Die neue Regierung in Israel steht politisch so weit rechts wie keine andere vor ihr. Der Erfolg der rechtsradikalen Parteien und ihre Beteiligung an der Regierung sind Ergebnisse einer länger anhaltenden Transformation der politischen Landschaft Israels. Kennzeichnend für diese Entwicklung ist die Genese einer rechten Mehrheit, die mit einer Rechtsverschiebung des Mainstreams und der politischen Legitimierung des radikalsten Segments der israelischen Gesellschaft einhergeht. Der gemeinsame Nenner dieser Regierung ist ein antiliberaler Impetus, der auf eine Neuordnung des Staates hinausläuft. Die Regierung beabsichtigt, demokratische Mechanismen, insbesondere das System von Checks and Balances, den Status des Obersten Gerichtshofs und den der Grundrechte, zu schwächen. Stattdessen sollen majoritäre Prinzipien gestärkt werden, die den Regierungsmehrheiten kaum mehr Schranken auferlegen. Dieser disruptive Ansatz bezieht sich auch auf den Konflikt mit den Palästinensern: Hier wird ein Sieg angestrebt. Die Integration des Westjordanlands in das Rechtsgebiet des Staates Israel soll unumkehrbar gemacht werden.
Mitglieder der neuen Koalition bezeichnen diese als »vollwertig rechte«, als »wahrhaft rechte« oder schlicht als »nationale Regierung«. Die Koalitionäre bestehen aus dem Likud (32 Sitze), den beiden Parteien der oft »ultraorthodox« genannten Charedim, Schas (11) und Vereinigtes Thora-Judentum (VTJ, 7), sowie dem radikalen Parteienbündnis Religiöser Zionismus (14), das sich aus der namensgebenden Partei, Otzma Jehudit und der Kleinstpartei Noam zusammensetzt. Alle Parteien entstammen dem rechten, antiliberalen Lager. In Israel erfolgt die parteipolitische Einordnung in »links« und »rechts« entlang der Achsen gegensätzlicher Auffassungen zum Konflikt mit den Palästinensern und zur Identität des Staates; die sozioökonomische Dimension ist nachgeordnet.
Ziel dieser Koalition ist es, diese zentralen Kontroversen, die die israelische Gesellschaft prägen, mindestens vorzuentscheiden. Dies gilt sowohl für den Konflikt mit den Palästinensern als auch für das – aus ihrer Sicht zu liberale – Profil des Staates und seiner Institutionen. Der antiliberale Impetus richtet sich hier gegen die zentralen Merkmale der liberalen Demokratie (und nicht gegen Wirtschaftsliberalität), das heißt gegen die normative Verankerung von Menschenrechten und die damit verknüpfte Kontrolle des Parlaments durch eine unabhängige Gerichtsbarkeit. Demgegenüber zielt die neue israelische Regierung auf die Etablierung einer majoritären Demokratie und betrachtet solche Beschränkungen als illegitime Beschneidung des demokratischen Prozesses.
Die neue Koalition ist kein Betriebsunfall. Bereits mit der ersten der fünf Wahlen seit 2019 zeichnete sich die Möglichkeit einer Rechtskoalition ab, die Israel grundlegend verändern könnte. Dies ist das Ergebnis einer politischen Transformation des Landes, die sich ab 2015 noch deutlich dynamisiert hat: Im Parlament verfestigte sich eine rechte Mehrheit, der rechte Mainstream radikalisierte sich, und es fand eine Entgrenzung statt, die in der Legitimierung des extremen Randes des politischen Spektrums mündete.
Der politische Rechtsrutsch
Es gibt eine Reihe von Gründen für diesen Verlauf. Ein Faktor ist, erstens, die demographische Entwicklung. In Israel gilt: Je jünger, desto politisch rechter. Das hängt mit den hohen Geburtenraten in den religiös-zionistischen und ultraorthodoxen Milieus zusammen. Insgesamt verorten sich heute mehr als 60 Prozent der jüdischen Israelis politisch rechts. Dies korrespondiert mit der Zusammensetzung des Parlaments: Denn das Scheitern des Friedensprozesses macht, zweitens, linke Positionen unglaubwürdiger und rechte plausibler. Seit Mitte der 2000er Jahren lässt sich ein kontinuierlicher Abwärtstrend der linken und eine wachsende Dominanz der rechten Parteien beobachten. Nachhaltig verstärkt wurde diese Tendenz, drittens, dadurch, dass die Parteien der Charedim ihre Schlüsselposition als Königsmacher zwischen den politischen Blöcken aufgaben und sich nun ebenfalls im rechten Lager positionieren. Ab 2015 hatte das rechte Lager zusammen mit der Mitte-rechts-Partei Kulanu die Majorität in der Knesset, seit 2019 gibt es rein rechte Mehrheiten im Parlament.
