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Mehr EU-Mehrheitsentscheidungen – aber wie?

Rechtliche und politische Möglichkeiten zur Ausweitung des Mehrheitsprinzips

SWP-Aktuell 2022/A 60, 04.10.2022, 8 Pages

doi:10.18449/2022A60

Research Areas

In der Debatte darüber, wie die Handlungsfähigkeit der Europäischen Union (EU) ge­stärkt werden kann, werden die Rufe nach einer Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen lauter. Im Rat der EU wird aktuell diskutiert, die sogenannten Passerelle-Klau­seln im EU-Vertrag (EUV) zu nutzen. Mit ihnen ließen sich auch ohne große Ver­trags­änderung oder Konvent mehr Mehrheitsentscheidungen einführen. So ein Ver­zicht auf nationale Vetos erfordert aber zunächst Einstimmigkeit sowie zum Teil natio­nale Zustimmungsverfahren, die mit hohen Hürden verbunden sind. Eine solche Einstimmigkeit ist derzeit nicht in Sicht, da sich in kleineren und mittel­großen Mit­glied­staaten Widerstand regt und sie befürchten, regelmäßig über­stimmt zu werden. Not­wendig ist daher ein institutionelles Reformpaket, bei dem Mehrheitsentscheidun­gen auch mit dem Ziel ausgeweitet werden, eine neue EU-Erweiterung zu erleichtern, und mit Notfallklauseln zum Schutz nationaler Kern­interessen abgesichert werden.

Die Forderung, Mehr­heitsentscheide auszu­weiten, ist ein Dauerthema in der Debatte um die Handlungsfähigkeit der EU. Das Ziel war dabei stets dasselbe: In einer Union von aktuell 27 Mitgliedstaaten soll die Ausweitung von Mehrheitsentscheiden garantieren, dass die Anzahl an Vetospie­lern reduziert und somit die Kompromissfindung ein­facher wird. Denn zu häufig werden EU-Entschei­dungen durch einzelne Vetos blockiert, mit denen nationale Regie­rungen Partikular­interessen durchsetzen wollen, materielle Kompensationen fordern oder sogar in anderen Fragen, die nicht unmittelbar zur Debatte stehen, Zugeständnisse zu erhalten hoffen.

Bei jeder Vertragsänderung wurden bis­her die Anwendungsgebiete der Ein­stim­migkeit im Rat reduziert und diejenigen von Mehrheitsentscheiden ausgeweitet. Seit Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon 2009 hat es jedoch keine große Vertrags­änderung gegeben. Dennoch (oder gerade deswegen) wurde und wird immer wieder diskutiert, wie die Flexibilität dieses Vertrags genutzt werden kann, um die Union handlungs­fähiger zu machen. Der letzte große Vorstoß hierzu waren 2018/19 zwei Initia­tiven der Kommis­sion Juncker, in der Ge­meinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie in der Steuerpolitik gra­duell und zunächst in aus­gewählten Einzelbereichen zu Mehr­heitsentscheidungen über­zugehen. Beide Ini­tia­tiven haben die Mitgliedstaaten im Rat nicht akzeptiert, und die Kommission von der Leyen hat die Forderung nach Mehr­heits­entscheiden in diesen Politikfeldern bislang nicht mit Nachdruck weiterverfolgt.

Neue Impulse für Mehrheits­entscheide

Aktuell erhält die Debatte über die Aus­weitung von Mehrheitsentscheidungen aus drei Richtungen neue Impulse: Zum einen hat die Konferenz zur Zukunft Europas im Mai 2022 ihren Abschlussbericht vorgelegt. Zwar konnte die Konferenz, überschattet von der Corona-Pandemie und dem russi­schen Angriffs­krieg, keine große politische Zug­kraft ent­wickeln. Ihr Abschlussbericht ent­hält aber mit den Empfehlungen der reprä­sentativ zusammengesetzten europäischen Bürger­foren relevante Vorschläge, wie die EU weiterentwickelt werden könnte (siehe SWP-Aktuell 44/2022). Eine der weni­gen institu­tionellen Empfehlungen betrifft den Über­gang zu Mehrheitsentscheiden bei fast allen Beschlüssen des Rates. Das Euro­päi­sche Parlament fordert auf dieser Basis in einer Resolution vom Juni 2022 Vertrags­änderungen sowie einen weitreichenden Über­gang zu Mehrheitsentscheiden. Viele Mitgliedstaaten im Rat stehen Vertrags­änderungen jedoch kritisch gegenüber.

