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Kaukasische Arithmetik

Die »3+3-Kooperationsplattform« und die regionale (Neu-)Ordnung im Südkaukasus

SWP-Aktuell 2022/A 25, 28.03.2022, 8 Pages

doi:10.18449/2022A25

Research Areas

Ende 2021 fand ein erstes Treffen im Rahmen der sogenannten »3+3-Kooperations­plattform« statt. Die Initiative strebt an, die südkaukasischen Länder Armenien, Aser­baidschan und Georgien – das indes seine Nichtteilnahme verkündet hat und fern­blieb – sowie die Regionalmächte Iran, Russland und Tür­kei zusammenzubringen. Ziel ist, die multilaterale Kooperation auszubauen; weitere Treffen sollen in regel­mäßi­gem Turnus folgen. Die Plattform ist Ausdruck von Dynamiken regio­naler Neu­ordnung im Südkaukasus infolge des Krieges in und um Berg-Karabach im Herbst 2020 und damit verbunden dem Gestaltungsanspruch Russlands und der Türkei. Sie ist zudem ein Beispiel dafür, wie diese Neuordnungsprozesse bereits vor den tekto­nischen Verschiebungen im Kontext des gegenwärtigen Krieges in der Ukraine die Spiel­räume für die EU in der Region verschoben haben.

Russlands Krieg gegen die Ukraine gilt als Zäsur. Moskaus Einflussanspruch indes rich­tet sich auch auf andere Teile seiner Nachbarschaft, so den Südkaukasus. Die 2021 initiierte »3+3-Konsultations­platt­form« für die Region kann, obschon ur­sprünglich nicht in Moskau ersonnen, durch­aus als ein Bei­spiel dafür angesehen werden, wie Russ­land seine hegemonialen Ambitionen im postsowjetischen Raum verfolgt, auch jen­seits des Ein­satzes mili­tä­rischer Mittel.

Die Vize-Außenminister der an der neuen Plattform beteiligten Staaten trafen sich erst­mals am 10. Dezember 2021 in Moskau im Rahmen dieses Formats. Geor­gien ge­hört bislang de facto nicht dazu, denn Tbilisi folgte der Einladung nach Moskau nicht. Die Teil­nehmenden vereinbarten, sich auf prak­tische Fragen zu konzentrieren, bei denen sich ihre Interessen überschnei­den. Konkret hervorgehoben wurden Themen wie »vertrauensbildende Maßnahmen, Han­del und wirtschaftliche Zusammen­arbeit, Verkehr und kulturell-humanitäre Hilfe sowie die Bewältigung gemeinsamer Her­aus­forderungen und Bedrohungen«.

Trotz der Absage Georgiens hält man auch nach dem Moskauer Treffen offiziell an der Bezeichnung »3+3« fest; das Format soll explizit die gesamte Region im Blick haben. Geplant ist bisher, mindestens zwei Mal im Jahr an rotierenden Orten für Kon­sul­tationen zusammenzukommen. Die Frage, auf welcher politischen Ebene das Format künf­tig angesiedelt sein soll, scheint noch nicht endgültig geklärt. Das gilt ebenso für viele andere Aspekte dieser »work in pro­gress«, etwa was einen möglichen insti­tu­tionellen Unterbau angeht.

Die Idee für das Format hat Ende 2020 die Türkei ins Spiel gebracht. Wirklich Fahrt auf­ge­nommen hat das Projekt jedoch erst, nachdem Russland in der zweiten Jahres­hälfte 2021 seine Unterstützung be­kun­det hatte. Armenien, Aserbaidschan und Geor­gien sowie Russland, die Türkei und Iran sollen im Rahmen der Plattform zusammen­wirken, um regio­nale Koope­ration und Stabilität im Süd­kau­kasus zu stärken. Dem­nach kann die Plattform ver­standen werden als Teil des Prozesses regio­n­aler Neuordnung im Kontext bzw. infolge des »44-Tage-Krieges« in und um Berg-Kara­bach zwischen Armenien und Aserbaidschan im Herbst 2020. Angesichts von Russ­lands Krieg in der Ukraine ist die Zukunft des Formats alles andere als klar. Gleichwohl lassen sich an­hand der Entwicklung des Formats die kom­plexen Kräftekonfigurationen »post 2020« ablesen – die auch den Spiel­raum zu­künf­tiger EU-Politik in der Region mitabstecken.

