Ende 2021 fand ein erstes Treffen im Rahmen der sogenannten »3+3-Kooperationsplattform« statt. Die Initiative strebt an, die südkaukasischen Länder Armenien, Aserbaidschan und Georgien – das indes seine Nichtteilnahme verkündet hat und fernblieb – sowie die Regionalmächte Iran, Russland und Türkei zusammenzubringen. Ziel ist, die multilaterale Kooperation auszubauen; weitere Treffen sollen in regelmäßigem Turnus folgen. Die Plattform ist Ausdruck von Dynamiken regionaler Neuordnung im Südkaukasus infolge des Krieges in und um Berg-Karabach im Herbst 2020 und damit verbunden dem Gestaltungsanspruch Russlands und der Türkei. Sie ist zudem ein Beispiel dafür, wie diese Neuordnungsprozesse bereits vor den tektonischen Verschiebungen im Kontext des gegenwärtigen Krieges in der Ukraine die Spielräume für die EU in der Region verschoben haben.
Russlands Krieg gegen die Ukraine gilt als Zäsur. Moskaus Einflussanspruch indes richtet sich auch auf andere Teile seiner Nachbarschaft, so den Südkaukasus. Die 2021 initiierte »3+3-Konsultationsplattform« für die Region kann, obschon ursprünglich nicht in Moskau ersonnen, durchaus als ein Beispiel dafür angesehen werden, wie Russland seine hegemonialen Ambitionen im postsowjetischen Raum verfolgt, auch jenseits des Einsatzes militärischer Mittel.
Die Vize-Außenminister der an der neuen Plattform beteiligten Staaten trafen sich erstmals am 10. Dezember 2021 in Moskau im Rahmen dieses Formats. Georgien gehört bislang de facto nicht dazu, denn Tbilisi folgte der Einladung nach Moskau nicht. Die Teilnehmenden vereinbarten, sich auf praktische Fragen zu konzentrieren, bei denen sich ihre Interessen überschneiden. Konkret hervorgehoben wurden Themen wie »vertrauensbildende Maßnahmen, Handel und wirtschaftliche Zusammenarbeit, Verkehr und kulturell-humanitäre Hilfe sowie die Bewältigung gemeinsamer Herausforderungen und Bedrohungen«.
Trotz der Absage Georgiens hält man auch nach dem Moskauer Treffen offiziell an der Bezeichnung »3+3« fest; das Format soll explizit die gesamte Region im Blick haben. Geplant ist bisher, mindestens zwei Mal im Jahr an rotierenden Orten für Konsultationen zusammenzukommen. Die Frage, auf welcher politischen Ebene das Format künftig angesiedelt sein soll, scheint noch nicht endgültig geklärt. Das gilt ebenso für viele andere Aspekte dieser »work in progress«, etwa was einen möglichen institutionellen Unterbau angeht.
Die Idee für das Format hat Ende 2020 die Türkei ins Spiel gebracht. Wirklich Fahrt aufgenommen hat das Projekt jedoch erst, nachdem Russland in der zweiten Jahreshälfte 2021 seine Unterstützung bekundet hatte. Armenien, Aserbaidschan und Georgien sowie Russland, die Türkei und Iran sollen im Rahmen der Plattform zusammenwirken, um regionale Kooperation und Stabilität im Südkaukasus zu stärken. Demnach kann die Plattform verstanden werden als Teil des Prozesses regionaler Neuordnung im Kontext bzw. infolge des »44-Tage-Krieges« in und um Berg-Karabach zwischen Armenien und Aserbaidschan im Herbst 2020. Angesichts von Russlands Krieg in der Ukraine ist die Zukunft des Formats alles andere als klar. Gleichwohl lassen sich anhand der Entwicklung des Formats die komplexen Kräftekonfigurationen »post 2020« ablesen – die auch den Spielraum zukünftiger EU-Politik in der Region mitabstecken.
