Liefer- und Versorgungsengpässe bei Arzneimitteln werden in der EU zu einem wachsenden Problem. An politischen Initiativen mangelt es nicht, aber es fehlt meist der entscheidende Punkt: die Diversifizierung von Lieferketten, meint Michael Bayerlein.
In einem Anfang Mai veröffentlichten »Non-Paper« skizzieren 19 EU-Staaten – darunter Deutschland, Frankreich, Ungarn und Polen – Möglichkeiten, um das wachsende Problem von Lieferengpässen bei Arzneimitteln zu bekämpfen. Vor allem bei Generika, also Medikamenten ohne Patentschutz, ist die Lage dramatisch. Betroffen sind insbesondere Antibiotika, onkologische Präparate sowie paracetamol- und ibuprofen-haltige Medikamente wie Kinderfiebersäfte. Um das Problem zu lösen, nimmt die Rückverlagerung von Produktionsstätten in die EU sowohl im »Non-Paper« als auch im jüngsten Vorschlag der deutschen Bundesregierung am Rande des Treffens der EU-Gesundheitsminister in Stockholm eine zentrale Rolle ein. Das Fundament und oberste Ziel jeder Strategie muss jedoch die Diversifizierung der Lieferketten sein. Bisherige Initiativen vernachlässigen dies.
Gesundheitsminister Karl Lauterbach wirbt für eine »gesamteuropäische Antwort«. Sein Vorschlag, Teile der Generikaproduktion zurück in die EU zu holen, fußt auf einer aktuellen deutschen Gesetzesinitiative zur Bekämpfung von Lieferengpässen bei patentfreien Arzneimitteln. Diese sieht unter anderem vor, Anreize zur Rückverlagerung zu schaffen, indem europäische Produktionsstandorte im Vergabeverfahren auch einen Zuschlag bekommen müssen, selbst wenn sie höhere Preise verlangen.
Einen ähnlichen Ansatz wählt auch das »Non-Paper« der 19 EU-Mitgliedstaaten. Darin wird ein »Critical Medicines Act« gefordert, um – in Anlehnung an den »European Chips Act« und den »Critical Raw Materials Act« - wesentliche Produktionsschritte in die EU zurückzuverlagern. Obwohl eine Anlehnung an Initiativen im Bereich kritische Rohstoffe sinnvoll ist, kann die Rückverlagerung der Produktion in die EU und auch die Verpflichtung der Hersteller zur Bevorratung, wie sie in der deutschen Gesetzesinitiative enthalten ist, nicht der einzige Weg sein. Während Rückverlagerung und Bevorratung in noch genau zu prüfenden Einzelfällen sinnvoll sein können, sind diese Strategien mit enormen Kosten verbunden. Da Hersteller meist aufgrund geringer Gewinnmargen und mangelnder Investitionsanreize abwandern, müssten entweder die Produktion dauerhaft subventioniert oder die Marktpreise erhöht werden. Das würde Krankenkassen und/oder Versicherte belasten. Entscheidend ist daher eine weitere Komponente, die bisher wenig Beachtung gefunden hat, aber das Fundament einer robusten europäischen Arzneimittelversorgung darstellen könnte: Die Diversifizierung der Lieferketten.
Die EU ist beim Import von Generika in weiten Teilen abhängig von Vorprodukten, Wirkstoffen (API) und fertigen Dosen (FPP) aus ausländischer Produktion. Handelsdaten von Eurostat zeigen, dass im Jahr 2021 79 Prozent aller Antibiotika API-Importe (Handelskennung 2941) aus China und 82 Prozent der Ibuprofen-API-Importe (Handelskennung 29163990) zu etwa gleichen Teilen aus China und Indien stammten. Zudem konzentriert sich die Herstellung von mehr als 50 Prozent der globalen API-Produktion auf fünf Hersteller. Diese extreme Konzentration führt dazu, dass europäische Lieferketten äußerst anfällig sind und sicherheitspolitisch relevante Angriffsflächen bieten. Während der Covid-19 Pandemie wurde das geopolitische Potential von Medizinprodukten bereits deutlich und es ist naheliegend, dass sie in Zukunft vermehrt als geopolitische Instrumente eingesetzt werden. Um diese Importkonzentration zu überwinden, müssen daher neue Lieferketten geschaffen werden. Dabei kommt es auf zwei Punkte an:
Erstens sind transparentere Lieferketten notwendig, um kritische Abhängigkeit zu identifizieren. Derzeit hat weder die EU-Behörde für die Krisenvorsorge und -reaktion bei gesundheitlichen Notlagen (HERA) noch ein anderes Organ die Kompetenzen, Unternehmen zur Offenlegung ihrer Lieferketten zu verpflichten. Es gilt durch die EU-Kommission zu prüfen, ob eine solche Kompetenz mittels EU-Recht geschaffen werden kann. Um unnötige Bürokratie zu vermeiden und Unternehmen zu schützen, ist eine Offenlegungspflicht aber nur anlassbezogen sinnvoll. Anlehnung könnte die EU-Kommission im Wettbewerbsrecht finden, das von Unternehmen in bestimmten Fällen Transparenz verlangt, wie etwa bei Subventionen und Fusionen.
Zweitens wird die EU weiterhin abhängig von günstigen Arzneimitteln aus dem Ausland sein, da sich eine umfangreiche Verlagerung der Produktion in die EU nicht dauerhaft finanzieren lässt. Dies gilt umso mehr, als eine Anschubfinanzierung allein nicht ausreichen wird, sondern es einer dauerhaften Unterstützung von Unternehmen durch Staaten, Krankenkassen und/oder Versicherten bedarf. Zum Aufbau neuer Lieferketten könnten Unternehmen – vermittelt und abgesichert durch Mitgliedstaaten oder die EU – in Anlehnung an die »Europäische Rohstoffallianz« (ERMA) und die »Raw Materials Investment Platform« (RMIP) zum Beispiel in Afrika oder Südostasien neue Zulieferer und Hersteller finden beziehungsweise lokale Produktionen aufbauen oder ausweiten. Auch hiermit sind Kosten verbunden, da Projekte auch scheitern und Diversifizierung kostensparenden Skaleneffekten zuwiderläuft. Allerdings dürften diese Kosten geringer sein als bei einer Strategie, die ausschließlich auf die Rückverlagerung der Produktion in die EU und die Bevorratung ohnehin knapper Güter setzt.
Überwindung von Importabhängigkeiten bei Antibiotika durch EU-Behörde HERA
doi:10.18449/2022A75
»Friend-shoring« als Zielvorgabe für den Umbau von Lieferketten
doi:10.18449/2022A45
doi:10.18449/2022WP05