Blick zurück

Das 2021 ins Leben gerufene 3+3-Format ist alles andere als eine neue Idee. In der Ver­gangen­heit gab es immer wieder ähn­liche Initiativen: Multi­laterale Kooperation sollte durch eine gewisse Form der Institu­tiona­lisierung in einer »Region« intensiviert wer­den, die (nicht nur, aber eben auch) durch Territorialkonflikte, unter­schiedliche Ord­nungs- und Herrschafts­vorstellungen, diver­gente strategische Orientierungen sowie ethnische, religiöse und linguistische Diver­sität gekennzeichnet und dadurch frag­men­tiert ist. Die Initiativen sahen, in Variation, zu­dem vor, die früheren Imperial-, jetzt Regional­mächte Iran, Türkei und Russ­land zu beteiligen, deren Bezie­hungen aller­dings sowohl untereinander als auch zu den drei südkaukasischen Staa­ten nicht frei von historisch tradiertem Misstrauen sind.

Die bislang für eine solche Kooperation vorgeschlagenen Konstellationen spiegelten drei Dinge wider: die Interessen derjenigen Akteure, die diese Ideen lancierten, den je­weiligen regionalpolitischen Kontext sowie das Ver­hältnis der Akteure unter­einander. Zu den frühen Initiativen zählt die Formu­lierung mehrerer Grundprinzipien für regio­nale Kooperation, die der damalige geor­gi­sche Präsident Schewardnadse im Frühjahr 1996 kundtat und die später unter dem Namen »Fried­licher Kau­kasus« firmierten. Wie die aktuelle Initia­tive sah auch dieses Konzept in der ver­stärkten ökonomischen Zusammen­arbeit einen Anreiz für Stabilität in der Region. Zeitlich fast paral­lel gab es 1996 ein erstes Treffen im Kreis der später sogenannten »Kaukasus Vier«, zu denen außer den drei südkaukasischen Staaten Russland gehörte, von wo die Idee stammte.

Im Jahr 2000 reanimierte Moskau den Vorschlag, in einem solchen Vierer-Format eine gemeinsame Verständigung über regio­nale Sicher­heit zu erreichen. Diese Wieder­aufnahme der Initiative unter Präsident Putin, die Russ­land eine Sonderrolle in Fra­gen regio­naler Sicherheit im Südkaukasus zuschrieb, haben Beobachterinnen und Beob­achter allerdings auch als Maßnahme interpretiert, den damals steigenden US-amerika­nischen Einfluss in der Region ein­hegen zu wollen – mithilfe eines exkludieren­den Formats.

Im Kontext des Gipfeltreffens der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) 1999 in Istanbul wurden eben­falls Ideen für regionale Kooperation im Südkaukasus formuliert. Sie gingen, zum Unmut Moskaus, von einem größeren Teil­nehmerkreis aus. Vorschläge zur Etablierung einer Art Stabilitäts- oder Sicherheitspakt für den Südkaukasus kamen aus Baku, Eriwan, Tbilisi und Ankara. Sie sahen ebenso für die USA, zum Teil auch für die EU Rollen vor. Iran war ähnlich wie Russ­land da­ge­gen, westliche Akteure bei Fragen regionaler Ko­operation im Südkaukasus zu berücksich­tigen. Während eines Besuchs bei den süd­kaukasischen Nachbarn 2003 warb Irans damaliger Außen­minister ent­sprechend für ein regio­nales Sicherheits­system nach der Formel »3+3«, das also neben den drei süd­kaukasischen Ländern Russland, Iran und die Türkei umfassen sollte.

Die aktuelle 3+3-Plattform ist vor allem mit der türkischen Initiative von 2008 in Bezug gesetzt worden. Im Kontext des Krie­ges zwischen Russland und Georgien warb Ankara damals erneut für eine regionale multilaterale Zusammenarbeit, diesmal unter dem Titel »Kaukasus Stabilitäts- und Ko­operationsplattform«. Die Türkei brachte sich so neben Russland abermals selbst als gestaltende Regionalmacht ins Spiel. Das vorgeschlagene 3+2-Format allerdings sparte anders als frühere Vorschläge die west­lichen Partner aus, was diese brüskierte, ins­beson­dere Washington. So­wohl der Fokus auf die Türkei und Russ­land als regio­nale Gestaltungs­kräfte als auch die Aus­klam­me­rung der EU und der USA bei Fragen süd­kauka­sischer Koopera­tion und Sicherheit begüns­tigen Vergleiche mit der letztes Jahr be­gonnenen Initiative.

Neuer Wein in alten Schläuchen?