Blick zurück
Das 2021 ins Leben gerufene 3+3-Format ist alles andere als eine neue Idee. In der Vergangenheit gab es immer wieder ähnliche Initiativen: Multilaterale Kooperation sollte durch eine gewisse Form der Institutionalisierung in einer »Region« intensiviert werden, die (nicht nur, aber eben auch) durch Territorialkonflikte, unterschiedliche Ordnungs- und Herrschaftsvorstellungen, divergente strategische Orientierungen sowie ethnische, religiöse und linguistische Diversität gekennzeichnet und dadurch fragmentiert ist. Die Initiativen sahen, in Variation, zudem vor, die früheren Imperial-, jetzt Regionalmächte Iran, Türkei und Russland zu beteiligen, deren Beziehungen allerdings sowohl untereinander als auch zu den drei südkaukasischen Staaten nicht frei von historisch tradiertem Misstrauen sind.
Die bislang für eine solche Kooperation vorgeschlagenen Konstellationen spiegelten drei Dinge wider: die Interessen derjenigen Akteure, die diese Ideen lancierten, den jeweiligen regionalpolitischen Kontext sowie das Verhältnis der Akteure untereinander. Zu den frühen Initiativen zählt die Formulierung mehrerer Grundprinzipien für regionale Kooperation, die der damalige georgische Präsident Schewardnadse im Frühjahr 1996 kundtat und die später unter dem Namen »Friedlicher Kaukasus« firmierten. Wie die aktuelle Initiative sah auch dieses Konzept in der verstärkten ökonomischen Zusammenarbeit einen Anreiz für Stabilität in der Region. Zeitlich fast parallel gab es 1996 ein erstes Treffen im Kreis der später sogenannten »Kaukasus Vier«, zu denen außer den drei südkaukasischen Staaten Russland gehörte, von wo die Idee stammte.
Im Jahr 2000 reanimierte Moskau den Vorschlag, in einem solchen Vierer-Format eine gemeinsame Verständigung über regionale Sicherheit zu erreichen. Diese Wiederaufnahme der Initiative unter Präsident Putin, die Russland eine Sonderrolle in Fragen regionaler Sicherheit im Südkaukasus zuschrieb, haben Beobachterinnen und Beobachter allerdings auch als Maßnahme interpretiert, den damals steigenden US-amerikanischen Einfluss in der Region einhegen zu wollen – mithilfe eines exkludierenden Formats.
Im Kontext des Gipfeltreffens der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) 1999 in Istanbul wurden ebenfalls Ideen für regionale Kooperation im Südkaukasus formuliert. Sie gingen, zum Unmut Moskaus, von einem größeren Teilnehmerkreis aus. Vorschläge zur Etablierung einer Art Stabilitäts- oder Sicherheitspakt für den Südkaukasus kamen aus Baku, Eriwan, Tbilisi und Ankara. Sie sahen ebenso für die USA, zum Teil auch für die EU Rollen vor. Iran war ähnlich wie Russland dagegen, westliche Akteure bei Fragen regionaler Kooperation im Südkaukasus zu berücksichtigen. Während eines Besuchs bei den südkaukasischen Nachbarn 2003 warb Irans damaliger Außenminister entsprechend für ein regionales Sicherheitssystem nach der Formel »3+3«, das also neben den drei südkaukasischen Ländern Russland, Iran und die Türkei umfassen sollte.
Die aktuelle 3+3-Plattform ist vor allem mit der türkischen Initiative von 2008 in Bezug gesetzt worden. Im Kontext des Krieges zwischen Russland und Georgien warb Ankara damals erneut für eine regionale multilaterale Zusammenarbeit, diesmal unter dem Titel »Kaukasus Stabilitäts- und Kooperationsplattform«. Die Türkei brachte sich so neben Russland abermals selbst als gestaltende Regionalmacht ins Spiel. Das vorgeschlagene 3+2-Format allerdings sparte anders als frühere Vorschläge die westlichen Partner aus, was diese brüskierte, insbesondere Washington. Sowohl der Fokus auf die Türkei und Russland als regionale Gestaltungskräfte als auch die Ausklammerung der EU und der USA bei Fragen südkaukasischer Kooperation und Sicherheit begünstigen Vergleiche mit der letztes Jahr begonnenen Initiative.
Neuer Wein in alten Schläuchen?
