Turnusgemäß hätte die 10. Überprüfungskonferenz des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrags (Treaty on the Nonproliferation of Nuclear Weapons, NPT) 2020 stattfinden sollen. Nachdem sie viermal verschoben worden war, trafen sich die 191 NPT-Staaten im August 2022. Dass sie sich dabei nicht auf ein Schlussdokument einigen konnten, war spätestens seit der russischen Invasion der Ukraine erwartet worden. Indes spielte die Streitfrage der atomaren Abrüstung überraschenderweise keine Rolle für das Scheitern der Konferenz – obwohl die Polarisierung hierüber seit Inkrafttreten des »Nuclear Ban Treaty« (Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons, TPNW) Anfang 2021 noch gewachsen war. Die nichtnuklearen NPT-Parteien machten größte Zugeständnisse, um die Konferenz keinesfalls scheitern zu lassen. Erst Russland torpedierte den Konsens. Dieser Verlauf zeigt, dass in einer angespannten Weltlage atomare Abrüstung als Anliegen für die Nichtkernwaffenstaaten weniger wichtig ist, als sie suggerieren. Dass die Stabilität des NPT nicht von Abrüstungsfortschritten abhängt, ist eine gute Nachricht. Für Deutschlands Nationale Sicherheitsstrategie (NSS) bedeutet dies, dass aus Gründen des NPT größere Rücksichtnahme auf TPNW-Verfechter nicht nötig ist.
Bei der Erarbeitung der Nationalen Sicherheitsstrategie muss die Bundesregierung die Frage beantworten, in welchem Zustand sich die Pfeiler der regelbasierten internationalen Ordnung befinden, auf der Deutschlands Sicherheit gründet. Falls deren Zustand kritisch ist, müsste Berlin versuchen gegenzusteuern. Der NPT ist einer dieser ordnungspolitischen Grundpfeiler. Oft ist zu hören, er sei in einer tiefen Krise und für viele Staaten nicht mehr zeitgemäß, ihm drohe der Kollaps. Gerade deshalb ist es für die NSS höchst relevant zu wissen, dass der NPT stabil ist – auch nach der erfolglosen Konferenz.
Stetig sinkende Erwartungen
Nach der gescheiterten 9. Überprüfungskonferenz (2015) vertiefte sich die Spaltung der NPT-Staaten über die nukleare Abrüstung. Innerhalb der »Humanitären Initiative« setzten sich jene Länder durch, die die Idee eines Vertrags zur Ächtung von Kernwaffen realisieren wollten, ohne die Atomwaffenstaaten einzubinden. Auch strikte Verifikationsregeln wollten sie dabei nicht zugestehen. Der 2017 geschlossene TPNW mit heute 68 Mitgliedstaaten verkörpert diese neue, kompromisslose Linie zur Abrüstungsfrage.
Parallel verhärteten sich die Fronten. Die fünf NPT-Kernwaffenstaaten (USA, Russland, China, Frankreich und Großbritannien) und die Nato-Staaten lehnten die Bemühungen um den TPNW immer resoluter ab: 2014 nahmen noch fast alle Nato-Länder an der letzten Konferenz der Humanitären Initiative teil, bei der TPNW-Aushandlung 2016–2017 waren von ihnen nur noch die Niederlande vertreten. Am Ende votierte Den Haag aber gegen den TPNW. Die Nato-Mitglieder stellten sich sofort geschlossen gegen den fertigen Vertrag, die NPT-Atomwaffenstaaten folgten 2018. Ende 2020 erneuerte die Nato ihre Ablehnung, kurz vor Inkrafttreten des TPNW.
Der Streit über den TPNW strahlte auf den NPT aus und vertiefte die alte Konfliktlinie zwischen dem Norden (bestehend aus den Kernwaffenstaaten und den Verbündeten der USA), der auf nukleare Abschreckung setzt, und dem nichtnuklearen Globalen Süden. Deshalb rechneten viele Fachleute damit, dass allen künftigen Überprüfungskonferenzen wegen der nötigen Einstimmigkeit sehr schwierige Verhandlungen bevorstünden, sofern keine größeren Abrüstungsfortschritte erzielt würden.