Diese Mehrheit war, viertens, dauernd begleitet von internen Kämpfen um die Hegemonie, die zu einer Radikalisierung führten: Plötzlich erschien die Verwirklichung rechter politischer Vorstellungen, die bis dato nur abstrakt diskutiert worden waren, in greifbare Nähe zu rücken. Es begann ein Prozess, in dem diese Vorstellungen in konkrete politische Pläne und Gesetzesvorschläge übersetzt wurden. Gleichzeitig wurde der Likud gezwungen, Farbe zu bekennen. Weiter rechts stehende Parteien drängten (und drängen) den Likud, diese Visionen auch umzusetzen. Das galt auch für dessen Führer Benjamin Netanjahu: Der heutige Vorsitzende des Religiösen Zionismus, Betzalel Smotrich, etwa hielt ihm 2016 vor, er sei gar nicht rechts und bevorzuge Koalitionen, die linke oder Zentrumsparteien inkludieren. In den Umfragen ließ sich dies an der Abwanderung von Likud-Wählern zu weiter rechts stehenden Parteien ablesen. Auch als sich 2015 bereits eine Rechtskoalition etablierte, setzten sich diese Dynamik und der Kampf um ideologische Vorherrschaft fort. Netanjahu reagierte darauf mit einem inhaltlichen Rechtsruck (den seine Partei schon vollzogen hatte) und ermöglichte etwa das Nationalstaatsgesetz oder ein Gesetz, das selbst nach israelischem Recht illegale Outposts legalisierte. Dass, fünftens, die USA unter Präsident Donald Trump viele der rechten Positionen unterstützten, tat ein Übriges, um den Trend weiter zu verstärken.
Als Katalysator dieses Prozesses erwies sich letztlich die gegen Netanjahu erhobene Anklage wegen Korruption. Im Kontext des Strafverfahrens wandten sich ab der Wahl 2019 zunächst die Partei Israel Beitenu, dann die Likud-Abspaltung Neue Hoffnung unter Gideon Saar und schließlich das Bündnis Yamina von Netanjahu ab. Um den Verlust dieser Stimmen auszugleichen, mobilisierte der Premier Kräfte am extremen Rand des rechten politischen Spektrums, die bereit waren, ihn vor der Korruptionsanklage zu schützen. Im Vorfeld der Wahl 2021 orchestrierte Netanjahu daher den neuen rechtsradikalen Parteienzusammenschluss des Religiösen Zionismus. Die Idee dahinter war, dass in Anbetracht der 3,25-Prozenthürde keine Wählerstimme für diese Parteien verloren gehen sollte. Kurz vorher begann Netanjahu bereits, sich als Anführer einer harten ideologischen Rechten zu präsentieren und Pläne für eine Annexion des Westjordanlands oder von Teilen davon zu befürworten.
All diese Manöver resultierten in einer Entgrenzung nach rechts: Für das Netanjahu-Lager gibt es seitdem keine Partei im rechten Spektrum mehr, die sich durch zu radikale Positionen für eine Zusammenarbeit disqualifizieren würde. Dies offenbart sich vor allem am Beispiel von Otzma Jehudit, der Nachfolgepartei der wegen Rassismus verbotenen Kach. Wenn deren Gründer Meir Kahane in den 1980er Jahren in der Knesset ans Rednerpult trat, verließ das Plenum den Saal. Anders heute: Seiner Nachfolgepartei Otzma Jehudit wurde von Netanjahu nicht nur der Weg ins Parlament geebnet, sondern auch ins Kabinett.