All den genannten früheren Kooperationsinitiativen ist gemein, dass sie sich letztlich nicht verwirklichen ließen, sie oft nicht einmal über das Stadium des schlagwortartigen Gedankenspiels hinauskamen. Multilaterale Zusammenarbeit in Gestalt gesamtregionaler Ansätze, die eine Form kooperativer Sicherheit etabliert hätten, konnte nicht umgesetzt werden. Stattdessen lässt sich für den Südkaukasus in seiner postsowjetischen Zeit konstatieren, dass Kooperation als Allianzpolitik realisiert wurde. Dementsprechend dienten strategische Partnerschaften, Bündnisse und Koalitionen nicht zuletzt der eigenen sicherheitspolitischen Absicherung, sowohl durch »bandwagoning« als auch »balancing«. Diese Art der Zusammenarbeit war also vielmehr ein Abbild der vorhandenen vielschichtigen und komplexen Bruch- und Spannungslinien – intraregional zwischen den südkaukasischen Staaten, in Bezug auf die Regionalmächte sowie das Verhältnis zwischen Russland und dem »Westen« –, als dass sie sie überwunden hätte.
Um die Vorschläge für einen Stabilitätspakt, wie sie um die Jahrtausendwende formuliert wurden, umzusetzen, hätte es nicht weniger bedurft als eines Paradigmenwechsels der transnationalen politischen Praxis der potentiell involvierten Akteure, so damalige nahe Beobachter und Beobachterinnen. Zudem sei die »Region« Südkaukasus vor allem eine Projektion externer Akteure, de facto seien die lokalen Interdependenzen und Anreize für Kooperation gering, lautet ein weiterer Einwand. Gelten diese Ausgangsbedingungen bzw. Voraussetzungen weiterhin? Und woran lässt sich Erfolg und Nichterfolg (und aus wessen Perspektive?) der im Dezember gestarteten Initiative überhaupt festmachen?
Neue Voraussetzungen für Kooperation: 3+3 im Entstehungsprozess
Ein wesentlicher Unterschied zu früheren Initiativen liegt in den veränderten lokalen Bedingungen: Der Ausgang des »44-Tage-Krieges« in und um Berg-Karabach im Herbst 2020 veränderte den seit den 1990er Jahren bestehenden regionalen Status quo. Aserbaidschan ging als Sieger aus dem Krieg hervor; die Regierung profitierte vom »rally around the flag«-Effekt. Die unterlegene armenische Seite indes verlor weite Teile der Gebiete, die sie seit Anfang der 1990er Jahre kontrolliert hatte. Auf der regionalen Ebene profitierte Russland vom »44-Tage-Krieg«, aber auch die Türkei.
Ankara und Baku rückten während des Krieges zusammen und haben in der Zeit danach ihre Beziehungen weiter ausgebaut. Im Juni 2021 unterzeichneten sie die »Schuscha-Deklaration über alliierte Beziehungen«. Überdies ist die Türkei Partner im gemeinsam mit Russland betriebenen Beobachtungszentrum, das die Einhaltung des Waffenstillstands überwachen soll. Dieser wiederum war erst durch russische Vermittlung herbeigeführt worden. Mit der Stationierung von offiziell knapp 2.000 russischen Soldaten (Friedenstruppen) im Konfliktgebiet auf der Grundlage des Waffenstillstandsabkommens vom 9. November 2020 ist Moskau nun in allen drei südkaukasischen Staaten militärisch präsent. Iran, zumindest potentiell ebenfalls eine Regionalmacht im Südkaukasus, blieb ein sekundärer Akteur, obwohl es diplomatische Bemühungen für einen eigenen Friedensplan unternommen hatte.
Anspruch auf die Gestaltung der regionalen Ordnung »post 2020«
Russland betrachtet den Südkaukasus als eine Sphäre privilegierter Interessen, die aus seiner Sicht nicht in westliche Integrationsprojekte einbezogen werden darf. Diese Perspektive wurde zuletzt durch den Angriff auf die Ukraine auf dramatische Weise aktualisiert. Die Türkei – von vielen Beobachtern und Beobachterinnen als »game changer« im Krieg in und um Berg-Karabach bewertet – hat eigene geopolitische Ambitionen, die über das Schwarze Meer und den Südkaukasus bis nach Zentralasien reichen. Iran verfolgt aufmerksam die Intensivierung des Bündnisses Türkei–Aserbaidschan, beides Länder, mit denen Teheran wechselhafte Beziehungen unterhält. Es strebt ein Mitspracherecht bei der Gestaltung einer neuen regionalen Ordnung an.
