4.2020.

Shmeleva, Tatyana, The Odds of Syria’s Return to the Arab League: Opportunities and Threats, Moskau: Russian International Affairs Council (RIAC), 9.4.2019 (Article).

Zisser, Eyal, »The End of the Syrian Civil War. The Many Implications«, in: Middle East Quarterly, 26 (Summer 2019) 3.

Sarah Charlotte Henkel, M. A. ist Programm-Managerin im Brüsseler Büro der SWP.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

SWP

Stiftung Wissenschaft und Politik

ISSN 1611-6380