In der Debatte darüber, wie die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union (EU) gestärkt werden kann, werden die Rufe nach einer Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen lauter. Im Rat der EU wird aktuell diskutiert, die sogenannten Passerelle-Klauseln im EU-Vertrag (EUV) zu nutzen. Mit ihnen ließen sich auch ohne große Vertragsänderung oder Konvent mehr Mehrheitsentscheidungen einführen. So ein Verzicht auf nationale Vetos erfordert aber zunächst Einstimmigkeit sowie zum Teil nationale Zustimmungsverfahren, die mit hohen Hürden verbunden sind. Eine solche Einstimmigkeit ist derzeit nicht in Sicht, da sich in kleineren und mittelgroßen Mitgliedstaaten Widerstand regt und sie befürchten, regelmäßig überstimmt zu werden. Notwendig ist daher ein institutionelles Reformpaket, bei dem Mehrheitsentscheidungen auch mit dem Ziel ausgeweitet werden, eine neue EU-Erweiterung zu erleichtern, und mit Notfallklauseln zum Schutz nationaler Kerninteressen abgesichert werden.
Die Forderung, Mehrheitsentscheide auszuweiten, ist ein Dauerthema in der Debatte um die Handlungsfähigkeit der EU. Das Ziel war dabei stets dasselbe: In einer Union von aktuell 27 Mitgliedstaaten soll die Ausweitung von Mehrheitsentscheiden garantieren, dass die Anzahl an Vetospielern reduziert und somit die Kompromissfindung einfacher wird. Denn zu häufig werden EU-Entscheidungen durch einzelne Vetos blockiert, mit denen nationale Regierungen Partikularinteressen durchsetzen wollen, materielle Kompensationen fordern oder sogar in anderen Fragen, die nicht unmittelbar zur Debatte stehen, Zugeständnisse zu erhalten hoffen.
Bei jeder Vertragsänderung wurden bisher die Anwendungsgebiete der Einstimmigkeit im Rat reduziert und diejenigen von Mehrheitsentscheiden ausgeweitet. Seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon 2009 hat es jedoch keine große Vertragsänderung gegeben. Dennoch (oder gerade deswegen) wurde und wird immer wieder diskutiert, wie die Flexibilität dieses Vertrags genutzt werden kann, um die Union handlungsfähiger zu machen. Der letzte große Vorstoß hierzu waren 2018/19 zwei Initiativen der Kommission Juncker, in der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie in der Steuerpolitik graduell und zunächst in ausgewählten Einzelbereichen zu Mehrheitsentscheidungen überzugehen. Beide Initiativen haben die Mitgliedstaaten im Rat nicht akzeptiert, und die Kommission von der Leyen hat die Forderung nach Mehrheitsentscheiden in diesen Politikfeldern bislang nicht mit Nachdruck weiterverfolgt.
Neue Impulse für Mehrheitsentscheide
Aktuell erhält die Debatte über die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen aus drei Richtungen neue Impulse: Zum einen hat die Konferenz zur Zukunft Europas im Mai 2022 ihren Abschlussbericht vorgelegt. Zwar konnte die Konferenz, überschattet von der Corona-Pandemie und dem russischen Angriffskrieg, keine große politische Zugkraft entwickeln. Ihr Abschlussbericht enthält aber mit den Empfehlungen der repräsentativ zusammengesetzten europäischen Bürgerforen relevante Vorschläge, wie die EU weiterentwickelt werden könnte (siehe SWP-Aktuell 44/2022). Eine der wenigen institutionellen Empfehlungen betrifft den Übergang zu Mehrheitsentscheiden bei fast allen Beschlüssen des Rates. Das Europäische Parlament fordert auf dieser Basis in einer Resolution vom Juni 2022 Vertragsänderungen sowie einen weitreichenden Übergang zu Mehrheitsentscheiden. Viele Mitgliedstaaten im Rat stehen Vertragsänderungen jedoch kritisch gegenüber.