Nicht zuletzt aufgrund ihrer Rollen im Kontext des »44-Tage-Krieges« sahen sich Russland wie auch die Türkei in ihrem Gestaltungs- bzw. Führungsanspruch in der Region bestätigt. Ausdruck dessen ist ebenso die Etablierung des 3+3-Formats, das von allen Akteuren außer Georgien zumindest formell unterstützt wird. Die Umbenennung in »3+3« der von türkischer Seite zunächst als »Sechs-Staaten-Plattform« beworbenen Initiative verweist auf die Machtasymmetrie zwischen den Ländern – und reflektiert, nicht ohne Symbolik, die historische Dimension imperialen Einflusses in der Region.
Dass die Plattform, anders als manche Vorschläge in der Vergangenheit, weder der EU noch den USA einen Platz zubilligt, knüpft an frühere Bestrebungen Moskaus, Ankaras und Teherans an, westliche Akteure in der Region zu isolieren bzw. im Fall von Nato-Mitglied Türkei deren Vertretung selbst wahrzunehmen.
Positionen und Reaktionen der südkaukasischen Staaten
Nicht alle potentiellen Teilnehmerstaaten reagierten mit Begeisterung auf die Idee einer neuen regionalen Plattform. Das georgische Außenministerium erklärte bereits im Januar 2021 mit Blick auf Russlands Beziehungen zu den von Georgien abtrünnigen De-facto-Staaten Abchasien und Südossetien, Georgien könne nicht Teil einer Plattform sein, unter deren Mitgliedern ein Staat sei, der georgische Gebiete okkupiere. Auch ohne Beteiligung Tbilisis wurde beim ersten Zusammenkommen im Rahmen der 3+3-Plattform in Moskau die georgische Flagge gehisst. Das Aufstellen der Flagge ist mehr als eine symbolische Rechtfertigung, am Namen »3+3« festzuhalten: Vielmehr erstreckt sich aus russischer Perspektive die südliche Interessensphäre auch auf Georgien. Zumindest symbolisch sollte Tbilisi daher wohl mit im Raum sein. Dafür, dass dies beim nächsten Treffen in Form eines offiziellen Vertreters der Fall ist, sollten sich nach Meinung Moskaus fortan Eriwan, Baku und Ankara einsetzen.
Für Armenien allerdings ist das Ausscheren Georgiens wohl nicht ganz unwillkommen, steht es doch selbst dem Format eher zurückhaltend gegenüber. Die Teilnahme an einer regionalen Initiative zusammen mit der Türkei und Aserbaidschan dürfte für die Regierung Pashinyan direkt nach der Niederlage im »44-Tage-Krieg« in und um Berg-Karabach kaum vertretbar gewesen sein. Auch nach den vorgezogenen Parlamentswahlen im Juni 2021, die der armenischen Regierungspartei ein frisches Mandat bescherten, äußerte Premier Pashinyan noch im November 2021 seine Bedenken und betonte, das 3+3-Format dürfe nicht bereits bestehende Vereinbarungen und Formate replizieren. Dass sich Armenien letztlich an der Initiative beteiligt, deutet auf die Einflusshebel Russlands hin, die den außenpolitischen Spielraum des Landes dahingehend einschränken, dass Eriwan einem von Russland dezidiert vorangetriebenen regionalen Projekt kaum offen den Rücken kehren kann.
Anders als Armenien und Georgien hat Aserbaidschan die Initiative begrüßt. Baku versucht, die aus dem Krieg gewonnene Verhandlungsmacht zum eigenen Vorteil in der Region zu nutzen, zum Beispiel für die Einrichtung eines Transportweges zwischen Armenien und Aserbaidschan. Dieser würde aus Bakuer Sicht insbesondere eine Verbindung zur aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan (und damit auch zum engen Partner Türkei) per Schiene und Straße herstellen.
Dass sich Armenien und Georgien vorsichtiger bzw. ablehnend gegenüber dem 3+3-Format positioniert haben, zeigt das Misstrauen gegenüber den geopolitischen Bestrebungen der mächtigeren Nachbarn. Das gilt vor allem für Georgien, das im Gegensatz zu Armenien und Aserbaidschan im 3+3-Format keinen sicherheitspolitischen Verbündeten hätte. Die USA, mit denen Georgien sicherheitspolitisch eng zusammenarbeitet, sind von der Kooperation ausgeschlossen, ebenso die EU, an die es jüngst einen Antrag auf Mitgliedschaft gestellt hat. Aus der Perspektive Tbilisis würde eine Teilnahme an dem neuen Format bedeuten, mit dem bedrohlichen nördlichen Nachbarn praktisch allein gelassen zu sein.
