Spätestens seitdem Russland nordkoreanische Artillerie und ballistische Raketen gegen die Ukraine eingesetzt hat, ist offensichtlich, dass Pjöngjang weit über Nordostasien hinaus Konflikte schürt. Die Qualität, mit der Nordkorea Europas Sicherheit und Stabilität mittelbar bedroht, ist dabei jedoch neu: Mit seinen Munitionslieferungen für Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten unterstützt Pjöngjang aktiv Russlands und Irans sicherheitspolitische Ziele. Nordkorea vergrößert damit seinen strategischen Wert für Moskau und Teheran. Dies ermöglicht es dem Land wiederum, seine Partnerschaften im Dienste seiner eigenen Interessen forciert auszubauen und gemeinsam seine überregionalen Netzwerke für Sanktionsbrüche und Schmuggel zu erweitern und abzusichern. Um Pjöngjangs Praktiken zu verstehen, Ansatzpunkte für Einwirkungsmöglichkeiten zu identifizieren und zu nutzen, braucht die EU mehr Informationen und internationale Zusammenarbeit.
Bis vor kurzem galt Nordkorea eher als regionale Sicherheitsbedrohung, seine nukleare Bewaffnung wurde hauptsächlich als ordnungspolitische Herausforderung betrachtet. Instabilität auf der koreanischen Halbinsel und das Risiko weiterer Proliferation stellen nach wie vor eine indirekte Gefahr für Europas Sicherheit dar, doch Pjöngjang hat sein Bedrohungspotential erweitert. Denn sein Nuklearwaffenprogramm bildet den Rahmen für einen gewaltigen Ausbau seiner rüstungspolitischen Beziehungen. Die geopolitische Gemengelage und die regionalen Kriege kommen für Nordkorea dabei zu einem günstigen Zeitpunkt. Pjöngjang kann seine erfolgreichen Raketenprogramme und seine großen Bestände an Artillerie und Munition nutzen, um Partnerschaften zu intensivieren und externe Ressourcen und externes Know-how für seine nukleare Modernisierung und die Erweiterung seiner militärischen Fähigkeiten zu gewinnen.
Art und Umfang von Nordkoreas Rüstungsdeals zu analysieren, ist jedoch äußerst schwierig: Es gibt kaum bestätigte Informationen und stichhaltige Berichte, dafür umso mehr Spekulationen. Hinzu kommt, dass Pjöngjang selbst durch Dementi und Propaganda Ungewissheiten und Worst-Case-Befürchtungen schürt.
Munition für Moskaus Abnutzungskrieg gegen Kyjiw
Artillerie und Raketen sind Moskaus effektivste Mittel, um die Ukraine auf lange Sicht zu zermürben. Russland hat hier deutliche quantitative Vorteile aufgrund eigener Bestände und eigener Produktion und dank bereitwilliger Lieferanten.
In Sachen Artillerie spielt Pjöngjang die entscheidende Lieferantenrolle. Schätzungen zufolge könnte Nordkorea in den letzten zwei Jahren bis zu 13.000 Container mit sechs Millionen Artilleriegeschossen an Russland exportiert haben. Dies würde bedeuten, dass Russland zusammen mit seiner eigenen Jahresproduktion (knapp 3 Millionen) jährlich 5,5 Millionen Artilleriegeschosse gegen die Ukraine einsetzen kann. Dieses selbstgesetzte Ziel Moskaus entspricht der Feuerkraft, die das russische Militär nach westlichen Berechnungen im Jahr 2022 genutzt hat (durchschnittlich 15.000 Geschosse täglich), um große Landstriche der Ukraine zu erobern und zu halten, und wäre deutlich höher als der momentane Durchschnitt von 10.000 pro Tag. Die Ukraine bräuchte für ihre Verteidigung jährlich circa eine Million Artilleriegeschosse – die USA und Europa produzieren zurzeit rund 1,2 Millionen pro Jahr.
Nordkorea nutzt wohl zunächst seine alten Bestände, um solche Volumen an Artilleriemunition zu exportieren – dies würde auch die Rate von bis zu 50 Prozent an Ausfällen und Fehlern erklären, die die Ukraine dokumentiert hat. Nach eigenen Angaben läuft Pjöngjangs Rüstungsindustrie jedoch derzeit auf Hochtouren. In Südkorea wird geschätzt, dass Nordkoreas Produktionsstätten zwei Millionen Artilleriegeschosse pro Jahr herstellen können.