Zum anderen hat die Debatte über Mehr­heitsentscheidungen in der Außen- und Sicherheitspolitik neuen Nachdruck be­kom­men, nämlich durch die öffentlich um­strittene Nutzung von Vetomöglich­keiten. Zwei Beispiele: Die Republik Zypern hat im Herbst 2020 ihr Veto gegen EU-Sank­tionen gegen Belarus eingelegt – nicht weil die zypriotische Regierung die Maß­nah­men an sich ablehnte oder ihre nationa­len Inter­essen berührt sah, sondern weil sie mit dem Veto ein härteres Vorgehen der EU gegen die Türkei erzwingen wollte. Erst nach wochenlangen Verhandlungen konnte die EU die Sanktionen erlassen, obwohl in der Sache bereits Einigkeit herrschte.

Bei den Sanktionen gegenüber Russland wegen seines Angriffskrieges gegen die Ukraine hat die EU zunächst schnell Hand­lungs­fähigkeit bewiesen. Je länger der Krieg aber dauert, desto schwieriger ist es, diese zu erhalten. Insbesondere das sechste Sank­tionspaket wurde, mit Blick auf legitime nationale Wirtschaftsinteressen, etwa einen Monat lang verhandelt. Im Vergleich zu regu­lären EU-Entscheidungs­prozessen war das noch kurz, der Kriegs­situation aber dennoch nicht angemessen; die ersten fünf Sanktions­pakete konnten deutlich schneller auf den Weg gebracht werden. Erschwert wurden die Verhandlungen zum sechsten Paket am Ende auch durch ein drohendes ungarisches Veto. Um dieses zu verhindern, wurde etwa das Oberhaupt der russisch-ortho­doxen Kirche von den EU-Sank­tionen ausgenommen. Für Befür­worter von Mehrheitsentscheidungen belegt dieses Beispiel die Notwendigkeit, natio­nale Vetos weitgehend abzuschaffen.

Schließlich sind die Ukraine und die Re­pub­lik Moldau seit Juni 2022 offiziell EU-Beitritts­kandidaten; der Bei­tritts­prozess für die Staa­ten des west­lichen Bal­kans wird wiederbelebt. Perspektivisch ist damit die Vision einer EU mit über 30 Mitgliedern zurückgekehrt. Die Anzahl der Veto­spieler bei Ein­stimmigkeits­entscheidungen würde weiter steigen. Hinzu kommt, dass die Bei­trittskandidaten außer der Ukraine (und der Tür­kei) vor­nehmlich kleine bis kleinste Staa­ten sind, sodass sich die Diskrepanz zwi­schen Veto­macht und Bevölkerungsgröße bzw. Wirt­schafts­kraft weiter erhöhte. Eine neue Erwei­terungsrunde er­for­dert daher auch, Mehr­heitsentscheidun­gen auszuweiten; sonst könnten die Aufnahme- wie die Hand­lungsfähigkeit der EU gefährdet werden.

Rechtliche Möglichkeiten

Ein Übergang zu qualifizierten Mehr­heits­entscheidungen im Rat kann auf ver­schie­dene Weise erreicht werden (siehe Tabelle): außer durch klassische Vertragsreformen vor allem durch die Anwendung von Passe­relle-Klauseln oder der Ver­stärkten Zusam­menarbeit. Eine Vertrags­reform bedeutet in jedem Fall komplexe An­for­derungen auf EU-Ebene, das heißt in der Regel einen Konvent, sowie hohe Hür­den für die Ratifi­zierung auf natio­naler Ebene.

Tabelle

Rechtliche Möglichkeiten für den Übergang zu Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit

Instrument

Anwendungsbereiche

Verfahren auf europäischer Ebene

Erfordernisse auf
nationaler Ebene

Ordentliches Vertragsänderungsverfahren nach Art. 48 (2–5) EUV

Alle Politikbereiche.

Abhängig von den Politikbereichen, in denen das Entscheidungsverfahren angepasst werden soll. Teils ist ein Konvent mit anschließender Regierungskonferenz oder nur ein Beschluss der Regierungskonferenz nötig, jeweils mit Zustimmung aller Mit­gliedstaaten.

Ratifizierung nach den jeweiligen nationalen verfassungsrechtlichen Vorgaben.

Allgemeine Passerelle-Klausel nach Art. 48 (7) EUV

AEUV* und Titel V des EUV, schließt aus­wärtiges Handeln ein. Beschlüsse mit mili­tärischen Bezügen sind ausgeschlossen.

Einstimmiger Beschluss des Europäischen Rates über die Anwendung der Klausel für einen Politikbereich oder Fall. Übermittlung der Initiative an die nationalen Parlamente.
Stimmt das EP mit absoluter Mehrheit zu, kann der Europäische Rat die Anwendung der Klausel einstimmig beschließen.