Der Krieg in der Ukraine begrub die letzten Hoffnungen auf eine konstruktive 10. Überprüfungskonferenz, denn Moskau verletzt elementare nukleare Normen: Eine Atommacht hat einen Nichtkernwaffenstaat angegriffen. Damit hat Russland neben der Charta der Vereinten Nationen auch die negativen Sicherheitsgarantien gebrochen, die es der Ukraine 1994 gegeben hatte, als diese ihre »geerbten« sowjetischen Nuklearwaffen abgab und dem NPT beitrat. Zudem versucht Moskau, seinen Angriffskrieg mit atomaren Drohungen abzuschirmen. Angesichts dieser Tatsachen schien es unrealistisch zu erwarten, dass entweder der Westen diese Normverstöße auf der Überprüfungskonferenz ignorieren oder dass der Kreml ein Dokument absegnen würde, das russische Völkerrechtsbrüche auflistet.
Im Juni 2022 trafen sich die TPNW-Staaten in Wien zu ihrer ersten Konferenz. Dort wurden aber nicht »die Reihen gegen Russland geschlossen«, sondern erneut der Abrüstungsstreit in den Fokus gerückt. Die Mitglieder feierten den vereinbarten Aktionsplan und tadelten die auf nukleare Abschreckung bauenden Länder. Dabei konnten sie sich jedoch nicht durchringen, Moskaus Atomdrohungen im Ukrainekrieg zu verurteilen. Die Abschlusserklärung kritisiert »alle und jegliche nuklearen Drohungen«, was viele als Seitenhieb auch auf die Nato-Abschreckungspolitik verstehen. Die als Beobachter anwesenden Nato-Staaten Deutschland und Norwegen erklärten indes, dem TPNW auch künftig nicht beitreten zu wollen, weil dies mit ihrer Mitwirkung in der Nato als Nuklearallianz unvereinbar sei.
In dieser doppelt polarisierten Situation gingen fast alle Expertinnen und Experten davon aus, dass die NPT-Überprüfungskonferenz scheitern würde – am Streit über atomare Abrüstung und an Putins nuklear »abgeschirmtem« Überfall auf die Ukraine.
Warum scheiterte die Konferenz?
Die Überprüfungskonferenz ist tatsächlich gescheitert – die Ursache überraschte hingegen. Russlands nukleare Drohungen und sein Angriff auf die Ukraine waren nur indirekt verantwortlich für diesen Ausgang, der Abrüstungsstreit sogar unerheblich.
Stattdessen lag der alleinige Grund dafür, dass letzten Endes kein Konsens über die Abschlusserklärung erzielt wurde, in einem Ad‑hoc-Problem: Russland wollte Formulierungen im finalen Text zum Kernkraftwerk in Saporischschja, das gerade in Kampfhandlungen verwickelt wurde, nicht mittragen. Woran genau Moskau sich störte, ist unbekannt. Wahrscheinlich waren es jene Passagen, die 1) den Beschuss des Kraftwerks neutral verurteilen (Russland wollte, trotz fehlender Belege, die Ukrainer als »Täter« benennen), 2) den Kontrollverlust »der zuständigen ukrainischen Behörden« über Saporischschja beklagen und 3) fordern, die Sicherheit aller Atomanlagen der Ukraine wiederherzustellen, und zwar der Ukraine »in ihren international anerkannten Grenzen«.
Keine der Formulierungen nennt Russland als den Verantwortlichen für die Sicherheitslage in der Ukraine oder die Angriffe auf das Kraftwerk. Dass Kritik am russischen Vorgehen herauszulesen ist, genügte, damit Moskau die Passage als politisiert darstellte. Russland versuchte aber nicht, Kompromissformulierungen auszuhandeln. Erst am letzten Tag, als es dafür schon zu spät war, meldete es Änderungswünsche an.