Wohl nicht zuletzt, um sein Land nicht selbst ins Abseits zu manövrieren, hat der georgische Premier Gharibashvili im Herbst 2021 eine eigene regionale Initiative ins Gespräch gebracht, die »Peaceful Neighborhood Initiative«. Sie soll auf die drei südkaukasischen Staaten fokussieren, Vertrauensbildung erleichtern und regionale Fragen gemeinsam mit den Partnern USA und EU lösen. Ob die georgische Initiative gegenüber dem 3+3-Format eine Alternative darstellen kann, bleibt fraglich. Zwar hat Tbilisi im letzten Jahr bewiesen, dass es zwischen den direkten Nachbarn im Südkaukasus vermittelnd wirken kann. Falls die georgische Initiative aber als Gegengewicht zur 3+3-Plattform mit ihrer spezifischen Machtasymmetrie gedacht sein sollte, dürfte Tbilisi allein kaum über das nötige politische Gewicht verfügen, um eine solche regionale Rolle zu übernehmen.
3+3 im größeren Kontext
Neben der komplexen regionalen Konstellation sind für die Zukunft der 3+3-Plattform die aktuellen Entwicklungen in der weiteren Nachbarschaft entscheidend. Außer der zentralen Frage, wie Russland selbst aus dem Krieg gegen die Ukraine hervorgeht, gilt das an vorderster Stelle auch für das ambivalente Verhältnis zwischen Russland und der Türkei, deren wenigstens potentielle Spannungsherde in Zentralasien beginnen und sich entlang des Südkaukasus bis zum Schwarzmeerbecken und darüber hinaus erstrecken.
Die Türkei etwa reagierte mit Besorgnis auf die Entwicklungen im Zusammenhang mit den Massenprotesten in Kasachstan Anfang 2022. Die Entsendung einer Mission der Organisation des Vertrags über kollektive Sicherheit (OVKS), um bei der »Befriedung« der Lage zu helfen, bedeutete eine Bekräftigung Russlands als Sicherheitsgarant in Kasachstan. Für die Türkei war dies ein Rückschlag bei ihrem Versuch, den eigenen Einfluss in Zentralasien auszuweiten.
Sehr viel einschneidender könnte sich der Krieg in der Ukraine auf das türkisch-russische Verhältnis auswirken. Nicht nur Moskau, auch Kyjiw ist ein strategischer Partner Ankaras, die wirtschaftlichen Beziehungen zu beiden Ländern sind eng. Immer wieder manifestierte sich das daraus entstehende Spannungspotential. Im Dezember letzten Jahres etwa kritisierte Russlands Präsident Putin die Türkei scharf, weil sie der ukrainischen Armee ihre »Bayraktar TB2«-Drohnen verkaufte. Diese setzt die Ukraine nun bei der Verteidigung gegen den russischen Angriff ein; ukrainische Berichte, denen zufolge nach Kriegsbeginn weitere Drohnen aus der Türkei bezogen wurden, hat die türkische Seite nicht dementiert. Noch scheint die Türkei, immerhin Nato-Mitglied, zu versuchen, ihre pragmatische Politik gegenüber Russland fortzuführen und damit den außenpolitischen Spagat zu halten. Unklar ist, ob und wie sie das auch zukünftig wird aufrechterhalten können.
Potentieller Mehrwert jenseits sachspezifischen Outputs
Ob sich die 3+3-Plattform längerfristig etablieren und bei den bislang nur vage skizzierten thematischen Kooperationsfeldern einen entscheidenden sachspezifischen Mehrwert liefern kann, ist zum jetzigen Zeitpunkt völlig offen, betrachtet man die vielschichtigen Spannungslinien zwischen den beteiligten Staaten und die geopolitischen Verwerfungen im Kontext des Krieges in der Ukraine. Ähnlich wie bei vorangegangenen Initiativen liegt die Triebkraft für das (in diesem Fall zumindest formale) Zustandekommen der Plattform bei den jeweiligen Regierungen. Das Ergebnis organisch gewachsener transnationaler Interaktionsdynamiken von Zivilgesellschaften oder der (Privat-)Wirtschaft, die die angestrebte Kooperation gegebenenfalls unterfüttern und dadurch auch (idealtypisch) nachhaltiger machen könnten, ist sie nicht.