Ratifizierung durch die nationalen Parlamente ist nicht notwendig. Dennoch bestehen entschei­dende nationale Hürden.

Passerelle-Klausel zur GASP: Art. 31 (3) EUV

GASP. Beschlüsse mit militärischen Bezügen sind ausgeschlossen.

Einstimmiger Beschluss des Europäischen Rates.

Beide speziellen Passerelle-Klauseln: Ebenfalls keine Ratifi­zierung notwendig;

nationale Hürden teil­weise etwas niedriger als bei allgemeiner Passerelle-Klausel.

Passerelle-Klausel zur Verstärkten Zusammenarbeit: Art. 333 AEUV

Politikbereich, der bereits Gegenstand einer Verstärkten Zusammenarbeit ist.

Einstimmiger Beschluss im Rat durch die an einer Verstärkten Zusammenarbeit teil­nehmenden Staaten.

* Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union

Seit dem Vertrag von Lissabon gibt es mit der allgemeinen Passerelle-Klausel ein auf europäischer Ebene einfacheres Verfahren, qualifizierte Mehrheitsentscheidungen einzuführen, bei dem nur der Europäische Rat einstimmig und das Euro­päische Parla­ment (EP) mit abso­luter Mehr­heit zustimmen müssen. Allerdings exis­tieren in eini­gen Mitgliedstaaten ent­schei­dende Hürden zur Akti­vierung der Klau­sel, die denen einer Ver­tragsreform ähn­lich sind, auch wenn keine Ratifizierung durch die natio­nalen Par­lamente notwendig ist.

Damit etwa der deutsche Vertreter im Europäischen Rat einem Beschluss zur An­wendung der Passerelle-Klausel zustimmen oder sich enthalten darf, ist gemäß dem Inte­grationsverantwortungsgesetz ein Gesetz im Sinne des Artikels 23 (1) Grund­gesetz nötig, dem Bundestag und Bun­desrat jeweils mit Zweidrittelmehrheit zu­stim­men müs­sen. Demnach sind die An­for­derungen ähn­lich hoch wie für Ver­trags­änderungen. In Öster­reich ist ebenfalls die Zustimmung beider Parlamentskammern mit Zweidrittel­mehr­heit bei Anwesenheit von mindestens der Hälfte der Abgeordneten erforderlich. In Dänemark genügt eine einfache Parla­ments­mehrheit bei Anwesen­heit von mehr als der Hälfte der Ab­geord­neten. So­fern die Akti­vie­rung der Klausel jedoch dazu ge­braucht wird, »Souveränität an inter­natio­nale Auto­ritäten abzugeben«, muss eine Fünf­sechstel­mehrheit im Parla­ment er­reicht werden, ebenso wie für die Ratifizierung von Ver­trags­reformen.

In Polen, Irland und der Tschechischen Republik müssen beide Parlamentskammern zustimmen, damit der jeweilige Re­präsentant im Europäischen Rat seine Zu­stimmung geben oder sich enthalten darf. In Malta wird die Aktivierung der Klausel wie eine Vertragsreform be­handelt und erfordert ebenfalls parlamentarische Zustim­mung. Die Beispiele zeigen: Verglichen mit den Hürden bei ordent­lichen Ver­trags­ände­rungen sind diejenigen bei Anwendung der Passe­relle-Klausel zwar etwas niedri­ger – in keinem Land ist eine Volks­abstim­mung obligatorisch –, aber politisch weder deut­lich leichter noch schnel­ler zu nehmen.

Für einige wenige Politikbereiche enthält der EU-Vertrag spezielle Passe­relle-Klauseln für den Übergang zu Mehr­heitsentschei­dun­gen. Die auf europä­ischer und natio­naler Ebene vorgesehenen Verfahren, um sie zu aktivieren, sind teilweise etwas ein­facher als bei der allge­meinen Klausel. Bei der spe­ziel­len Passerelle-Klausel zur GASP über­schneidet sich der Anwendungsbereich mit dem der allgemeinen Klausel. Allerdings domi­niert die Auffassung, dass die spezielle Vor­rang vor der allgemeinen hat. Es wird argumentiert, in diesem Politikfeld sei die Prüfung durch die nationalen Parlamente weniger zwingend und der Einfluss des EP kleiner, handele es sich bei der GASP doch um einen Mechanismus zur Koordinierung nationaler außenpolitischer Maßnahmen.