All den genannten früheren Kooperationsinitiativen ist gemein, dass sie sich letztlich nicht verwirklichen ließen, sie oft nicht einmal über das Stadium des schlag­wort­artigen Gedankenspiels hinauskamen. Multi­laterale Zusammenarbeit in Gestalt gesamt­regionaler Ansätze, die eine Form kooperativer Sicherheit etabliert hätten, konnte nicht umgesetzt werden. Stattdessen lässt sich für den Süd­kaukasus in seiner post­sowjetischen Zeit konstatieren, dass Koope­ration als Allianzpolitik realisiert wurde. Dementsprechend dienten strategische Partnerschaften, Bünd­nisse und Koali­tionen nicht zuletzt der eigenen sicherheits­poli­tischen Absicherung, sowohl durch »band­wagoning« als auch »balancing«. Diese Art der Zusammenarbeit war also vielmehr ein Abbild der vorhandenen viel­schichtigen und komplexen Bruch- und Spannungs­linien – intraregio­nal zwischen den süd­kaukasischen Staaten, in Bezug auf die Regionalmächte sowie das Verhältnis zwi­schen Russland und dem »Westen« –, als dass sie sie überwunden hätte.

Um die Vorschläge für einen Stabilitätspakt, wie sie um die Jahrtausend­wende formuliert wurden, umzusetzen, hätte es nicht weniger bedurft als eines Paradigmen­wechsels der transnationalen politischen Praxis der potentiell involvierten Akteure, so damalige nahe Beobachter und Beobachterinnen. Zudem sei die »Region« Südkauka­sus vor allem eine Pro­jektion externer Akteure, de facto seien die lokalen Inter­dependenzen und Anreize für Kooperation gering, lautet ein weiterer Einwand. Gelten diese Ausgangsbedingungen bzw. Voraussetzungen weiterhin? Und woran lässt sich Erfolg und Nichterfolg (und aus wessen Per­spektive?) der im Dezember gestarteten Ini­ti­ative überhaupt festmachen?

Neue Voraussetzungen für Koope­ration: 3+3 im Entstehungsprozess

Ein wesentlicher Unterschied zu früheren Initiativen liegt in den veränderten lokalen Bedingungen: Der Ausgang des »44-Tage-Krie­ges« in und um Berg-Karabach im Herbst 2020 veränderte den seit den 1990er Jahren bestehenden regionalen Status quo. Aser­baid­schan ging als Sieger aus dem Krieg her­vor; die Regierung profitierte vom »rally around the flag«-Effekt. Die unterlegene armenische Seite indes verlor weite Teile der Gebiete, die sie seit Anfang der 1990er Jahre kontrolliert hatte. Auf der regionalen Ebene profitierte Russland vom »44-Tage-Krieg«, aber auch die Türkei.

Ankara und Baku rückten während des Krieges zusammen und haben in der Zeit danach ihre Beziehungen weiter aus­gebaut. Im Juni 2021 unterzeichneten sie die »Schuscha-Deklaration über alliierte Bezie­hungen«. Überdies ist die Türkei Partner im gemeinsam mit Russland betrie­benen Beob­achtungszentrum, das die Ein­haltung des Waffenstillstands überwachen soll. Dieser wiederum war erst durch russische Vermitt­lung herbeigeführt worden. Mit der Statio­nierung von offiziell knapp 2.000 russischen Soldaten (Friedenstruppen) im Konflikt­gebiet auf der Grund­lage des Waffenstillstands­abkommens vom 9. November 2020 ist Moskau nun in allen drei südkaukasischen Staaten militärisch präsent. Iran, zumindest potentiell eben­falls eine Regio­nal­macht im Südkaukasus, blieb ein sekun­därer Akteur, obwohl es diplomatische Bemühungen für einen eigenen Friedensplan unternommen hatte.

Anspruch auf die Gestaltung der regionalen Ordnung »post 2020«

Russland betrachtet den Südkaukasus als eine Sphäre privilegierter Interessen, die aus seiner Sicht nicht in westliche Inte­gra­tionsprojekte einbezogen werden darf. Diese Perspektive wurde zuletzt durch den An­griff auf die Ukraine auf dramatische Weise aktualisiert. Die Türkei – von vielen Beob­achtern und Beobachterinnen als »game changer« im Krieg in und um Berg-Kara­bach bewertet – hat eigene geopolitische Ambitionen, die über das Schwarze Meer und den Südkaukasus bis nach Zent­ral­asien reichen. Iran verfolgt aufmerksam die Inten­sivierung des Bünd­nisses Türkei–Aserbai­dschan, beides Länder, mit denen Teheran wechselhafte Beziehungen unter­hält. Es strebt ein Mitspracherecht bei der Gestaltung einer neuen regionalen Ord­nung an.