Nordkorea lieferte auch circa 50 seiner modernsten Kurzstreckenraketen mitsamt Abschussfahrzeugen – deutlich weniger als die 400, die Moskau von Teheran erhalten haben soll. Mit diesen zusätzlichen Waffen füllt Russland seine Raketenbestände auf, um vermutlich die kritische Infrastruktur der Ukraine effektiver und kosteneffizienter zu zerstören. Zuvor hatte Moskau hierfür vor allem Drohnen mit deutlich weniger Feuerkraft und luftgestützte Marschflugkörper, deren Herstellung viel teurer ist, genutzt. Mit der Masse an preisgünstigeren Raketen aus Iran und Nordkorea könnte Russland die teils sehr erfolgreiche Luftabwehr der Ukraine quantitativ überfordern.
Wie viel Nordkorea an Russland liefern wird, ist schwer zu kalkulieren. Da die Raketenmodelle, die es abgegeben hat, auch als taktische Nuklearwaffen gegen Südkorea dienen können und daher essentiell für Pjöngjangs Abschreckungspolitik sind, müsste Nordkorea eigentlich seine Liefermengen begrenzt halten. Auffällig ist, dass Pjöngjang nicht seine großen Bestände an älteren Kurzstreckenraketen an Russland exportiert. Vermutlich gibt Nordkorea Moskaus Einkaufswünschen nach und lernt im Gegenzug aus dem Einsatz seiner modernen Systeme für seine eigenen Pläne.
Eine neue rüstungspolitische Win‑Win-Konstellation für Pjöngjang und Moskau
Nordkoreas Munitionslieferungen an Russland verschaffen dem Verhältnis beider Länder eine neue Qualität. Denn zuvor war es Moskau, das Pjöngjangs Rüstungspolitik indirekt unterstützte – jetzt kann Nordkorea selbst entscheidende Waffen anbieten und maßgebliche Gegenleistungen verlangen. Vor diesem Hintergrund hat Nordkorea wohl erreicht, dass der neue Partnerschaftsvertrag mit Moskau wieder eine militärische Beistandsklausel enthält – was Pjöngjang als Beweis einer Allianz mit Russland und so zur Machtprojektion nutzt.
Der Partnerschaftsvertrag verspricht zudem Kooperation in den Bereichen Kerntechnik und Satelliten- und Weltraumraketentechnologie, was tatsächlich plausible Gegenleistungen für die Munitionslieferungen wären. Denn so könnte Moskau Nordkorea bei dessen Ambitionen helfen, selbst mehr spaltbares Material (für Nuklearwaffen) zu produzieren und eigene Fähigkeiten für Aufklärung aufzubauen, und gleichzeitig argumentieren, dass es nach wie vor nicht (direkt) Pjöngjangs Nuklearwaffen- und Raketenprogramme unterstützt.
Doch der wichtigste Win-Win-Aspekt ihrer Partnerschaft ist wahrscheinlich die koordinierte Umgehung der Sanktionen, die gegen beide bestehen. Russland und Nordkorea benötigen externe Ressourcen wie Halbleiter für ihre Rüstungsindustrien. Beide würden daher davon profitieren, wenn sie ihre Geschäfte und Netzwerke gemeinsam ausbauen und absichern. Analysen von Überresten nordkoreanischer und russischer Raketen in der Ukraine zeigen, dass Moskau und Pjöngjang nach wie vor in der Lage sind, elektronische Komponenten international zu beschaffen.
Rüstungsdeals zwischen Pjöngjang und Teheran
Russland ist jedoch nicht der einzige Kunde Pjöngjangs. Nordkorea und Iran verbindet eine langjährige rüstungspolitische Partnerschaft mit kooperativen Zügen. Angesichts der Fortschritte und Erfolge ihrer jeweiligen Raketenprogramme ist jedoch unklar, ob Iran und Nordkorea nach wie vor so umfangreich auf dem Feld der Raketentechnologie zusammenarbeiten – doch bei gewissen Aspekten könnten beide Seiten noch immer voneinander profitieren.
Was den Bereich Raketen betrifft, könnte Pjöngjang Teheran beim Bau von Langstreckenraketen helfen– beispielsweise durch die Weitergabe der Motoren, mit denen Nordkorea seine neuesten Interkontinentalraketen und Weltraumraketen erfolgreich betreibt. Iran hat aber selbst bereits Weltraumraketen und braucht nach eigenen Angaben Raketen mit Reichweiten bis 2.000 Kilometer. Daneben wird spekuliert, dass Pjöngjang Teheran Motoren für Mittelstreckenraketen geliefert hat.