Die Regionalmächte, Impulsgeber der aktuellen Initiative, ähneln sich darin, nichtdemokratische Staaten zu sein. In Russland beschleunigt der vom Kreml initiierte Krieg gegen die Ukraine zudem einen Prozess der weiteren Beschneidung liberaler Grundrechte. Freilich ist Multilateralismus, auch erfolgreicher, nicht auf Demokratien beschränkt. Autoritäre und autokratische Staaten können gleichermaßen Interesse an funktionaler regionaler Kooperation haben, beispielsweise um gemeinsam Lösungen für grenzüberschreitende Herausforderungen zu finden. Allerdings können die Ziele, die mit einem »autoritären« oder »illiberalen Regionalismus« verfolgt werden, über sachspezifische hinausgehen oder auch gänzlich andere sein. Dementsprechend ist denkbar, dass der Mehrwert für zumindest einige der beteiligten Akteure nicht (allein) in der inhaltlichen Zusammenarbeit besteht.
Im Sinne eines autoritären oder illiberalen Regionalismus könnte das 3+3-Format zwar nicht für alle, aber durchaus für einige der involvierten Staaten stattdessen oder ergänzend etwa stabilisierende oder legitimationsstiftende Effekte für das eigene Herrschaftssystem bringen oder »autoritäres Lernen« ermöglichen. Es könnte Statusgewinn im internationalen Vergleich bedeuten, den Einfluss unliebsamer Drittländer beschneiden helfen oder Interdependenzen mit diesen reduzieren. Oder das Format könnte dazu genutzt werden, eine regionale Identität zu verankern, die bestimmte Akteure ein- sowie andere ausschließt – womit politische Pfadabhängigkeiten geschaffen würden.
Aufgrund dieses potentiellen »alternativen« Mehrwerts kann das 3+3-Format daher auch dann »erfolgreich« sein, wenn es einem liberalen Verständnis multilateraler Kooperation gemäß ineffektiv anmutet oder als rein rhetorisches Konstrukt erscheint. Das gilt umso mehr, wenn der Erfolg nur aus Sicht einzelner Kooperationspartner bemessen wird. Der Blick in die Vergangenheit legt nahe, dass zumindest einige der vorgeschlagenen Formate auch oder vor allem einen Rahmen für die Regionalmächte geboten hätten, um ihre individuellen hegemonialen Interessen durchzusetzen oder bilaterale Agenden zu verfolgen. Als hegemoniales Vehikel würde das 3+3-Format dann weniger dazu beitragen, vorhandene Konfliktlinien abzutragen oder zu überbrücken, als vielmehr deren »politische Artikulation unterdrücken« (David G. Lewis) helfen.
Ausblick
Trotz der gescheiterten Ansätze für multilaterale regionale Kooperation und trotz der existierenden vielschichtigen Spannungs- und Konfliktlinien zwischen den beteiligten Akteuren muss die 3+3-Plattform weder zwangsläufig ein Papiertiger sein noch ein Feigenblatt (das aktuelle Beispiel Ukraine könnte dazu führen, sie nur als solches zu begreifen: belegt es doch, dass Moskau nicht davor zurückschreckt, seine hegemonialen bzw. imperialen Ansprüche auch mit militärischen Mitteln durchzusetzen). Zwar sind die Beziehungen zwischen den drei Regionalmächten, bislang treibende Kräfte hinter dem Format, geringstenfalls ambivalent. Ungeachtet vorhandener Konfliktthemen gibt es aber auch gemeinsame Interessen wie dasjenige, den Einfluss »westlicher« Akteure in der Region einhegen zu wollen.