Enormer Wille zum Konsens spiegelt die Prioritätenfolge wider
Der vom Kreml abgelehnte finale Entwurf war in allen Punkten, die nicht Saporischschja betrafen, konsensfähig – am Schlusstag hielten viele Länder eine Einigung für möglich. Das legen Statements der Delegationen sowie Eindrücke von Teilnehmenden nahe. Dass die NPT-Staaten den Entwurf einstimmig verabschiedet hätten, wenn Russland ihn nicht blockiert hätte, erstaunt. Im Text finden sich nämlich nur vage, unverbindliche Bekenntnisse zur Abrüstung; alle bekannten Forderungen fehlen. Diese nicht aufzunehmen galt für einige TPNW-Parteien zuvor als unzumutbar. Hierzu zählt, dass der Entwurf
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keine konkreten und verbindlichen Forderungen an die fünf Kernwaffenstaaten enthält, ihre nuklearen Abrüstungsversprechen umzusetzen;
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bloß zum Dialog aufruft, um Sorgen der Nichtkernwaffenstaaten über die Modernisierung der Atomarsenale anzugehen;
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Drohungen mit Atomschlägen an keiner Stelle explizit verurteilt;
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keine allgemeine Verpflichtung beinhaltet, Atomwaffen niemals einzusetzen;
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keinen Verzicht auf den Ersteinsatz von Kernwaffen (no first use) verlangt;
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kein Moratorium für die Produktion von waffenfähigem Spaltmaterial fordert;
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die Mitglieder nuklearer Allianzen nicht aufruft, die Rolle von Kernwaffen in ihren Sicherheitsdoktrinen zu reduzieren;
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die auf der TPNW-Konferenz im Juni vereinbarte Erklärung und den Aktionsplan für nukleare Abrüstung nicht erwähnt.
Viele der »Lücken« im endgültigen Text entstanden in den letzten Tagen der Konferenz, als die entsprechenden Forderungen aus dem Entwurf gestrichen wurden. Dies geschah Berichten zufolge auf Druck der Kernwaffenstaaten und ihrer Verbündeten.
In der Folge waren viele Nichtkernwaffenstaaten sehr unzufrieden; einige klagten, die Atommächte handelten unverantwortlich. Die TPNW-Parteien betonten, der Text bleibe dramatisch hinter dem zurück, was nötig wäre, um der Atomgefahr mit Abrüstungsschritten entgegenzuwirken. Die zivilgesellschaftlichen Abrüstungsverfechter äußerten noch schärfere Kritik: Der Textentwurf sei, meint eine Nichtregierungsorganisation, »eine gefährliche Enttäuschung«, der NPT nur noch »ein Zombie«.
Trotz dieser Kritik hätten alle anwesenden Nichtkernwaffenstaaten, und damit auch alle TPNW-Mitglieder, dem Entwurf zugestimmt. Wie lässt sich das erklären?
Die mit dem Text unzufriedenen Nichtkernwaffenstaaten, zum Beispiel Österreich und Neuseeland, hätten nach eigener Aussage für den Entwurf votiert, um in Zeiten enormer Erschütterungen und Unsicherheit ihre Unterstützung für den NPT als Pfeiler der bestehenden Ordnung auszudrücken. Damit relativierten diese Staaten die Bedeutung ihrer vermeintlich obersten Priorität beim NPT: der nuklearen Abrüstung.
Dieses Verhalten ist bemerkenswert. Es erhärtet die auch schon vor der Konferenz vorgebrachte Kritik, dass – in Deutschland fast unhinterfragte – zentrale Annahmen darüber, was den NPT zusammenhält, nicht der Realität entsprechen. Das übliche Verständnis stellt den NPT als ein sensibles, fein austariertes System von Regeln in drei Bereichen dar: der atomaren Abrüstung, der Nichtverbreitung von Kernwaffen sowie der friedlichen Nutzung der Atomenergie. Werden Pflichten und Versprechen in einem der Felder verletzt, so die Annahme, erodiere die Vertragstreue ebenfalls in den beiden anderen und der NPT insgesamt werde instabil.
Neuere Forschungen zum NPT zweifeln dies an. Demnach ist eine gleichmäßige Implementierung der drei Bereiche nur dann essentiell, wenn es um die Weiterentwicklung des NPT geht: So müssten etwa strengere Nichtverbreitungsregeln mit Abrüstungsschritten »erkauft« werden.
Im Gegensatz dazu gründet die Stabilität des NPT in seiner heutigen Form nicht auf dieser Balance. Stabil ist der NPT, wenn die Nichtkernwaffenstaaten davon absehen, innerhalb des Vertrags Atomwaffen zu entwickeln oder aus dem NPT auszutreten. Für ihre Entscheidung, innerhalb des NPT und vertragstreu zu bleiben, sieht die Forschung drei Gründe:
Erstens müssten NPT-Parteien, sollten sie austreten, mit Sanktionen der Großmächte rechnen, denn in dieser Grundfrage sind sich die Atommächte zumindest bisher einig. Kaum ein Nichtkernwaffenstaat ist bereit, diese Kosten zu tragen.