Zum anderen hat die Debatte über Mehrheitsentscheidungen in der Außen- und Sicherheitspolitik neuen Nachdruck bekommen, nämlich durch die öffentlich umstrittene Nutzung von Vetomöglichkeiten. Zwei Beispiele: Die Republik Zypern hat im Herbst 2020 ihr Veto gegen EU-Sanktionen gegen Belarus eingelegt – nicht weil die zypriotische Regierung die Maßnahmen an sich ablehnte oder ihre nationalen Interessen berührt sah, sondern weil sie mit dem Veto ein härteres Vorgehen der EU gegen die Türkei erzwingen wollte. Erst nach wochenlangen Verhandlungen konnte die EU die Sanktionen erlassen, obwohl in der Sache bereits Einigkeit herrschte.
Bei den Sanktionen gegenüber Russland wegen seines Angriffskrieges gegen die Ukraine hat die EU zunächst schnell Handlungsfähigkeit bewiesen. Je länger der Krieg aber dauert, desto schwieriger ist es, diese zu erhalten. Insbesondere das sechste Sanktionspaket wurde, mit Blick auf legitime nationale Wirtschaftsinteressen, etwa einen Monat lang verhandelt. Im Vergleich zu regulären EU-Entscheidungsprozessen war das noch kurz, der Kriegssituation aber dennoch nicht angemessen; die ersten fünf Sanktionspakete konnten deutlich schneller auf den Weg gebracht werden. Erschwert wurden die Verhandlungen zum sechsten Paket am Ende auch durch ein drohendes ungarisches Veto. Um dieses zu verhindern, wurde etwa das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche von den EU-Sanktionen ausgenommen. Für Befürworter von Mehrheitsentscheidungen belegt dieses Beispiel die Notwendigkeit, nationale Vetos weitgehend abzuschaffen.
Schließlich sind die Ukraine und die Republik Moldau seit Juni 2022 offiziell EU-Beitrittskandidaten; der Beitrittsprozess für die Staaten des westlichen Balkans wird wiederbelebt. Perspektivisch ist damit die Vision einer EU mit über 30 Mitgliedern zurückgekehrt. Die Anzahl der Vetospieler bei Einstimmigkeitsentscheidungen würde weiter steigen. Hinzu kommt, dass die Beitrittskandidaten außer der Ukraine (und der Türkei) vornehmlich kleine bis kleinste Staaten sind, sodass sich die Diskrepanz zwischen Vetomacht und Bevölkerungsgröße bzw. Wirtschaftskraft weiter erhöhte. Eine neue Erweiterungsrunde erfordert daher auch, Mehrheitsentscheidungen auszuweiten; sonst könnten die Aufnahme- wie die Handlungsfähigkeit der EU gefährdet werden.
Rechtliche Möglichkeiten
Ein Übergang zu qualifizierten Mehrheitsentscheidungen im Rat kann auf verschiedene Weise erreicht werden (siehe Tabelle): außer durch klassische Vertragsreformen vor allem durch die Anwendung von Passerelle-Klauseln oder der Verstärkten Zusammenarbeit. Eine Vertragsreform bedeutet in jedem Fall komplexe Anforderungen auf EU-Ebene, das heißt in der Regel einen Konvent, sowie hohe Hürden für die Ratifizierung auf nationaler Ebene.
Rechtliche Möglichkeiten für den Übergang zu Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit |
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* Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union |
Seit dem Vertrag von Lissabon gibt es mit der allgemeinen Passerelle-Klausel ein auf europäischer Ebene einfacheres Verfahren, qualifizierte Mehrheitsentscheidungen einzuführen, bei dem nur der Europäische Rat einstimmig und das Europäische Parlament (EP) mit absoluter Mehrheit zustimmen müssen. Allerdings existieren in einigen Mitgliedstaaten entscheidende Hürden zur Aktivierung der Klausel, die denen einer Vertragsreform ähnlich sind, auch wenn keine Ratifizierung durch die nationalen Parlamente notwendig ist.