Nicht zuletzt aufgrund ihrer Rollen im Kontext des »44-Tage-Krieges« sahen sich Russland wie auch die Türkei in ihrem Gestal­tungs- bzw. Führungsanspruch in der Region bestä­tigt. Ausdruck dessen ist ebenso die Etablierung des 3+3-Formats, das von allen Akteuren außer Georgien zumindest for­mell unterstützt wird. Die Umbe­nen­nung in »3+3« der von türkischer Seite zu­nächst als »Sechs-Staaten-Plattform« bewor­benen Initiative verweist auf die Machtasymmetrie zwischen den Ländern – und reflektiert, nicht ohne Symbolik, die histo­rische Dimension imperialen Einflusses in der Region.

Dass die Plattform, anders als manche Vorschläge in der Vergangenheit, weder der EU noch den USA einen Platz zubilligt, knüpft an frühere Bestrebungen Moskaus, Ankaras und Teherans an, westliche Ak­teure in der Region zu isolieren bzw. im Fall von Nato-Mitglied Türkei deren Ver­tretung selbst wahrzunehmen.

Positionen und Reaktionen der südkaukasischen Staaten

Nicht alle potentiellen Teilnehmerstaaten reagierten mit Begeisterung auf die Idee einer neuen regionalen Plattform. Das ge­orgische Außenministerium erklärte bereits im Januar 2021 mit Blick auf Russ­lands Beziehungen zu den von Geor­gien abtrün­ni­gen De-facto-Staaten Abcha­sien und Süd­ossetien, Georgien könne nicht Teil einer Plattform sein, unter deren Mitgliedern ein Staat sei, der georgische Gebiete okkupiere. Auch ohne Beteiligung Tbilisis wurde beim ersten Zusammenkommen im Rahmen der 3+3-Plattform in Moskau die georgische Flagge gehisst. Das Aufstellen der Flagge ist mehr als eine symbolische Rechtfertigung, am Namen »3+3« festzuhalten: Viel­mehr er­streckt sich aus russischer Perspektive die süd­liche Interessensphäre auch auf Geor­gien. Zu­mindest symbolisch sollte Tbilisi daher wohl mit im Raum sein. Dafür, dass dies beim nächsten Treffen in Form eines offi­ziel­len Vertreters der Fall ist, sollten sich nach Meinung Moskaus fortan Eri­wan, Baku und Ankara einsetzen.

Für Armenien allerdings ist das Ausscheren Georgiens wohl nicht ganz unwillkom­men, steht es doch selbst dem Format eher zurückhaltend gegenüber. Die Teilnahme an einer regionalen Initiative zusammen mit der Türkei und Aserbaidschan dürfte für die Regierung Pashinyan direkt nach der Nieder­lage im »44-Tage-Krieg« in und um Berg-Kara­bach kaum vertretbar gewesen sein. Auch nach den vorgezogenen Parlamentswahlen im Juni 2021, die der armeni­schen Regie­rungs­partei ein frisches Mandat be­scherten, äußerte Pre­mier Pashinyan noch im Novem­ber 2021 seine Bedenken und be­tonte, das 3+3-Format dürfe nicht bereits bestehende Ver­einbarungen und Formate replizieren. Dass sich Armenien letztlich an der Initia­tive beteiligt, deutet auf die Ein­fluss­hebel Russlands hin, die den außen­poli­tischen Spiel­raum des Landes dahingehend ein­schrän­ken, dass Eriwan einem von Russ­land dezi­diert vorangetriebenen regio­nalen Pro­jekt kaum offen den Rücken kehren kann.

Anders als Armenien und Georgien hat Aserbaidschan die Initiative begrüßt. Baku versucht, die aus dem Krieg gewonnene Ver­handlungsmacht zum eigenen Vorteil in der Region zu nutzen, zum Bei­spiel für die Einrichtung eines Transportweges zwischen Armenien und Aserbai­dschan. Dieser würde aus Bakuer Sicht insbesondere eine Ver­bin­dung zur aserbaidschanischen Exklave Nachitschewan (und damit auch zum engen Partner Türkei) per Schiene und Straße her­stellen.