Interessant ist, dass Teheran seit dem Iran-Irak-Krieg keine nordkoreanischen Raketen, sondern nur noch, wie jüngst gegen Israel, seine eigenen einsetzt. Es gibt indes vereinzelte Berichte, dass die Hamas, die Hisbollah und die Huthi-Milizen auch Raketen und Munition nordkoreanischen Ursprungs nutzen. Es wäre plausibel, dass Teheran hier vermittelt und zusätzliche Munition für diese Milizen kauft, um seine eigenen Bestände nicht zu sehr zu belasten.
Auffällig ist, dass es bisher keine stichhaltigen Berichte über einen Austausch zwischen Pjöngjang und Teheran im Bereich Nukleartechnik gibt. Das Fehlen entsprechender Hinweise steht im Kontrast zu Nordkoreas bekannten Versuchen, vom Export nuklearer Fähigkeiten an Libyen, Pakistan, Syrien und auf Online-Marktplätzen zu profitieren. Sollte Iran ein Nuklearwaffenprogramm aufbauen wollen, könnten Pjöngjangs Fähigkeiten von Nutzen sein. Teheran kann schon jetzt selbst waffenfähiges spaltbares Material produzieren, doch Unterstützung, wie daraus nukleare Sprengköpfe zu bauen sind, wäre ein besonderer Vertrauensbeweis Nordkoreas.
Umgekehrt wäre für Pjöngjang iranische Hilfe in den Bereichen Drohnentechnik und Energieversorgung relevant. Anhaltspunkte für einen solchen Support gibt es jedoch nicht. Die Wahrscheinlichkeit dafür würde aber näherrücken, wenn Iran Nordkorea zum Beispiel im Gegenzug für die Lieferung von mehr Munition für die Hamas, die Hisbollah und die Huthis auf diese Weise entlohnen will. In der Zwischenzeit liegt es im Interesse beider Seiten, internationale Sanktionen zu umgehen und elektronische Komponenten für die jeweilige Rüstungsindustrie zu beschaffen.
Handlungsoptionen für Europa
Um die Art und Weise und das Ausmaß der indirekten Bedrohung von Europas Sicherheit und Stabilität durch Nordkorea zu verstehen, bedarf es intensiverer Analysen. Dies setzt jedoch intensivere Informationsbeschaffung und einen engeren Austausch darüber innerhalb der Nato und auch mit Partnern in Nahen Osten, Indo-Pazifik und Zentralasien voraus. Das neue Multilateral Sanctions Monitoring Team ist ein erster Schritt in diese Richtung, bedarf aber einer weitaus breiteren Beteiligung.
Eine detaillierte Problemanalyse ist notwendig, damit die EU und einzelne europäische Staaten eventuelle Ansatzhebel zur Einwirkung identifizieren können. Europa kann kaum verhindern, dass Nordkorea mit Russland und Iran kooperiert. Brüssel könnte aber Anreize für Drittstaaten, Banken und Unternehmen schaffen, die – wissentlich oder nicht – in Nordkoreas Geldwäsche, Waffengeschäfte und rüstungsindustrielle Beschaffungsaktivitäten verstrickt sind. Öffentliche Berichte hierüber können den Handlungsdruck erhöhen, doch müssten europäische Staaten und Partner hierfür eine neue, allseits zugängliche und systematische Informationsgrundlage schaffen, denn die Berichterstattung der Vereinten Nationen (VN) über Nordkoreas Sanktionsbrüche ist seit Mai 2024 und Russlands Veto im VN-Sicherheitsrat nicht mehr möglich. Zudem kann die EU ihre Dialoge, zum Beispiel die mit Staaten im Indo-Pazifik über Nonproliferation, in diesem Sinne nutzen. Ein direkterer Hebel wäre der Ausbau von Aufklärung und das Aufhalten verdächtiger Schiffe in internationalen Gewässern, doch bedürften solche proaktiven Maßnahmen größerer Anreize, um Nordkoreas Handel mit Waffen zu unterbrechen. Ein Ansatz in diese Richtung wäre es, Synergien zwischen maritimer Sicherheit und Nonproliferation zu identifizieren und entsprechenden Kapazitätsaufbau mit pazifischen Partnern zu betreiben.
Elisabeth Suh war bis Ende September 2024 Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Das Aktuell entstand im Rahmen des Projekts STAND (Strategic Threat Analysis and Nuclear (Dis-)Order).
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DOI: 10.18449/2024A53