Damit etwa der deutsche Vertreter im Europäischen Rat einem Beschluss zur Anwendung der Passerelle-Klausel zustimmen oder sich enthalten darf, ist gemäß dem Integrationsverantwortungsgesetz ein Gesetz im Sinne des Artikels 23 (1) Grundgesetz nötig, dem Bundestag und Bundesrat jeweils mit Zweidrittelmehrheit zustimmen müssen. Demnach sind die Anforderungen ähnlich hoch wie für Vertragsänderungen. In Österreich ist ebenfalls die Zustimmung beider Parlamentskammern mit Zweidrittelmehrheit bei Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Abgeordneten erforderlich. In Dänemark genügt eine einfache Parlamentsmehrheit bei Anwesenheit von mehr als der Hälfte der Abgeordneten. Sofern die Aktivierung der Klausel jedoch dazu gebraucht wird, »Souveränität an internationale Autoritäten abzugeben«, muss eine Fünfsechstelmehrheit im Parlament erreicht werden, ebenso wie für die Ratifizierung von Vertragsreformen.
In Polen, Irland und der Tschechischen Republik müssen beide Parlamentskammern zustimmen, damit der jeweilige Repräsentant im Europäischen Rat seine Zustimmung geben oder sich enthalten darf. In Malta wird die Aktivierung der Klausel wie eine Vertragsreform behandelt und erfordert ebenfalls parlamentarische Zustimmung. Die Beispiele zeigen: Verglichen mit den Hürden bei ordentlichen Vertragsänderungen sind diejenigen bei Anwendung der Passerelle-Klausel zwar etwas niedriger – in keinem Land ist eine Volksabstimmung obligatorisch –, aber politisch weder deutlich leichter noch schneller zu nehmen.
Für einige wenige Politikbereiche enthält der EU-Vertrag spezielle Passerelle-Klauseln für den Übergang zu Mehrheitsentscheidungen. Die auf europäischer und nationaler Ebene vorgesehenen Verfahren, um sie zu aktivieren, sind teilweise etwas einfacher als bei der allgemeinen Klausel. Bei der speziellen Passerelle-Klausel zur GASP überschneidet sich der Anwendungsbereich mit dem der allgemeinen Klausel. Allerdings dominiert die Auffassung, dass die spezielle Vorrang vor der allgemeinen hat. Es wird argumentiert, in diesem Politikfeld sei die Prüfung durch die nationalen Parlamente weniger zwingend und der Einfluss des EP kleiner, handele es sich bei der GASP doch um einen Mechanismus zur Koordinierung nationaler außenpolitischer Maßnahmen.
Die Methode der Verstärkten Zusammenarbeit ist zwar weniger als allgemeiner Übergang zu Mehrheitsentscheidungen anwendbar, könnte aber als Druckmittel gegenüber Mitgliedstaaten eingesetzt werden, die häufig gemeinsame Entscheidungen blockieren und gleichzeitig einen Übergang zu mehr Mehrheitsentscheidungen ablehnen.
(Un)geeignete Politikfelder
Ein Wechsel zu Mehrheitsentscheidungen ist nicht in allen Politikfeldern sinnvoll noch politisch möglich. Grundsätzlich gilt seit dem Vertrag von Lissabon im Rat der EU das Mehrheitsprinzip, es sei denn, der Vertrag schreibt explizit Einstimmigkeit oder besondere Mehrheitserfordernisse vor.
Das ist vor allem in Politikbereichen der Fall, die aus Sicht der Mitgliedstaaten sensibel sind. Darunter fallen etwa die GASP, Steuer- und Sozialpolitik, die operative polizeiliche Zusammenarbeit sowie der Beitritt neuer Mitgliedstaaten. Neben der aktuellen Debatte um die Einführung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen in der GASP stellt sich zumal im Nachgang zur Zukunftskonferenz die Frage, ob für den Übergang zu Mehrheitsentscheidungen auch in anderen Bereichen ein politisches Momentum vorhanden ist.