Die Methode der Verstärkten Zusammen­arbeit ist zwar weniger als allgemeiner Über­gang zu Mehrheitsentscheidungen anwend­bar, könnte aber als Druckmittel gegenüber Mitgliedstaaten eingesetzt werden, die häu­fig gemeinsame Entscheidungen blo­ckieren und gleichzeitig einen Übergang zu mehr Mehrheitsentscheidungen ablehnen.

(Un)geeignete Politikfelder

Ein Wechsel zu Mehrheitsentscheidungen ist nicht in allen Politikfeldern sinnvoll noch politisch möglich. Grund­sätzlich gilt seit dem Vertrag von Lissabon im Rat der EU das Mehrheitsprinzip, es sei denn, der Ver­trag schreibt explizit Ein­stim­migkeit oder besondere Mehrheitserfordernisse vor.

Das ist vor allem in Politikbereichen der Fall, die aus Sicht der Mitgliedstaaten sen­sibel sind. Darunter fallen etwa die GASP, Steuer- und Sozialpolitik, die operative poli­zeiliche Zusammenarbeit sowie der Beitritt neuer Mitglied­staaten. Neben der aktuellen Debatte um die Einführung qualifizierter Mehrheitsentscheidungen in der GASP stellt sich zumal im Nachgang zur Zukunftskonfe­renz die Frage, ob für den Übergang zu Mehrheitsentscheidungen auch in anderen Bereichen ein politisches Momen­tum vor­handen ist.

In einem Vorschlag von 2019 empfahl die Kommission Juncker, mit Hilfe der all­gemeinen Passerelle-Klausel schrittweise Mehrheitsentscheidungen in Steuerfragen einzuführen, und zwar zunächst dort, wo kein direkter Effekt auf die Besteuerungsrechte der Mitgliedstaaten besteht, wo aber Steuerflucht und ‑betrug effektiv bekämpft werden können. Darauf folgen sollten Ent­scheidungen fiskalischer Natur sowie Be­schlüsse, die Ziele in anderen Politikfeldern nützen oder bereits größtenteils harmonisierte Bereiche der Steuerpolitik betreffen, die aktu­alisiert werden müssen. Zuletzt soll­ten die Mehrheitsbeschlüsse auf Steuer­fragen aus­gedehnt werden, die für den Binnenmarkt von Bedeu­tung sind, wie eine Digitalsteuer.

Abgesehen von der Schwierigkeit, die EU-Staaten davon zu überzeugen, in einem für die nationale Souverä­ni­tät wichtigen Politik­feld mehr Mehrheitsentscheidungen einzuführen, stellen sich in der Steuer­politik auch ver­fassungsrechtliche Fragen. So wäre laut einer Stellungnahme des wis­sen­schaft­lichen Beirats des Bundes­finanz­ministeriums nur die erste Stufe der von der Kommission vorgeschlagenen Maßnahmen realisierbar, betrachtet man deut­sche verfassungsrecht­liche Vorgaben und die aktuelle institu­tionelle Struktur der EU. Auch hier rücken Bedenken über die demo­kratische Legitimation von Rechtsetzung mit Mehr­heitsentscheidungen in den Fokus.

Obwohl die Kommission von der Leyen diesen Vorschlag nicht wieder aufgegriffen hat, hat Ungarns Blockade eines Abkommens über einen globalen Mindeststeuersatz für multinationale Unternehmen ge­zeigt, dass das Vorhaben weiterhin relevant ist. Dies veranlasste das EP dazu, sich im Juli 2022 für eine schrittweise Einführung von Mehrheitsentscheidungen in Steuer­fragen auszusprechen.

In ihrem Vorschlag von 2018 zur GASP nannte die Kommission drei Themen, bei denen mit Mehrheitsentscheidungen begon­nen werden könnte: die gemeinsame Posi­tionierung der EU zu Menschenrechtsfragen in internationalen Foren, die Sank­tions­politik sowie die Ent­scheidung, zivile Mis­sio­nen durchzuführen. In der GASP ist es der­zeit am wahrscheinlichsten, dass es mehr Mehrheitsentscheidungen geben könnte.

Mehrheitsentscheide in der Praxis

Dass rechtliche Möglichkeiten existieren, Mehr­heitsentscheidungen auszuweiten, hat in der Praxis bislang nicht dazu geführt, dass dies geschehen wäre. Seit Inkrafttreten des Lissabonner Vertrags wurde weder die allgemeine noch eine spezielle Passerelle-Klausel angewendet. Aufschluss über den Wert von Mehrheitsentscheidungen und für welche Mitgliedstaaten sie besonders kri­tisch sind, gibt ihre bisherige Nutzung im Rat, dessen Arbeit weiterhin zu großen Tei­len auf dem Kon­sensprinzip beruht.