Wie (oder auch nur ob) es mit dem bis dato nur rudimentär ausbuchstabierten 3+3-Format weitergeht, hängt vom weiteren Verlauf einer Reihe parallel stattfindender Prozesse inner- und außerhalb der Region ab: Diese betreffen das armenisch-aserbaidschanische Verhältnis oder den derzeit wieder aufgelegten Versuch, die armenisch-türkischen Beziehungen zu normalisieren. Eine ganz wesentliche Rolle werden die (weiteren) Auswirkungen des Krieges in der Ukraine spielen und damit verbunden die Auswirkungen des Konflikts um die europäische Sicherheit auf die an der Plattform (potentiell) beteiligten Akteure, allen voran die Regionalmächte und hier Russland. Die Herausforderungen, die »politische Artikulation« vorhandener Konfliktlinien zu »unterdrücken«, scheinen gerade im Fall von Moskau und Ankara zumindest nicht kleiner geworden zu sein.
Unter anderem folgende zwei Argumente, die gegen die Etablierung eines illiberalen Regionalismus im Südkaukasus sprechen, sind bislang ins Feld geführt worden: In der Region mangele es dafür an Partnern; Russlands Bündnispartnerschaft mit Armenien (etwa durch die Mitgliedschaft in der OVKS) lasse es unrealistisch erscheinen, dass Aserbaidschan in von Moskau dominierte Initiativen eingebunden werden könne. Die Frage ist, ob Russland im Südkaukasus seine hegemonialen Ambitionen weiterzuverfolgen vermag und im Sinne von »harter Hegemonie« eine derartige Integration, »post 2020« bzw. zukünftig, vorantreiben kann – mit der dafür notwendigen Unterstützung aus Ankara und Teheran.
Die von Baku und Moskau nur zwei Tage vor der russischen Invasion in die Ukraine unterzeichnete »Deklaration über alliierte Zusammenarbeit« haben einige Beobachterinnen und Beobachter auch im Sinne einer solchen hegemonialen Strategie Moskaus interpretiert. In Bezug auf Russlands Krieg in der Ukraine allerdings scheint Baku eher zu versuchen, eine Art von Äquidistanz zu wahren, und hat sich als Vermittler zwischen Kyjiw und Moskau angeboten. Die von vielen als überraschend zurückhaltend empfundene Positionierung der Regierung in Tbilisi gegenüber Moskau wiederum reflektiert die Wahrnehmung der von Russland ausgehenden sicherheitspolitischen Gefahr, nicht zuletzt für das eigene Land. Welche Konsequenzen das für die Fortführung des 3+3-Formats hat, auch aus georgischer Perspektive, ist zum jetzigen Zeitpunkt schwer zu sagen – die georgische Zivilgesellschaft hat deutlich gemacht, dass sie den aus ihrer Sicht zu passiven Kurs der Regierung vis-à-vis Moskau klar ablehnt. Nicht nur die Zukunft der 3+3-Plattform, sondern auch die Neuordnungsprozesse in der Region insgesamt dürften wesentlich bestimmt sein vom Ausgang des Krieges in der Ukraine und damit verknüpft von Russlands zukünftigem geopolitischem Gewicht.
Die EU sieht sich mit der 3+3-Plattform einem – zumindest vorerst rudimentären – Format gegenüber, das sie explizit von Fragen zu Sicherheit und Kooperation im Südkaukasus ausschließt. Dass Brüssel nach Kritik an seiner mangelnden Sichtbarkeit in der Region, nicht zuletzt im Kontext des »44-Tage-Krieges«, seine Präsenz ausbauen möchte, zeigen jüngere Entwicklungen: das Engagement von EU-Ratspräsident Michel, die innenpolitische Krise in Georgien zu überwinden, oder die Vermittlungsbemühungen Brüssels zwischen Armenien und Aserbaidschan. Im Juli 2021 konstatierte der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik Borrell, die EU sei bereit, in der Region aktiver zu werden.
Eine formale Einbeziehung Brüssels oder Washingtons in das 3+3-Format war schon vor dem aktuellen Konflikt zwischen Russland auf der einen Seite und der EU, den USA und der Nato auf der anderen Seite ausgeschlossen. Rein thematisch betrachtet kann die EU durchaus Anknüpfungspunkte zur Plattform finden: wirtschaftliche Zusammenarbeit, Vertrauensbildung, Konnektivität, humanitäre Hilfe – an diesen Themen hat sie ebenfalls Interesse bekundet, sieht hierin für sich selbst eine Rolle und ist hier zum Teil bereits seit langem aktiv.