Zweitens würden NPT-Austritte oder eine Atomrüstung die internationale nukleare Rechtsordnung beschädigen. Viele Länder schätzen aber die rechtsverbindliche Form des Atomwaffenverzichts ihrer Nachbarn. Kaum ein Ziel ist es wert, diese verlässliche Ordnung zu zerstören. Das gilt vor allem für Mittelmächte, die Kernwaffen bauen könnten, es im Vertrauen auf den NPT aber nicht zu tun brauchen. Viele Mittelmächte, auch Deutschland, profitieren sogar doppelt: Obwohl sie Nichtkernwaffenstaaten sind, genießen sie als US-Verbündete nuklearen Schutz.
Drittens würden NPT-Austritte und illegale Waffenprogramme die übergeordnete regelbasierte internationale Ordnung untergraben, zu deren Kernteilen der NPT gehört. Eine Welt, in der sich Staaten nicht mehr an so zentrale Vereinbarungen halten, wäre jedoch gerade für kleine und schwache Länder nicht erstrebenswert, weil sie Regelbrüchen nichts entgegensetzen können.
Entscheidend ist, dass derzeit die legale nukleare Ordnung sowie die regelbasierte internationale Ordnung bereits durch Russlands Krieg gegen die Ukraine unter Druck stehen. In dieser volatilen und unsicheren Situation wollte eine Mehrheit der Staaten gegensteuern und die Lage keinesfalls noch verschärfen, indem sie die NPT-Konferenz scheitern ließen. Daher waren alle Nichtkernwaffenstaaten bereit, einem Textentwurf zuzustimmen, der keinerlei Fortschritte in der nuklearen Abrüstung enthielt.
Folgerungen für die deutsche NSS
Putins Krieg fordert nukleare Normen und die Weltordnung heraus und stellt die Kooperation gegen Proliferation infrage. Trotzdem ist es sehr unwahrscheinlich, dass der Krieg die Grundlagen des NPT entscheidend schwächt: Die Toleranz der Großmächte für Proliferation ist nicht gestiegen, die Mittelmächte schätzen den formalen Verzicht ihrer Nachbarn auf Kernwaffen, und der Westen verteidigt die regelbasierte Ordnung, damit Angriffskriege nicht salonfähig werden.
Da zwei dieser drei Faktoren auf fast alle nichtnuklearen NPT-Parteien einwirken, ist der Vertrag äußerst stabil. Austritte und erfolgreiche vertragswidrige Kernwaffenprogramme sind sehr selten; Ausnahmen (wie Nordkorea) gibt es nur in Extremsituationen. Um gegen bloße Ungerechtigkeiten wie mangelnde Abrüstung zu protestieren, ist eine Beschädigung des NPT ungeeignet – die Kosten wären viel zu hoch. Zudem würde es deutlich schwieriger, Abrüstungsziele zu erreichen, wenn die jetzige Ordnung wegfiele.
Da die Stabilität des NPT auf äußeren Faktoren beruht, sollte die deutsche NSS anstreben, dieses Fundament zu stärken: indem Berlin versucht, die regelbasierte Ordnung zu erhalten, speziell das Gewaltverbot; indem es illegale Kernwaffenprogramme ebenso wie nukleare Erpressung verurteilt und ahndet; indem es klarstellt, NPT-Austritte auch dann zu sanktionieren, wenn sie nicht mit einem Kernwaffenbau einhergehen.
Unwichtig für die Stabilität des NPT sind gleichmäßige Fortschritte in den drei Vertragsbereichen. Ergo sind deutsche Konzessionen an TPNW-Verfechter sicherheitspolitisch nicht zielführend. Wenn die Modernisierung der Atomarsenale andauert – und das wird sie –, kann auch ein Beobachterstatus bei TPNW-Treffen dessen Parteien nicht zu strengeren Nichtverbreitungsregeln bewegen. Deutschland braucht auch keine »Brücken« zum TPNW zu bauen, um so den NPT zu stabilisieren: Die Kräfte, die den NPT zusammenhalten, bieten ein solides Fundament.
Dr. Jonas Schneider und Dr. Liviu Horovitz sind Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Das Aktuell entstand im Rahmen des Projekts STAND (Strategic Threat Analysis and Nuclear (Dis-)Order).
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DOI: 10.18449/2022A69