In einem Vorschlag von 2019 empfahl die Kommission Juncker, mit Hilfe der allgemeinen Passerelle-Klausel schrittweise Mehrheitsentscheidungen in Steuerfragen einzuführen, und zwar zunächst dort, wo kein direkter Effekt auf die Besteuerungsrechte der Mitgliedstaaten besteht, wo aber Steuerflucht und ‑betrug effektiv bekämpft werden können. Darauf folgen sollten Entscheidungen fiskalischer Natur sowie Beschlüsse, die Ziele in anderen Politikfeldern nützen oder bereits größtenteils harmonisierte Bereiche der Steuerpolitik betreffen, die aktualisiert werden müssen. Zuletzt sollten die Mehrheitsbeschlüsse auf Steuerfragen ausgedehnt werden, die für den Binnenmarkt von Bedeutung sind, wie eine Digitalsteuer.
Abgesehen von der Schwierigkeit, die EU-Staaten davon zu überzeugen, in einem für die nationale Souveränität wichtigen Politikfeld mehr Mehrheitsentscheidungen einzuführen, stellen sich in der Steuerpolitik auch verfassungsrechtliche Fragen. So wäre laut einer Stellungnahme des wissenschaftlichen Beirats des Bundesfinanzministeriums nur die erste Stufe der von der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen realisierbar, betrachtet man deutsche verfassungsrechtliche Vorgaben und die aktuelle institutionelle Struktur der EU. Auch hier rücken Bedenken über die demokratische Legitimation von Rechtsetzung mit Mehrheitsentscheidungen in den Fokus.
Obwohl die Kommission von der Leyen diesen Vorschlag nicht wieder aufgegriffen hat, hat Ungarns Blockade eines Abkommens über einen globalen Mindeststeuersatz für multinationale Unternehmen gezeigt, dass das Vorhaben weiterhin relevant ist. Dies veranlasste das EP dazu, sich im Juli 2022 für eine schrittweise Einführung von Mehrheitsentscheidungen in Steuerfragen auszusprechen.
In ihrem Vorschlag von 2018 zur GASP nannte die Kommission drei Themen, bei denen mit Mehrheitsentscheidungen begonnen werden könnte: die gemeinsame Positionierung der EU zu Menschenrechtsfragen in internationalen Foren, die Sanktionspolitik sowie die Entscheidung, zivile Missionen durchzuführen. In der GASP ist es derzeit am wahrscheinlichsten, dass es mehr Mehrheitsentscheidungen geben könnte.
Mehrheitsentscheide in der Praxis
Dass rechtliche Möglichkeiten existieren, Mehrheitsentscheidungen auszuweiten, hat in der Praxis bislang nicht dazu geführt, dass dies geschehen wäre. Seit Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags wurde weder die allgemeine noch eine spezielle Passerelle-Klausel angewendet. Aufschluss über den Wert von Mehrheitsentscheidungen und für welche Mitgliedstaaten sie besonders kritisch sind, gibt ihre bisherige Nutzung im Rat, dessen Arbeit weiterhin zu großen Teilen auf dem Konsensprinzip beruht.
So zeigt die Analyse der seit 2010 veröffentlichten Abstimmungsprotokolle, dass sich die Mitgliedstaaten im Durchschnitt bei über 60 Prozent der Abstimmungen, bei denen eine Mehrheitsentscheidung möglich wäre, trotzdem einstimmig einigen. Nimmt man die Abstimmungen hinzu, bei denen es nur Enthaltungen, aber keine Gegenstimmen gibt, so erreicht der Rat eine »Konsensquote« von durchschnittlich knapp 82 Prozent; 2021 waren es sogar 87,6 Prozent (eigene Berechnung). Auch unter Mehrheitsbedingungen suchen die Mitgliedstaaten also in der Regel einen Kompromiss, dem am Ende (fast) alle zustimmen können. Mehrheitsbeschlüsse, bei denen ganze Gruppen von Staaten überstimmt werden, sind auch in einer EU mit 27 Mitgliedern eine Seltenheit geblieben.