So zeigt die Analyse der seit 2010 ver­öffentlichten Abstimmungsprotokolle, dass sich die Mitgliedstaaten im Durchschnitt bei über 60 Prozent der Ab­stimmungen, bei denen eine Mehrheitsentscheidung möglich wäre, trotzdem einstimmig einigen. Nimmt man die Abstimmungen hinzu, bei denen es nur Enthaltungen, aber keine Gegenstim­men gibt, so erreicht der Rat eine »Kon­sens­quote« von durchschnittlich knapp 82 Pro­zent; 2021 waren es sogar 87,6 Pro­zent (eigene Berechnung). Auch unter Mehr­heits­bedingungen suchen die Mitglied­staa­ten also in der Regel einen Kompromiss, dem am Ende (fast) alle zustim­men können. Mehr­heitsbeschlüsse, bei denen ganze Grup­pen von Staaten über­stimmt werden, sind auch in einer EU mit 27 Mitgliedern eine Selten­heit geblieben.

Das bedeutet jedoch nicht, dass die Mehr­heitsregel die Dynamik von Entscheidungsprozessen in der EU nicht verändert – sie erzwingt nämlich europäische Diplomatie und Kompromisse. Bei der Einstimmigkeitsregel kann sich ein Mitglied, das einen EU-Vor­schlag ablehnt, auf sein Vetorecht be­rufen. Es muss weder Verbündete suchen noch Kom­promisse eingehen, bis seine For­derungen erfüllt werden. Insbesondere in Krisen­situ­ationen, die eine schnelle Re­aktion ver­langen, sitzen nationale Regie­rungen am längeren Hebel, und der »Preis«, sie von der Aufhebung ihres Vetos zu über­zeugen, steigt.

Anders ist es bei der qualifizierten Mehr­heit: Wenn eine natio­nale Regierung hier einen Vorschlag der EU-Kommission ab­lehnt, muss sie eine Sperrminorität von min­des­tens vier Mit­gliedstaaten, die mindestens 35 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren, organisieren, die dann mit der Mehr­heit einen Kom­promiss aushandelt. Es ist diese Ver­handlungsdynamik, die dazu führt, dass es bei über 80 Prozent der öffent­lichen Abstimmungsergebnisse des Rates keine Gegenstimmen gibt, weil sich am Ende alle dem Kompromiss anschließen (oder sich enthalten).

Dennoch sind Mehrheitsentscheidungen allein kein Garant für eine bessere Hand­lungsfähigkeit der EU. Sie sind ein institu­tionelles Mittel, um leichter Kompromisse zu finden, insbesondere dann, wenn nur einzelne Mitgliedstaaten ihr Vetorecht zur Blockade nutzen. Geht die Spaltung quer durch die Union, ermöglichen auch Mehr­heitsentscheide keine Lösung. Das beste Beispiel ist die seit 2015 de facto blockierte Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Obwohl mit dem Vertrag von Lissabon in diesem Bereich Mehrheitsentscheide ein­geführt wurden, sind die Mit­gliedstaaten in mindestens drei größere Blöcke gespalten, was eine Einigung auf das Gesamtpaket seit nunmehr sieben Jahren verhindert. Zuletzt gab es unter französischer Ratspräsi­dentschaft zwar kleine Fort­schritte, auf­bauend auf jahrelangen Ver­handlungen und einem Aufschnüren des Gesamtpakets in einzelne Rechtsakte, die große Reform bleibt aber blockiert. Damit die EU hand­lungsfähig ist, braucht es also mehr als nur Mehrheitsentscheidungen.

Ein flexibles System für künftige Erweiterungen

Ein großer Vorteil des Systems qualifizierter Mehrheit im Rat ist, dass es sich bei einer möglichen Erweiterung der EU anpassen würde. Der Stimmenanteil der Mitgliedstaaten wird – anders als vor dem Lissabonner Vertrag oder auch die Sitzverteilung im EP – nicht politisch ausgehandelt, sondern ma­the­matisch entsprechend der Bevölkerungs­größe ermittelt. Ein Blick auf die (potentiellen) Beitrittskandidaten aus dem westlichen Balkan sowie die Ukraine und die Republik Moldau zeigt, dass sich das System gut auf eine EU‑35 einstellen würde und diese handlungsfähig bliebe.