Dass sich Armenien und Georgien vorsichtiger bzw. ablehnend gegenüber dem 3+3-Format positioniert haben, zeigt das Misstrauen gegen­über den geo­poli­tischen Bestrebungen der mächtigeren Nachbarn. Das gilt vor allem für Geor­gien, das im Gegen­satz zu Arme­nien und Aserbaidschan im 3+3-Format keinen sicher­heits­politischen Verbündeten hätte. Die USA, mit denen Georgien sicher­heitspoli­tisch eng zusammenarbeitet, sind von der Kooperation aus­geschlossen, ebenso die EU, an die es jüngst einen Antrag auf Mitgliedschaft gestellt hat. Aus der Perspektive Tbilisis würde eine Teil­nahme an dem neuen For­mat bedeuten, mit dem bedroh­lichen nörd­lichen Nachbarn praktisch allein gelassen zu sein.

Wohl nicht zuletzt, um sein Land nicht selbst ins Abseits zu manövrieren, hat der georgische Premier Gharibashvili im Herbst 2021 eine eigene regio­nale Initiative ins Gespräch gebracht, die »Peaceful Neighbor­hood Initiative«. Sie soll auf die drei süd­kaukasischen Staaten fokussieren, Ver­trauensbildung erleichtern und regionale Fragen gemeinsam mit den Partnern USA und EU lösen. Ob die georgische Initiative gegenüber dem 3+3-Format eine Alternative darstellen kann, bleibt fraglich. Zwar hat Tbilisi im letzten Jahr bewiesen, dass es zwischen den direkten Nachbarn im Süd­kaukasus ver­mittelnd wirken kann. Falls die georgische Initiative aber als Gegen­gewicht zur 3+3-Plattform mit ihrer spezi­fischen Machtasymmetrie gedacht sein sollte, dürfte Tbilisi allein kaum über das nötige politische Gewicht verfügen, um eine solche regionale Rolle zu übernehmen.

3+3 im größeren Kontext

Neben der komplexen regionalen Konstellation sind für die Zukunft der 3+3-Plattform die aktuellen Entwicklungen in der weite­ren Nachbarschaft entscheidend. Außer der zentralen Frage, wie Russland selbst aus dem Krieg gegen die Ukraine hervorgeht, gilt das an vorderster Stelle auch für das ambi­valente Ver­hält­nis zwischen Russland und der Türkei, deren wenigstens potentielle Spannungsherde in Zentralasien beginnen und sich entlang des Südkaukasus bis zum Schwarz­meerbecken und darüber hinaus erstrecken.

Die Tür­kei etwa reagierte mit Besorgnis auf die Entwicklungen im Zusammenhang mit den Massenprotesten in Kasachstan Anfang 2022. Die Entsendung einer Mis­sion der Organisation des Vertrags über kollek­tive Sicherheit (OVKS), um bei der »Befrie­dung« der Lage zu helfen, bedeutete eine Be­kräftigung Russlands als Sicherheitsgarant in Kasachstan. Für die Türkei war dies ein Rück­schlag bei ihrem Ver­such, den eigenen Ein­fluss in Zentralasien aus­zuweiten.

Sehr viel einschneidender könnte sich der Krieg in der Ukraine auf das tür­kisch-russische Verhältnis auswirken. Nicht nur Moskau, auch Kyjiw ist ein strategischer Part­ner Ankaras, die wirtschaft­lichen Bezie­hun­gen zu beiden Ländern sind eng. Immer wieder manifestierte sich das daraus ent­stehende Spannungspotential. Im Dezember letzten Jahres etwa kritisierte Russ­lands Präsi­dent Putin die Türkei scharf, weil sie der ukrainischen Armee ihre »Bayraktar TB2«-Drohnen verkaufte. Diese setzt die Ukraine nun bei der Verteidigung gegen den russischen Angriff ein; ukrainische Berichte, denen zufolge nach Kriegsbeginn weitere Drohnen aus der Türkei bezogen wurden, hat die türkische Seite nicht de­men­tiert. Noch scheint die Türkei, immer­hin Nato-Mitglied, zu versuchen, ihre prag­matische Politik gegenüber Russland fort­zuführen und damit den außenpolitischen Spagat zu halten. Unklar ist, ob und wie sie das auch zukünftig wird aufrechterhalten können.

Potentieller Mehrwert jenseits sachspezifischen Outputs

Ob sich die 3+3-Plattform längerfristig etab­lieren und bei den bislang nur vage skiz­zier­ten thematischen Kooperations­feldern einen entscheidenden sachspezifischen Mehrwert liefern kann, ist zum jetzi­gen Zeitpunkt völlig offen, betrachtet man die vielschichtigen Spannungslinien zwi­schen den betei­ligten Staaten und die geo­politischen Ver­werfungen im Kontext des Krieges in der Ukraine. Ähnlich wie bei vorangegangenen Initiativen liegt die Trieb­kraft für das (in diesem Fall zu­mindest for­male) Zustandekommen der Plattform bei den jeweiligen Regierungen. Das Ergebnis organisch ge­wachsener trans­nationaler Inter­aktions­dynamiken von Zivil­gesell­schaften oder der (Privat-)Wirtschaft, die die ange­strebte Ko­ope­ration gegebenenfalls unterfüttern und dadurch auch (ideal­typisch) nachhaltiger machen könnten, ist sie nicht.