Das bedeutet jedoch nicht, dass die Mehrheitsregel die Dynamik von Entscheidungsprozessen in der EU nicht verändert – sie erzwingt nämlich europäische Diplomatie und Kompromisse. Bei der Einstimmigkeitsregel kann sich ein Mitglied, das einen EU-Vorschlag ablehnt, auf sein Vetorecht berufen. Es muss weder Verbündete suchen noch Kompromisse eingehen, bis seine Forderungen erfüllt werden. Insbesondere in Krisensituationen, die eine schnelle Reaktion verlangen, sitzen nationale Regierungen am längeren Hebel, und der »Preis«, sie von der Aufhebung ihres Vetos zu überzeugen, steigt.
Anders ist es bei der qualifizierten Mehrheit: Wenn eine nationale Regierung hier einen Vorschlag der EU-Kommission ablehnt, muss sie eine Sperrminorität von mindestens vier Mitgliedstaaten, die mindestens 35 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren, organisieren, die dann mit der Mehrheit einen Kompromiss aushandelt. Es ist diese Verhandlungsdynamik, die dazu führt, dass es bei über 80 Prozent der öffentlichen Abstimmungsergebnisse des Rates keine Gegenstimmen gibt, weil sich am Ende alle dem Kompromiss anschließen (oder sich enthalten).
Dennoch sind Mehrheitsentscheidungen allein kein Garant für eine bessere Handlungsfähigkeit der EU. Sie sind ein institutionelles Mittel, um leichter Kompromisse zu finden, insbesondere dann, wenn nur einzelne Mitgliedstaaten ihr Vetorecht zur Blockade nutzen. Geht die Spaltung quer durch die Union, ermöglichen auch Mehrheitsentscheide keine Lösung. Das beste Beispiel ist die seit 2015 de facto blockierte Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Obwohl mit dem Vertrag von Lissabon in diesem Bereich Mehrheitsentscheide eingeführt wurden, sind die Mitgliedstaaten in mindestens drei größere Blöcke gespalten, was eine Einigung auf das Gesamtpaket seit nunmehr sieben Jahren verhindert. Zuletzt gab es unter französischer Ratspräsidentschaft zwar kleine Fortschritte, aufbauend auf jahrelangen Verhandlungen und einem Aufschnüren des Gesamtpakets in einzelne Rechtsakte, die große Reform bleibt aber blockiert. Damit die EU handlungsfähig ist, braucht es also mehr als nur Mehrheitsentscheidungen.
Ein flexibles System für künftige Erweiterungen
Ein großer Vorteil des Systems qualifizierter Mehrheit im Rat ist, dass es sich bei einer möglichen Erweiterung der EU anpassen würde. Der Stimmenanteil der Mitgliedstaaten wird – anders als vor dem Lissabonner Vertrag oder auch die Sitzverteilung im EP – nicht politisch ausgehandelt, sondern mathematisch entsprechend der Bevölkerungsgröße ermittelt. Ein Blick auf die (potentiellen) Beitrittskandidaten aus dem westlichen Balkan sowie die Ukraine und die Republik Moldau zeigt, dass sich das System gut auf eine EU‑35 einstellen würde und diese handlungsfähig bliebe.
So wäre die Ukraine, gemessen an der Bevölkerungsgröße von 2020, der fünftgrößte Mitgliedstaat und dürfte bei der qualifizierten Mehrheit auf einen Stimmenanteil von etwa 8 bis 9 Prozent hoffen, was in etwa dem heutigen Stimmengewicht Polens entspricht. Alle Staaten des westlichen Balkans und die Republik Moldau zusammen würden hingegen nur 4 Prozent der EU-Bevölkerung und damit des Stimmenanteils ausmachen. Bei Einstimmigkeit hätten sie mit sieben nationalen Vetos eine überproportionale Entscheidungsmacht, gemessen an ihrer Bevölkerungsgröße, während sie bei Mehrheitsentscheidungen Teil einer größeren Gruppe werden müssten, um ihre Verhandlungsziele durchzusetzen.