So wäre die Ukraine, gemessen an der Bevölkerungsgröße von 2020, der fünftgrößte Mitgliedstaat und dürfte bei der qua­li­fizierten Mehrheit auf einen Stimmen­anteil von etwa 8 bis 9 Prozent hoffen, was in etwa dem heutigen Stimmengewicht Polens entspricht. Alle Staaten des west­lichen Balkans und die Republik Moldau zusammen würden hingegen nur 4 Prozent der EU-Bevölkerung und damit des Stim­men­anteils ausmachen. Bei Einstimmigkeit hätten sie mit sieben nationalen Vetos eine überproportionale Entscheidungsmacht, gemessen an ihrer Bevölkerungsgröße, wäh­rend sie bei Mehrheitsentscheidungen Teil einer größeren Gruppe werden müssten, um ihre Verhandlungsziele durch­zusetzen.

Ein Stück weit würde auch eine Ost-West-Verschiebung beim Stimmenanteil der Mitgliedstaaten stattfinden, da bei einer neuen Erweiterungsrunde potentiell nicht nur die Ukraine, die Republik Moldau und (in mehreren Wellen) die Länder des west­lichen Balkans mitstimmen könnten, son­dern gleichzeitig proportional die Stimmen­anteile der bisherigen Mitglieder reduziert würden. In der EU‑27 haben Deutschland und Frankreich zusammen einen Anteil von etwa einem Drittel (und somit schnell eine Blockademinderheit von 35 Pro­zent der Stimmen organisiert) – in einer EU‑35 würde er auf knapp unter 30 Prozent fallen. Im Gegensatz dazu kommen alle mittel- und osteuropäischen Staaten der EU‑27 ge­meinsam auf knapp 23 Prozent, könn­ten theoretisch also auch alle zusam­men über­stimmt werden. Gemeinsam mit den poten­tiellen Neumitgliedern einer EU‑35 würde ihr Anteil auf etwa 32 Prozent steigen, das heißt über den von Deutsch­land und Frank­reich. Das System qualifizier­ter Mehrheit könnte seine volle Wir­kung entfalten – einer EU‑35 Handlungsfähigkeit garantieren, eine leichte Ver­schie­bung der Einfluss­ver­hältnisse ermög­lichen, ohne aber durch den Beitritt vieler kleiner Länder die Ent­schei­dungsverfahren zu verzerren.

Die Gefahr struktureller Minderheiten

Politisch abzuwägen ist der Einsatz von Mehr­heitsentscheidungen, weil er nega­tive Folgen für den Zusammenhalt und die Legi­ti­mation der EU zeitigen könnte. Zwei As­pek­te gilt es hierbei besonders zu beach­ten: zum einen den Fall, dass Mitgliedstaaten in Fragen von hohem nationalem Interesse über­stimmt werden. Werden Entscheidungen gegen den Willen der jeweiligen Regie­rung gefällt und diese rechtlich zur Um­setzung verpflichtet, liegt die alleinige poli­tische Ver­antwortlichkeit bei der EU. Dies kann EU-kritische Stimmen stärken und legiti­ma­torisch nur begrenzt durch eine Betei­li­gung des EP ausgeglichen wer­den, ins­beson­dere falls auch die Abgeordneten aus dem über­stimmten Land mehr­heitlich gegen den jewei­ligen Beschluss votiert haben.

Ein Beispiel hierfür war der hochumstrittene Mehrheitsbeschluss zur verpflichtenden Verteilung von Flüchtlingen 2015, der gegen den Willen mehrerer mittel- und ost­europäischer Staaten (Rumänien, Slo­wakei, Tschechien, Ungarn) getroffen wurde. Trotz rechtlicher Verpflichtung konnte der Be­schluss nie vollständig um­gesetzt werden und hat dazu beigetragen, dass sich die Spal­tung der EU in Fragen der Asyl- und Migra­tionspolitik vertieft hat und bis heute nicht überwunden werden konnte. Ebenso könnte ein Mehrheits­beschluss in der Außen- und Sicherheits­politik, der nationale Kerninter­essen eines oder mehrerer Länder nicht berücksichtigt, gravierende Fragen demo­kratischer Legi­timation aufwerfen. So hätte es etwa keine EU-Regierung akzep­tiert, wäre das wirtschaftlich einschnei­dende Öl­embargo gegen Russland gegen ihren Willen beschlossen worden.