Die Regionalmächte, Impulsgeber der aktuellen Initiative, ähneln sich darin, nicht­demokratische Staaten zu sein. In Russ­land beschleunigt der vom Kreml ini­ti­ierte Krieg gegen die Ukraine zudem einen Prozess der weiteren Beschneidung liberaler Grundrechte. Freilich ist Multilateralismus, auch erfolgreicher, nicht auf Demokratien be­schränkt. Auto­ritäre und autokratische Staa­ten können gleichermaßen Inter­esse an funk­tionaler regionaler Kooperation haben, beispielsweise um gemeinsam Lösungen für grenz­überschreitende Herausforderungen zu finden. Allerdings können die Ziele, die mit einem »autori­tären« oder »illiberalen Regionalismus« verfolgt werden, über sach­spezifische hinausgehen oder auch gänzlich andere sein. Dementsprechend ist denkbar, dass der Mehrwert für zumindest einige der betei­ligten Akteure nicht (allein) in der in­halt­lichen Zusammenarbeit besteht.

Im Sinne eines autoritären oder illiberalen Regio­nalismus könnte das 3+3-Format zwar nicht für alle, aber durchaus für einige der in­volvierten Staaten statt­dessen oder ergän­zend etwa stabilisierende oder legiti­ma­tions­stiftende Effekte für das eigene Herr­schafts­system bringen oder »auto­ritäres Ler­nen« ermög­lichen. Es könnte Status­gewinn im internationalen Vergleich be­deu­ten, den Einfluss unliebsamer Dritt­länder beschneiden helfen oder Interdepen­denzen mit die­sen reduzieren. Oder das Format könnte dazu genutzt werden, eine regionale Iden­ti­tät zu verankern, die be­stimmte Akteure ein- so­wie andere aus­schließt – womit poli­tische Pfadabhängigkeiten geschaffen würden.

Aufgrund dieses potentiellen »alternativen« Mehrwerts kann das 3+3-Format daher auch dann »erfolgreich« sein, wenn es einem liberalen Verständnis multilateraler Ko­ope­ration gemäß ineffektiv anmutet oder als rein rhetorisches Konstrukt erscheint. Das gilt umso mehr, wenn der Erfolg nur aus Sicht einzelner Kooperationspartner be­mes­sen wird. Der Blick in die Vergangenheit legt nahe, dass zumindest einige der vorge­schlagenen Formate auch oder vor allem einen Rahmen für die Regionalmächte ge­bo­ten hätten, um ihre individuellen hege­monialen Interessen durchzusetzen oder bilaterale Agenden zu verfolgen. Als hege­moniales Vehikel würde das 3+3-Format dann weniger dazu beitragen, vorhandene Konfliktlinien abzutragen oder zu über­brücken, als vielmehr deren »poli­tische Arti­kulation unterdrücken« (David G. Lewis) helfen.

Ausblick

Trotz der gescheiterten Ansätze für multi­laterale regionale Kooperation und trotz der existierenden vielschichtigen Spannungs- und Kon­fliktlinien zwischen den beteiligten Akteu­ren muss die 3+3-Plattform weder zwangs­läufig ein Papiertiger sein noch ein Feigenblatt (das aktuelle Beispiel Ukraine könnte dazu führen, sie nur als solches zu begreifen: belegt es doch, dass Moskau nicht davor zurück­schreckt, seine hegemonialen bzw. impe­ri­a­len Ansprüche auch mit mili­tärischen Mit­teln durch­zusetzen). Zwar sind die Bezie­hun­gen zwi­schen den drei Regio­nal­­mächten, bis­lang treibende Kräfte hinter dem Format, geringstenfalls ambivalent. Unge­achtet vor­handener Konfliktthemen gibt es aber auch gemeinsame Interessen wie das­jenige, den Einfluss »westlicher« Akteure in der Region einhegen zu wollen.