Ein Stück weit würde auch eine Ost-West-Verschiebung beim Stimmenanteil der Mitgliedstaaten stattfinden, da bei einer neuen Erweiterungsrunde potentiell nicht nur die Ukraine, die Republik Moldau und (in mehreren Wellen) die Länder des westlichen Balkans mitstimmen könnten, sondern gleichzeitig proportional die Stimmenanteile der bisherigen Mitglieder reduziert würden. In der EU‑27 haben Deutschland und Frankreich zusammen einen Anteil von etwa einem Drittel (und somit schnell eine Blockademinderheit von 35 Prozent der Stimmen organisiert) – in einer EU‑35 würde er auf knapp unter 30 Prozent fallen. Im Gegensatz dazu kommen alle mittel- und osteuropäischen Staaten der EU‑27 gemeinsam auf knapp 23 Prozent, könnten theoretisch also auch alle zusammen überstimmt werden. Gemeinsam mit den potentiellen Neumitgliedern einer EU‑35 würde ihr Anteil auf etwa 32 Prozent steigen, das heißt über den von Deutschland und Frankreich. Das System qualifizierter Mehrheit könnte seine volle Wirkung entfalten – einer EU‑35 Handlungsfähigkeit garantieren, eine leichte Verschiebung der Einflussverhältnisse ermöglichen, ohne aber durch den Beitritt vieler kleiner Länder die Entscheidungsverfahren zu verzerren.
Die Gefahr struktureller Minderheiten
Politisch abzuwägen ist der Einsatz von Mehrheitsentscheidungen, weil er negative Folgen für den Zusammenhalt und die Legitimation der EU zeitigen könnte. Zwei Aspekte gilt es hierbei besonders zu beachten: zum einen den Fall, dass Mitgliedstaaten in Fragen von hohem nationalem Interesse überstimmt werden. Werden Entscheidungen gegen den Willen der jeweiligen Regierung gefällt und diese rechtlich zur Umsetzung verpflichtet, liegt die alleinige politische Verantwortlichkeit bei der EU. Dies kann EU-kritische Stimmen stärken und legitimatorisch nur begrenzt durch eine Beteiligung des EP ausgeglichen werden, insbesondere falls auch die Abgeordneten aus dem überstimmten Land mehrheitlich gegen den jeweiligen Beschluss votiert haben.
Ein Beispiel hierfür war der hochumstrittene Mehrheitsbeschluss zur verpflichtenden Verteilung von Flüchtlingen 2015, der gegen den Willen mehrerer mittel- und osteuropäischer Staaten (Rumänien, Slowakei, Tschechien, Ungarn) getroffen wurde. Trotz rechtlicher Verpflichtung konnte der Beschluss nie vollständig umgesetzt werden und hat dazu beigetragen, dass sich die Spaltung der EU in Fragen der Asyl- und Migrationspolitik vertieft hat und bis heute nicht überwunden werden konnte. Ebenso könnte ein Mehrheitsbeschluss in der Außen- und Sicherheitspolitik, der nationale Kerninteressen eines oder mehrerer Länder nicht berücksichtigt, gravierende Fragen demokratischer Legitimation aufwerfen. So hätte es etwa keine EU-Regierung akzeptiert, wäre das wirtschaftlich einschneidende Ölembargo gegen Russland gegen ihren Willen beschlossen worden.
Zum anderen können Probleme für die Legitimation der EU sich auch dann ergeben, wenn einzelne Staaten regelmäßig überstimmt werden und so strukturelle Minderheiten entstehen. Das beste Beispiel hierfür ist das Vereinigte Königreich, das seit 2010 bis zum Brexit jedes Jahr der am häufigsten überstimmte Mitgliedstaat war. Zwar votierte London immer noch in über 80 Prozent der Fälle für den jeweiligen Kompromiss, aber der Eindruck, selbst in Kernfragen nationaler Wirtschaftspolitik wie der Finanzmarktregulierung regelmäßig überstimmt zu werden, trug mit dazu bei, dass viele den EU-Austritt unterstützten und das Narrativ »take back control« sich festsetzen konnte.