Israels neue Rechte
Der Likud ist nicht mehr zu vergleichen mit der nationalliberalen Partei, die er noch in den 2000er Jahren war. Auch frühere Parteigrößen wie Dan Meridor, Benny Begin oder Reuven Rivlin haben sich vom heutigen Likud distanziert und werden umgekehrt aus den aktuellen Reihen kritisiert. Zwar vertrat der Likud schon nach seiner Gründung das Ziel eines »Groß-Israel«, das mindestens das Westjordanland beinhalten sollte. Nach den Oslo-Abkommen wurde der Diskurs über den finalen Status aber lange Zeit von dem über Konfliktmanagement überlagert. Dies änderte sich in den 2010er Jahren: Inzwischen geht es nicht mehr um Konfliktmanagement, sondern darum, die Palästinenser zur Aufgabe zu bewegen und wenigstens Teile des Westjordanlands in den israelischen Staat zu integrieren. Die Forderung nach Annexionen wurde im Lauf des Jahrzehnts zum Mainstream in der Partei. Als Letzter machte sie sich Netanjahu zu eigen. Begleitet war dieser Prozess von konkreten Plänen und Gesetzesvorlagen. Demnach soll die palästinensische Bevölkerung künftig entweder außerhalb des Staates Israel in semiautonomen Enklaven unter israelischer Kontrolle leben oder innerhalb des Staates keine politischen Rechte bekommen.
Einschneidender für den Likud ist aber die weitgehende Aufgabe seiner Identität als nationalliberale Kraft und die Transformation in eine majoritären Prinzipien anhängende und oftmals populistische Partei. Dieser Wandel zeigt sich vielfach in den verbalen Angriffen auf Medien, politische Gegner, die arabische Minderheit, aber vor allem auch auf das Justizsystem und den Obersten Gerichtshof. Während der Likud 1992 mit dem Grundgesetz (Israel hat 12 Grundgesetze, aber keine Verfassung) »Menschenwürde und Freiheit« einen der konstitutionellen Eckpfeiler Israels als liberale Demokratie etablierte, ist es heute eines der wichtigsten Ziele der Partei, diese Gesetzgebung zu neutralisieren. Justizminister Yariv Levin, der ideologische Taktgeber des Likud, betont etwa, dass das Judentum im jüdischen Staat Vorrang haben müsse. Der Oberste Gerichtshof beschädige die Demokratie schwer. Netanjahu spricht im Kontext der gegen ihn gerichteten Anklage auch vom »tiefen Staat«, bestehend aus Medien und Justizorganen, der staatsstreichartig gegen demokratisch gewählte rechte Regierungen vorgehe. Seit der Eröffnung des Strafprozesses ist Netanjahu von den Verteidigern des Gerichtshofs ins Lager der schärfsten Kritiker dieser Instanz gewechselt.
Entgrenzung nach rechts
Am rechten Rand ist das jüdisch-orthodoxe Bündnis »Religiöser Zionismus« zur Wahl angetreten. Dies umfasst einerseits die Kleinstpartei Noam, die vor allem durch ihre Anti-LGBTQI-Positionen bekannt ist. Ferner gehören ihm die inhaltlich sehr ähnlichen Parteien Zionismus und Otzma Jehudit an, wobei Otzma Jehudit immer etwas radikaler auftritt. Beide Parteien plädieren für eine Annexion des Westjordanlands, vertreten die Interessen der Siedler und fordern einen Transfer der Palästinenser aus dem Westjordanland und aus Israel, zum Beispiel nach Europa. Der Vorsitzende des Religiösen Zionismus Smotrich hat diese Pläne in einem Dokument festgehalten, Itamar Ben-Gvir, der Kopf von Otzma Jehudit, in verschiedenen Interviews vertreten. Otzma Jehudit will zudem ein Emigrationsministerium einrichten. In ihrem Parteiprogramm fordert die Partei auch einen »totalen Krieg« gegen Israels Feinde. Zu denen zählten, wie der frühere Parteivorsitzende Michael Ben-Ari konstatierte, 99 Prozent der Araber. Smotrich rief 2021 den arabischen Abgeordneten zu, dass ihre Präsenz in der Knesset ein historischer Fehler des ersten Ministerpräsidenten Israels, David Ben Gurion, sei. Dieser habe »seinen Job nicht vollendet, sie hinauszuwerfen«.