Wie (oder auch nur ob) es mit dem bis dato nur rudimentär aus­buchstabierten 3+3-For­mat weitergeht, hängt vom weiteren Verlauf einer Reihe parallel stattfindender Prozesse inner- und außerhalb der Region ab: Diese betreffen das armenisch-aser­bai­dscha­nische Ver­hältnis oder den derzeit wieder auf­ge­legten Ver­such, die armenisch-türki­schen Beziehungen zu normalisieren. Eine ganz wesent­liche Rolle werden die (weiteren) Auswirkungen des Krieges in der Ukraine spielen und damit verbunden die Auswirkungen des Konflikts um die euro­pä­ische Sicherheit auf die an der Plattform (poten­tiell) betei­ligten Akteure, allen voran die Regionalmächte und hier Russland. Die Her­aus­for­derungen, die »poli­tische Arti­ku­la­tion« vor­handener Kon­flikt­linien zu »unter­drücken«, scheinen gerade im Fall von Moskau und Ankara zumindest nicht klei­ner gewor­den zu sein.

Unter anderem folgende zwei Argumente, die gegen die Etablierung eines illiberalen Regionalismus im Süd­kaukasus sprechen, sind bislang ins Feld geführt worden: In der Region man­gele es dafür an Partnern; Russ­lands Bündnispartnerschaft mit Ar­menien (etwa durch die Mit­glied­schaft in der OVKS) lasse es unrealistisch er­schei­nen, dass Aser­baidschan in von Moskau domi­nierte Ini­tiativen eingebunden werden könne. Die Frage ist, ob Russ­land im Süd­kaukasus seine hegemonialen Ambitionen weiterzuverfolgen vermag und im Sinne von »harter Hege­monie« eine der­artige Inte­gration, »post 2020« bzw. zukünf­tig, voran­treiben kann – mit der dafür not­wendigen Unter­stützung aus Ankara und Teheran.

Die von Baku und Moskau nur zwei Tage vor der russischen Invasion in die Ukraine unterzeichnete »Deklaration über alliierte Zusammenarbeit« haben einige Beob­achte­rinnen und Beobachter auch im Sinne einer solchen hegemonialen Strategie Moskaus interpretiert. In Bezug auf Russlands Krieg in der Ukraine allerdings scheint Baku eher zu versuchen, eine Art von Äquidistanz zu wahren, und hat sich als Vermittler zwi­schen Kyjiw und Moskau angeboten. Die von vielen als über­raschend zurückhaltend emp­fundene Posi­tio­nierung der Regierung in Tbilisi gegen­über Moskau wiederum reflektiert die Wahr­nehmung der von Russ­land ausgehenden sicher­heitspolitischen Gefahr, nicht zuletzt für das eigene Land. Welche Konsequenzen das für die Fortführung des 3+3-Formats hat, auch aus geor­gischer Per­spektive, ist zum jetzi­gen Zeit­punkt schwer zu sagen – die geor­gi­sche Zivilgesellschaft hat deutlich ge­macht, dass sie den aus ihrer Sicht zu pas­si­ven Kurs der Regierung vis-à-vis Moskau klar ablehnt. Nicht nur die Zukunft der 3+3-Plattform, sondern auch die Neuordnungs­prozesse in der Region ins­gesamt dürf­ten wesentlich bestimmt sein vom Aus­gang des Krieges in der Ukraine und damit ver­knüpft von Russlands zu­künf­tigem geo­poli­tischem Gewicht.

Die EU sieht sich mit der 3+3-Plattform einem – zumindest vorerst rudimentären – For­mat gegenüber, das sie explizit von Fragen zu Sicherheit und Kooperation im Südkaukasus ausschließt. Dass Brüssel nach Kritik an seiner mangelnden Sichtbarkeit in der Re­gion, nicht zuletzt im Kon­text des »44-Tage-Krieges«, seine Präsenz ausbauen möchte, zeigen jüngere Entwicklungen: das Engage­ment von EU-Rats­präsi­dent Michel, die innenpolitische Krise in Geor­gien zu über­winden, oder die Vermittlungsbemühungen Brüs­sels zwischen Ar­menien und Aser­bai­dschan. Im Juli 2021 konstatierte der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik Borrell, die EU sei bereit, in der Region aktiver zu werden.

Eine formale Einbeziehung Brüssels oder Washingtons in das 3+3-Format war schon vor dem aktuellen Konflikt zwischen Russ­land auf der einen Seite und der EU, den USA und der Nato auf der anderen Seite aus­ge­schlos­sen. Rein thematisch betrachtet kann die EU durchaus Anknüpfungs­punkte zur Plattform finden: wirtschaftliche Zusam­men­arbeit, Vertrauensbildung, Konnekti­vi­tät, humanitäre Hilfe – an diesen Themen hat sie ebenfalls Interesse bekundet, sieht hier­in für sich selbst eine Rolle und ist hier zum Teil bereits seit langem aktiv.