Zwei Dinge indes rufen selbst in Bezug auf eine nur weitgefasste Komplementarität der Ansätze Skepsis hervor: zum einen die aktuelle geopolitische Konfliktlage, zum anderen die möglichen skizzierten »Zusatznutzen«, die das 3+3-Format für wenigstens einige der teilnehmenden Akteure vermutlich generieren wird, sei es gezielt oder indirekt. Denn auch jenseits des Konflikts mit Russland dürfte sich die Art und Weise, wie die EU einerseits und das 3+3-Format andererseits diese Themen angehen, wohl stark unterscheiden, zum Beispiel was Fragen der Governance, Rechtsstaatlichkeit, Nachhaltigkeit, Inklusivität oder Mitsprache anbelangt. Die bisherige Entwicklung des Formats legt nahe, dass es insbesondere vom Einflussanspruch der Regionalmächte getrieben ist – zum (potentiellen) Nachteil wohl nicht nur der Handlungsoptionen und der Ownership der südkaukasischen Staaten, sondern vor allem auch der Teilhabe ihrer Bürgerinnen und Bürger sowie der Berücksichtigung von deren Interessen.
Denkbar (und weniger voraussetzungsreich) ist, dass die 3+3-Plattform eine Art »Stand-by-Format« bleibt, das die beteiligten Akteure, allen voran die Regionalmächte, situativ aktivieren, wenn es opportun erscheint. Jedoch ist nicht völlig auszuschließen, dass die anfänglich identifizierten thematischen Felder – sollte sich die Plattform etablieren – später Grundlage werden für eine vertiefte politische Zusammenarbeit in weiteren Bereichen. Das wiederum würde die Spielräume für die EU in der Region weiter minimieren.
In allen drei südkaukasischen Hauptstädten lässt sich, obschon aus unterschiedlichen Gründen und zu unterschiedlichen Graden, ein Unwohlsein wegen Russlands Vorgehen gegen die Ukraine erkennen. Noch ist unklar, wie der Krieg den russischen Einfluss im Südkaukasus verändern wird. Die EU sollte aber ihre südöstliche Nachbarschaft nicht aus dem Blick verlieren. Eine Möglichkeit für die EU, sich im Südkaukasus intensiver für regionale Stabilität zu engagieren, könnte die von Georgien ins Spiel gebrachte »Peaceful Neighborhood Initiative« eröffnen. Dabei wäre dieses europäische Engagement nicht als Alternative zu konzipieren, sondern sollte explizit die notwendige Weiterentwicklung der bestehenden Beziehungen und Programme der EU ergänzen und verstärken. Aus Baku und Eriwan kamen positive Signale, als Georgien seine Initiative letzten Herbst präsentierte. Dass es nicht stärker in deren weitere Ausgestaltung investiert hat, hängt möglicherweise mit nachlassendem Interesse des ursprünglichen Förderers Washington zusammen. Brüssel könnte die Initiative (wieder) aufgreifen und helfen, sie mit Leben zu füllen.
Ein anderer Weg könnte darin liegen, dass die EU ein eigenes regionales Format initiiert, das Armenien, Aserbaidschan und Georgien mit dem Ziel zusammenbringt, friedens- und stabilitätsstiftende Prozesse zu unterstützen. Das könnte beispielsweise unter der Schirmherrschaft eines gestärkten Sonderbeauftragten für den Südkaukasus geschehen. Inhaltlich könnte sich ein solches Format etwa auf die regionale Kooperation zu Mobilität und Transport sowie Fragen menschlicher Sicherheit konzentrieren oder genutzt werden, um bei der Bewältigung der sozioökonomischen Herausforderungen zu helfen, die die westlichen Sanktionen gegen Russland für die Region mit sich bringen. Ein Nebeneffekt eines so gestalteten Forums bestünde möglicherweise nicht zuletzt auch darin, dazu beizutragen, die außenpolitischen Optionen der südkaukasischen Länder angesichts der geopolitischen Dynamiken zu behaupten bzw. zu erweitern.
Dr. Franziska Smolnik ist Stellvertretende Leiterin der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien. Dr. Mikheil Sarjveladze ist derzeit Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.
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doi: 10.18449/2022A25