In diesen Parteien finden sich auch Personen, die eine direkte Nähe zu Gewaltakteuren haben. Ben-Gvir selbst wurde wegen Anstachelung zum Rassismus und Mitgliedschaft in einer Terrorgruppe verurteilt. Beide Parteien fordern zudem, dass man die Rechte des Obersten Gerichtshofs stark beschneiden müsse. Das Prinzip eines jüdischen Staates und die religiösen Gebote stünden über den Werten des Friedens und der westlichen Demokratie. Ferner vertreten sie den Standpunkt, dass Israel auch nach einer Annexion des Westjordanlands eine Demokratie sei, selbst wenn die dortige palästinensische Bevölkerung keine staatsbürgerlichen Rechte erhielte. Fernziel dieser Parteien ist ein Staat auf Grundlage der Halacha, des religiösen Gesetzeskodex.
Die Parteien der Charedim
Die beiden ultraorthodoxen Parteien Schas und VTJ sind zurückhaltender, was die besetzten Gebiete betrifft, da sie, anders als viele religiöse Zionisten, keine messianische Hoffnung mit der Besiedlung verbinden. Vielmehr betreiben sie Klientelpolitik. Sie kümmern sich vor allem um die Finanzierung der Thoraschüler und deren Schutz vor dem Einfluss von Staat und Gesellschaft – etwa dahingehend, dass ihre Schulen kaum säkulare Fächer unterrichten müssen, nur etwa 50 Prozent der Männer einer Arbeit nachgehen und stattdessen die Thora studieren und kaum im Militär dienen.
Dennoch sind auch die Ultraorthodoxen in den letzten Jahren nach rechts gerückt. Einer der Gründe dafür ist, dass Netanjahu ihnen in allen oben erwähnten Themen entgegenkommt, während die Opposition ihre Sonderstellung aufheben möchte. Die stärkere Integration der jahrzehntelang isolierten Gemeinschaft führt außerdem dazu, dass die Ultraorthodoxen zunehmend auch Ansprüche anmelden, was die innere Gestaltung des Staates Israel und insbesondere dessen Beziehung zur jüdischen Religion angeht. Ihre extrem konservative Weltsicht beeinflusst die israelische Gesellschaft mehr und mehr, etwa durch das Schaffen öffentlicher Räume, in denen Geschlechtertrennung gilt. Lautstark wenden sie sich zudem gegen den »liberalen Terror« des Obersten Gerichtshofs, der viele ihrer Vorrechte unter Verweis auf Gleichberechtigungsgrundsätze aufgehoben hat. Daher sind sie Vorreiter bei der Forderung, den Gerichtshof zu entmachten.
Auch wenn der Umgang mit den besetzten Gebieten für die Charedim von nachgeordneter Bedeutung ist, kann man auch diesbezüglich einen Rechtsruck attestieren. Das hängt damit zusammen, dass die am schnellsten wachsenden Siedlungen von Ultraorthodoxen bewohnt werden. Daher stehen diese einem Rückzug aus den Gebieten kritisch gegenüber. Schwerer wiegt noch, dass die ultraorthodoxe Wählerschaft, insbesondere die Jugend, weiter nach rechts rückt. Das heißt, die Parteien sind gezwungen, programmatisch nachzusteuern, um ihre Unterstützer nicht zu verlieren – gerade bei der letzten Wahl haben sie Wähler an den Religiösen Zionismus verloren. Bei den Charedim führt – entgegen herkömmlicher wissenschaftlicher Annahmen – die zunehmende Demokratisierung durch politische Teilhabe daher eher zu einer Radikalisierung denn zu einer Mäßigung.
Stoßrichtungen der Koalition
Der wichtigste gemeinsame Nenner dieser Regierung ist die Schwächung liberal geprägter Institutionen und die Stärkung nationaler bzw. religiöser Kollektivvorstellungen. Was das in seiner extremeren Form bedeuten kann, ließ sich während der Koalitionsverhandlungen beobachten: Es gab Forderungen nach unbegrenzter Haft für Asylsuchende, nach einem Recht für Ärzte, die Behandlung bestimmter Gruppen (etwa aus der LGBTQI-Gemeinde) zu verweigern, oder nach der Beseitigung der Bestimmung, dass Rassismus einer der Gründe ist, für die man für die Wahl zum Parlament disqualifiziert werden kann. Die israelische Regierung geht damit einen Weg, den auch andere Bewegungen oder Regierungen beschreiten, die sich majoritären Prinzipien verschrieben haben, etwa in Polen, Ungarn, den USA, Brasilien oder Indien.