Zwei Dinge indes rufen selbst in Bezug auf eine nur weitgefasste Komplementarität der An­sätze Skepsis hervor: zum einen die aktu­elle geopolitische Konfliktlage, zum ande­ren die möglichen skiz­zierten »Zusatz­nutzen«, die das 3+3-Format für wenigstens einige der teil­nehmenden Akteure vermut­lich gene­rieren wird, sei es gezielt oder in­direkt. Denn auch jenseits des Konflikts mit Russland dürf­te sich die Art und Weise, wie die EU einer­seits und das 3+3-Format ande­rer­seits diese The­men angehen, wohl stark unterscheiden, zum Bei­spiel was Fragen der Governance, Rechts­staatlichkeit, Nachhaltig­keit, Inklusivität oder Mitsprache anbelangt. Die bisherige Entwicklung des Formats legt nahe, dass es insbesondere vom Ein­fluss­anspruch der Regionalmächte getrie­ben ist – zum (potentiellen) Nachteil wohl nicht nur der Hand­lungsoptionen und der Owner­ship der südkaukasischen Staa­ten, sondern vor allem auch der Teilhabe ihrer Bürgerin­nen und Bürger sowie der Berück­sichtigung von deren Inter­essen.

Denk­bar (und weniger voraussetzungsreich) ist, dass die 3+3-Plattform eine Art »Stand-by-Format« bleibt, das die beteiligten Ak­teure, allen voran die Regionalmächte, situativ aktivie­ren, wenn es oppor­tun er­scheint. Jedoch ist nicht völlig auszuschließen, dass die an­fäng­lich identifizierten thematischen Felder – sollte sich die Platt­form etablieren – später Grundlage wer­den für eine vertiefte politische Zu­sammen­arbeit in weiteren Bereichen. Das wiederum würde die Spiel­räume für die EU in der Region weiter minimieren.

In allen drei südkaukasischen Hauptstädten lässt sich, obschon aus unter­schied­lichen Gründen und zu unterschiedlichen Graden, ein Unwohlsein wegen Russlands Vorgehen gegen die Ukra­ine erkennen. Noch ist unklar, wie der Krieg den russischen Einfluss im Süd­kaukasus verändern wird. Die EU sollte aber ihre südöstliche Nachbarschaft nicht aus dem Blick verlie­ren. Eine Möglichkeit für die EU, sich im Süd­kaukasus intensiver für regionale Stabilität zu engagieren, könnte die von Geor­gien ins Spiel gebrachte »Peaceful Neigh­bor­hood Initiative« eröff­nen. Dabei wäre dieses euro­päische Engage­ment nicht als Alternative zu konzipieren, son­dern sollte explizit die not­wendige Weiterentwick­lung der be­stehen­den Beziehungen und Programme der EU ergänzen und verstärken. Aus Baku und Eriwan kamen positive Signale, als Geor­gien seine Initiative letzten Herbst prä­sentierte. Dass es nicht stärker in deren weitere Ausgestaltung investiert hat, hängt möglicherweise mit nachlassendem Inter­esse des ursprünglichen Förderers Washington zusammen. Brüssel könnte die Initia­tive (wieder) auf­greifen und helfen, sie mit Leben zu füllen.

Ein anderer Weg könnte darin liegen, dass die EU ein eigenes regionales Format initiiert, das Armenien, Aserbaidschan und Georgien mit dem Ziel zusammenbringt, friedens- und stabilitätsstiftende Prozesse zu unterstützen. Das könnte beispielsweise unter der Schirmherrschaft eines gestärkten Sonderbeauftragten für den Südkaukasus geschehen. Inhaltlich könnte sich ein solches Format etwa auf die regionale Ko­ope­ration zu Mobilität und Transport sowie Fragen menschlicher Sicherheit konzentrieren oder genutzt werden, um bei der Bewältigung der sozio­ökono­mi­schen Herausforderungen zu helfen, die die westlichen Sanktionen gegen Russ­land für die Region mit sich bringen. Ein Nebeneffekt eines so gestalteten Forums bestünde möglicher­weise nicht zuletzt auch darin, dazu beizutragen, die außenpolitischen Optionen der südkauka­si­schen Länder angesichts der geopolitischen Dynamiken zu behaupten bzw. zu erweitern.

Dr. Franziska Smolnik ist Stellvertretende Leiterin der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien. Dr. Mikheil Sarjveladze ist derzeit Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2022

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