Zum anderen können Probleme für die Legitimation der EU sich auch dann ergeben, wenn einzelne Staa­ten regelmäßig über­stimmt werden und so strukturelle Minder­heiten entstehen. Das beste Beispiel hierfür ist das Vereinigte König­reich, das seit 2010 bis zum Brexit jedes Jahr der am häufigsten überstimmte Mit­glied­staat war. Zwar votierte London immer noch in über 80 Prozent der Fälle für den jewei­ligen Kompromiss, aber der Eindruck, selbst in Kern­fragen nationaler Wirtschaftspolitik wie der Finanzmarkt­regulierung regelmäßig überstimmt zu wer­den, trug mit dazu bei, dass viele den EU-Austritt unterstützten und das Narrativ »take back control« sich festsetzen konnte.

Heute sind es vor allem mittel- und ost­europäische Staaten, die Mehr­heits­entschei­dungen ablehnen. Sie befürchten, dass die EU von Frankreich und Deutschland domi­niert werden könnte und in der Außen- und Sicherheits­politik die Belange kleinerer Mitglieder womöglich übergangen werden.

Betrachtet man die öffentlichen Abstim­mun­gsergebnisse des Rates, wird ein Trend erkennbar, der Befürwortern von Mehrheitsentscheiden zu denken geben sollte: Seit dem briti­schen Austritt ist es Ungarn, das am häu­figs­ten im Rat überstimmt wurde, 2020 ge­mein­sam mit Polen. 2021 waren Polen und Ungarn für 40 Pro­zent der Gegenstimmen im Rat ver­antwortlich, die Visegrád-Vier-Staaten (plus Slowa­kei und Tschechien) gemeinsam für 52 Pro­zent. Andererseits fiel kein Beschluss gegen die Stimmen von Deutschland, Frank­reich und Italien, alle drei Befürworter von mehr Mehrheitsentscheiden.

Allerdings wurde zumindest Deutschland auf längere Sicht seit 2010 regelmäßig überstimmt, insgesamt sogar öfter als Polen. Die Bundesrepublik kann deshalb glaub­würdig damit auftreten, dass sie auch als großes Land bereit ist, Mehrheitsentschei­dun­gen gegen die eigene Position zu akzep­tieren. Dabei ist jedoch zu beobachten, dass Gegenstimmen und Ent­haltungen in der ersten Hälfte der 2010er Jahre geo­gra­phisch noch gleichmäßig über die EU ver­teilt waren, während in den letzten Jahren zuneh­mend ein Ungleichgewicht zuun­guns­ten der mit­tel- und osteuropäischen Staaten ent­stan­den ist. Es ist daher politisch nicht ver­wun­der­lich, dass insbesondere diese Staaten skep­tisch sind gegenüber einer neuerlichen Aus­weitung von Mehrheits­beschlüssen.

Zeit für eine Paketlösung

Selbst wenn immer mehr Stimmen fordern, Mehrheitsentscheidungen auszuweiten, zeigt dieser Blick auf die Potentiale und Grenzen der vertraglichen Grundlagen sowie die bisherige Nutzung von Mehrheits­ent­schei­den schnell, warum die Debatte bis­lang immer im Sande verlaufen ist. Ob ordent­liche Vertragsänderung, allgemeine oder spezielle Passerelle-Klausel – einen Wech­sel hin zu (mehr) Mehrheitsentscheidungen müssen alle EU-Staaten mittragen. Zu­dem sind die Hürden für nationale Zustim­mungs­verfahren bei Anwendung der allgemeinen Passe­relle-Klau­sel nicht unwesentlich. Trotz – oder gerade wegen – der Forderungen etwa aus Deutsch­land, Frank­reich und Ita­lien sind andere EU-Staaten strikt gegen die Ab­schaffung nationaler Vetos. Dazu gehören Länder, die befürch­ten, regel­mäßig über­stimmt zu werden, wie etwa Polen und Ungarn, aber auch »prointegratio­nistische« wie Irland, die in Einzelbereichen wie der Steuerpolitik nicht überstimmt wer­den möch­ten. Andere Staaten wie Dänemark stehen Vertrags­änderungen und institutioneller Vertiefung skeptisch gegenüber.

Umso mehr der Ruf nach Mehrheits­entscheidungen damit begründet wird, im Zweifelsfall »unbequeme Partner« wie Polen oder Ungarn überstimmen zu kön­nen, desto entschiedener wird auch deren Wider­stand. Recht gibt ihnen dabei ein Blick auf die Abstimmungsprotokolle, nach denen Frank­reich so gut wie nie, Deutschland in den letzten Jahren nur selten, aber kleine mittel- und osteuropäische Mitgliedstaaten dafür häu­figer überstimmt werden. Im Falle um­fang­reicher Vertragsänderungen wäre es zwar möglich, deren Bedenken über eine große Paketlösung »wegzuverhan­deln«, eine solche große Vertragsreform zeichnet sich bis­her aber nicht ab.