Dabei hat der antiliberale Impetus in Israel noch spezifische Weiterungen, weil er sich nicht nur per se gegen liberale Werte oder gegen das, was klassisch als Gefahr für ethnonationale Kollektive begriffen wird (zum Beispiel Immigration), richtet. In Israel kommt der Konflikt mit den Palästinensern hinzu, der für den Staat nicht nur eine territoriale, sondern auch eine identitätsbestimmende Dimension hat. Die Kritik an der Universalität der Menschen- und Minderheitenrechte verbindet sich im Diskurs über die Palästinenser mitunter mit einer offen zur Schau getragenen Missachtung des Völkerrechts.
Die Transformation der Judikative
Betrachtet man die Vorhaben der neuen Koalition, gibt es kaum ein Feld, in dem die Regierung nicht Änderungen der normativen Grundlagen und Funktionsweisen der Institutionen anstrebt. Der Wille zur Umgestaltung betrifft die Organisation der Besatzung des Westjordanlands, das Erziehungswesen, die Stellung der Frauen, der LGBTQI-Community und der arabischen Minderheit, den Justizapparat, das Polizeiwesen, das Verhältnis von Staat und Religion, das Staatsbürgerrecht etc.: Diese Regierung ist von einem antiliberalen, kulturrevolutionären Momentum getrieben.
Dabei treten in der Regel zwei Stoßrichtungen zutage: Erstens sollen die funktionalen Imperative und Checks and Balances, nach denen die Institutionen operieren, zugunsten eines politischen Mehrheitsprinzips ausgehebelt werden; und zweitens sollen auf den genannten Feldern langfristig ethnonationale Prinzipien handlungsleitend sein. Unmittelbar sichtbar wird dieser Ansatz zum Beispiel, wenn Ben-Gvir exklusive Kompetenzen erhält, um Verhaltensrichtlinien für die Polizei vorzugeben, wenn innermilitärische Befugnisse direkt dem neuen Ministerium unter Smotrich zugewiesen werden oder sicherlich am auffälligsten bei der geplanten Beschneidung der Rechte des Justizapparats und des Obersten Gerichtshofs.
Letzteres ist deswegen von so großer Bedeutung, weil der Gerichtshof die einzige Einrichtung ist, die gegenüber dem Parlament eine effektive Kontrollfunktion ausübt. Dies gilt insbesondere für seine aus dem Grundgesetz »Menschenwürde und Freiheit« extrapolierte Normenkontrollfunktion. Das israelische Regierungssystem kennt keine Gegengewichte oder Machtbegrenzung in Form einer zweiten Kammer, keine präsidentiellen Prärogative, keine umfassende Verfassung und auch keine föderale Struktur. Der Gerichtshof hat die Normenkontrolle seit 1995 genutzt, um 22 Gesetze und weitere Regierungsentscheidungen zurückzuweisen, zum großen Ärger der Rechten, die diese Praxis als fundamental undemokratisch kritisieren. Zum Vergleich: Das deutsche Bundesverfassungsgericht hat im gleichen Zeitraum mehr als 200 Gesetze mindestens teilweise aufgehoben oder Änderungen daran verlangt.
Justizminister Levin hat nun einen umfassenden Plan vorgestellt, wie der Gerichtshof geschwächt werden soll. So soll die Wahl der Richter in Zukunft durch eine politische Mehrheit zustande kommen. Das juristische Prinzip der Angemessenheit soll nicht in Bezug auf Regierungsentscheidungen angewendet werden können. Am wichtigsten ist aber wohl die »Überstimmungsklausel«. Damit soll das Parlament Normenkontrollverfahren, das heißt Urteile des Gerichtshofs auf Grundlage der israelischen Grundgesetze, mit einfacher Mehrheit überstimmen können – lediglich wenn alle 15 Richter die Aufhebung eines Gesetzes unterstützen, soll dies nicht gelten. Im Endeffekt würde diese Reform die in Israel ohnehin limitierten Prinzipien der liberalen Demokratie aushebeln. Denn ohne Normenkontrolle hat die parlamentarische Mehrheit kaum mehr Beschränkungen. Letztlich können auch die gesetzlichen Grundlagen, auf denen der Gerichtshof operiert, geändert werden. Zugleich schafft die Justizreform die Voraussetzungen für weitere Reformen, die bis dato am Gerichtshof scheiterten oder gar nicht erst angestoßen wurden.