Heute sind es vor allem mittel- und osteuropäische Staaten, die Mehrheitsentscheidungen ablehnen. Sie befürchten, dass die EU von Frankreich und Deutschland dominiert werden könnte und in der Außen- und Sicherheitspolitik die Belange kleinerer Mitglieder womöglich übergangen werden.
Betrachtet man die öffentlichen Abstimmungsergebnisse des Rates, wird ein Trend erkennbar, der Befürwortern von Mehrheitsentscheiden zu denken geben sollte: Seit dem britischen Austritt ist es Ungarn, das am häufigsten im Rat überstimmt wurde, 2020 gemeinsam mit Polen. 2021 waren Polen und Ungarn für 40 Prozent der Gegenstimmen im Rat verantwortlich, die Visegrád-Vier-Staaten (plus Slowakei und Tschechien) gemeinsam für 52 Prozent. Andererseits fiel kein Beschluss gegen die Stimmen von Deutschland, Frankreich und Italien, alle drei Befürworter von mehr Mehrheitsentscheiden.
Allerdings wurde zumindest Deutschland auf längere Sicht seit 2010 regelmäßig überstimmt, insgesamt sogar öfter als Polen. Die Bundesrepublik kann deshalb glaubwürdig damit auftreten, dass sie auch als großes Land bereit ist, Mehrheitsentscheidungen gegen die eigene Position zu akzeptieren. Dabei ist jedoch zu beobachten, dass Gegenstimmen und Enthaltungen in der ersten Hälfte der 2010er Jahre geographisch noch gleichmäßig über die EU verteilt waren, während in den letzten Jahren zunehmend ein Ungleichgewicht zuungunsten der mittel- und osteuropäischen Staaten entstanden ist. Es ist daher politisch nicht verwunderlich, dass insbesondere diese Staaten skeptisch sind gegenüber einer neuerlichen Ausweitung von Mehrheitsbeschlüssen.
Zeit für eine Paketlösung
Selbst wenn immer mehr Stimmen fordern, Mehrheitsentscheidungen auszuweiten, zeigt dieser Blick auf die Potentiale und Grenzen der vertraglichen Grundlagen sowie die bisherige Nutzung von Mehrheitsentscheiden schnell, warum die Debatte bislang immer im Sande verlaufen ist. Ob ordentliche Vertragsänderung, allgemeine oder spezielle Passerelle-Klausel – einen Wechsel hin zu (mehr) Mehrheitsentscheidungen müssen alle EU-Staaten mittragen. Zudem sind die Hürden für nationale Zustimmungsverfahren bei Anwendung der allgemeinen Passerelle-Klausel nicht unwesentlich. Trotz – oder gerade wegen – der Forderungen etwa aus Deutschland, Frankreich und Italien sind andere EU-Staaten strikt gegen die Abschaffung nationaler Vetos. Dazu gehören Länder, die befürchten, regelmäßig überstimmt zu werden, wie etwa Polen und Ungarn, aber auch »prointegrationistische« wie Irland, die in Einzelbereichen wie der Steuerpolitik nicht überstimmt werden möchten. Andere Staaten wie Dänemark stehen Vertragsänderungen und institutioneller Vertiefung skeptisch gegenüber.
Umso mehr der Ruf nach Mehrheitsentscheidungen damit begründet wird, im Zweifelsfall »unbequeme Partner« wie Polen oder Ungarn überstimmen zu können, desto entschiedener wird auch deren Widerstand. Recht gibt ihnen dabei ein Blick auf die Abstimmungsprotokolle, nach denen Frankreich so gut wie nie, Deutschland in den letzten Jahren nur selten, aber kleine mittel- und osteuropäische Mitgliedstaaten dafür häufiger überstimmt werden. Im Falle umfangreicher Vertragsänderungen wäre es zwar möglich, deren Bedenken über eine große Paketlösung »wegzuverhandeln«, eine solche große Vertragsreform zeichnet sich bisher aber nicht ab.