Statt nur auf den Problemdruck zu setzen, sollte die Bundesregierung anregen, die For­derung nach mehr Mehrheitsentscheiden mit der neuen Osterweiterung zu einer Paket­lösung zu verknüpfen. Will die EU neue Mitglieder aufnehmen, muss sie selbst laut den Kopen­hagener Kriterien in der Lage sein, diese erfolgreich zu integrieren, ohne die eigene Handlungs­fähig­keit zu gefährden. Ein Beitritt mindestens der Ukraine und einiger Länder des west­lichen Balkans in einem Zeithorizont von sieben bis zehn Jahren ist nun denkbar geworden. Eine EU mit 30 und mehr Mit­gliedern, dar­unter etliche neue mit unter 10 Millionen Einwohnern, kann nur hand­lungsfähig bleiben, wenn gleich­zeitig flächendeckend das Mehrheitsprinzip ein­geführt wird, mit Ausnahme weniger konstitutioneller Ent­scheidungen. Nicht als Bremse, sondern parallel zum Beitrittsprozess sollte die EU also im Zeit­horizont der nächsten Legis­laturperiode (2024–29) die Ausweitung von Mehrheitsentscheidungen auf den Weg bringen.

Teile der nordischen, der mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaa­ten, die sich für einen zügigen EU-Bei­tritt der Ukraine stark machen, lehnen die Ausweitung von Mehr­heitsentscheidungen ab. Um den legi­timen Bedenken dieser Staaten Rechnung zu tragen, sollte eine Balance zwischen mehr Handlungs­fähigkeit, demokratischer Legi­timation und dem Schutz nationaler Inter­essen geschaffen werden. Denn die Politik­felder, in denen noch einstimmig entschieden wer­den muss, wie Steuer-, Außen- und Sicher­heitspolitik, gehören zu den Kern­bereichen nationaler Souveränität. Ein schritt­weises Vorgehen, wie aktuell wieder im Rat diskutiert, hätte zwar den Vor­teil, dass die allgemeine Passerelle-Klausel genutzt und in neuen Feldern Mehrheitsentscheide nach und nach eingeführt wer­den könnten, würde die grundsätzlichen Herausforderungen für die Handlungsfähigkeit der EU aber nicht lösen, da selbst ver­meintlich »kleinere Be­rei­che« wie die Sank­tionspolitik hoch­umstrit­ten sein können.

Besser wäre es daher, die Überführung zur qualifizierten Mehrheit in kritischen Bereichen mit einer »Notbremse« zu kom­bi­nieren. Mit ihr könnte eine politisch zu defi­nierende kleine Anzahl von Mitgliedstaa­ten (z. B. 10 Prozent, sprich bei einer EU‑30+ drei Staaten) erwirken, dass ein mit quali­fi­zierter Mehrheit gefasster Be­schluss, der ihre vitalen nationalen Interessen be­rührt, noch einmal dem Europäischen Rat vorge­legt wird. Die Staats- und Regie­rungs­chefs soll­ten dann eine Frist bekommen, inner­halb derer die betreffenden Mit­glied­staaten auf oberster Ebene ihre Inter­essen artikulieren und im Konsens eine Einigung gefun­den werden könnte. Bei Nichteinigung kann nach Ablauf der Frist mit Mehr­heit ent­schie­den werden. Bis dahin sollte das Beschlussverfahren im Rat aus­gesetzt wer­den. Ver­gleichbare »Notbremsen« gibt es etwa in der justiziellen Zusammenarbeit in Straf­sachen (Art. 82/83 AEUV), wodurch die Hand­lungsfähigkeit der EU und der Schutz natio­naler Kern­interessen sichergestellt sind.

In der Vergangenheit haben solche »Not­bremsen« die Sorgen der betreffenden Staa­ten adressiert, wurden dann in der Praxis aber kaum angewendet. Sollte es beim The­ma Mehrheitsentscheide ähnlich kom­men, würde die Handlungsfähigkeit der EU ge­stärkt, und es wäre für Ausnahmefälle ein Schutzmechanismus für Kerninter­essen vorhanden. Eine derartige Reform wäre zwar nicht über die allgemeine Pas­serelle-Klausel um­zusetzen, hätte aber größere Chancen, als Vor­bereitung auf die nächste Erweiterung Ein­stimmigkeit unter den Mit­gliedstaaten zu finden.

Dr. Nicolai von Ondarza ist Leiter der Forschungsgruppe EU / Europa.
Julina Mintel ist studentische Mitarbeiterin in der Forschungsgruppe EU / Europa.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2022

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