Statt nur auf den Problemdruck zu setzen, sollte die Bundesregierung anregen, die Forderung nach mehr Mehrheitsentscheiden mit der neuen Osterweiterung zu einer Paketlösung zu verknüpfen. Will die EU neue Mitglieder aufnehmen, muss sie selbst laut den Kopenhagener Kriterien in der Lage sein, diese erfolgreich zu integrieren, ohne die eigene Handlungsfähigkeit zu gefährden. Ein Beitritt mindestens der Ukraine und einiger Länder des westlichen Balkans in einem Zeithorizont von sieben bis zehn Jahren ist nun denkbar geworden. Eine EU mit 30 und mehr Mitgliedern, darunter etliche neue mit unter 10 Millionen Einwohnern, kann nur handlungsfähig bleiben, wenn gleichzeitig flächendeckend das Mehrheitsprinzip eingeführt wird, mit Ausnahme weniger konstitutioneller Entscheidungen. Nicht als Bremse, sondern parallel zum Beitrittsprozess sollte die EU also im Zeithorizont der nächsten Legislaturperiode (2024–29) die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen auf den Weg bringen.
Teile der nordischen, der mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten, die sich für einen zügigen EU-Beitritt der Ukraine stark machen, lehnen die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen ab. Um den legitimen Bedenken dieser Staaten Rechnung zu tragen, sollte eine Balance zwischen mehr Handlungsfähigkeit, demokratischer Legitimation und dem Schutz nationaler Interessen geschaffen werden. Denn die Politikfelder, in denen noch einstimmig entschieden werden muss, wie Steuer-, Außen- und Sicherheitspolitik, gehören zu den Kernbereichen nationaler Souveränität. Ein schrittweises Vorgehen, wie aktuell wieder im Rat diskutiert, hätte zwar den Vorteil, dass die allgemeine Passerelle-Klausel genutzt und in neuen Feldern Mehrheitsentscheide nach und nach eingeführt werden könnten, würde die grundsätzlichen Herausforderungen für die Handlungsfähigkeit der EU aber nicht lösen, da selbst vermeintlich »kleinere Bereiche« wie die Sanktionspolitik hochumstritten sein können.
Besser wäre es daher, die Überführung zur qualifizierten Mehrheit in kritischen Bereichen mit einer »Notbremse« zu kombinieren. Mit ihr könnte eine politisch zu definierende kleine Anzahl von Mitgliedstaaten (z. B. 10 Prozent, sprich bei einer EU‑30+ drei Staaten) erwirken, dass ein mit qualifizierter Mehrheit gefasster Beschluss, der ihre vitalen nationalen Interessen berührt, noch einmal dem Europäischen Rat vorgelegt wird. Die Staats- und Regierungschefs sollten dann eine Frist bekommen, innerhalb derer die betreffenden Mitgliedstaaten auf oberster Ebene ihre Interessen artikulieren und im Konsens eine Einigung gefunden werden könnte. Bei Nichteinigung kann nach Ablauf der Frist mit Mehrheit entschieden werden. Bis dahin sollte das Beschlussverfahren im Rat ausgesetzt werden. Vergleichbare »Notbremsen« gibt es etwa in der justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (Art. 82/83 AEUV), wodurch die Handlungsfähigkeit der EU und der Schutz nationaler Kerninteressen sichergestellt sind.
In der Vergangenheit haben solche »Notbremsen« die Sorgen der betreffenden Staaten adressiert, wurden dann in der Praxis aber kaum angewendet. Sollte es beim Thema Mehrheitsentscheide ähnlich kommen, würde die Handlungsfähigkeit der EU gestärkt, und es wäre für Ausnahmefälle ein Schutzmechanismus für Kerninteressen vorhanden. Eine derartige Reform wäre zwar nicht über die allgemeine Passerelle-Klausel umzusetzen, hätte aber größere Chancen, als Vorbereitung auf die nächste Erweiterung Einstimmigkeit unter den Mitgliedstaaten zu finden.
Dr. Nicolai von Ondarza ist Leiter der Forschungsgruppe EU / Europa.
Julina Mintel ist studentische Mitarbeiterin in der Forschungsgruppe EU / Europa.
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ISSN (Online) 2747-5018
DOI: 10.18449/2022A60