Einige Politiker haben bereits angekündigt, dass sie Gesetze, die vom Gerichtshof schon einmal zurückgewiesen wurden, in dieser Legislaturperiode unverändert neu verabschieden wollen: Dazu gehört die Legalisierung vormals illegaler Außenposten im Westjordanland, die Einführung der unbegrenzten Sicherheitsverwahrung oder die Befreiung der Charedim vom Militärdienst. Auch exekutive Entscheidungen, die der Gerichtshof ebenfalls annulliert hatte, könnten wieder in Kraft treten, etwa die regelmäßige Disqualifizierung verschiedener arabischer Parteien vor Knesset-Wahlen oder die öffentliche Finanzierung geschlechtergetrennter Veranstaltungen. Und nicht zuletzt dürfte auch der Verlauf der Anklage gegen Netanjahu von der (verbliebenen) Stärke des Justizapparats abhängen.
Die besetzten Gebiete
Innerhalb der Rechten gibt es einen Konsens darüber, dass nur das jüdische Volk einen historischen Anspruch auf das Westjordanland hat, dass sich Israel nicht mehr daraus zurückziehen wird und dass es einen palästinensischen Staat zwischen Jordan und Mittelmeer nicht geben kann. Im Koalitionsrahmenvertrag heißt es bereits im ersten Satz: »Das jüdische Volk hat ein exklusives und unveräußerliches Recht auf alle Teile des Landes Israel […] – Galiläa, Negev, den Golan und Judäa und Samaria.« Daher ist diese Regierung auch weit davon entfernt, nach einem Kompromiss mit den Palästinensern zu suchen. Vielmehr geht es darum, den Konflikt so weit wie möglich unilateral zu entscheiden und die Kontrolle über weite Teile des palästinensischen Gebiets, insbesondere die C-Gebiete, zu verstetigen.
Alle Mitglieder dieser Regierung unterstützen auch mindestens Teilannexionen (siehe dazu zahlreiche Interviews im Journal »Ribonut«), sind aber unterschiedlicher Meinung, ob dies gerade strategisch klug sei – der Likud scheint dies eher zu verneinen. Im Koalitionsvertrag mit dem Religiösen Zionismus (§118) steht jedoch, dass der Premier eine Politik für die Übertragung der »Souveränität« (sprich Annexion) des Westjordanlands konzipieren soll. Wie diese genau aussehen soll, ist noch unklar. Likud-Politiker Levin formuliert, an welcher Strategie sich die Koalition hier orientieren sollte, wenn nicht offiziell annektiert wird: Die Regierung müsse versuchen, »ein Maximum an Territorium zu halten und die Souveränität über ein Maximum an Territorium auszuüben, während die arabische Bevölkerung in diesem Gebiet auf ein Minimum beschränkt wird.« Damit beschreibt Levin einen Prozess, den man als De-facto-Annexion bezeichnen kann, nämlich die rechtliche Integration von Siedlungen und Siedlern in das israelische Rechtssystem, obwohl im Westjordanland Besatzungsrecht herrscht und somit der Oberbefehlshaber der zuständigen Militäreinheit dort auch völkerrechtlich der Souverän ist. Der israelische Think-Tank INSS schließt aus den Koalitionsvereinbarungen, dass Israel sich in einem Prozess der beschleunigten Annexion befinde. In der Tat hat der Likud bereits angekündigt, dass die neue Regierung eine Reform zur »staatsbürgerlichen Gleichstellung der Siedler« durchführen werde, ohne aber den legalen Status der Territorien zu verändern. Auch haben Teile der Koalition betont, den Status quo auf dem Tempelberg verändern zu wollen – eine Maßnahme, der besonderes Eskalationspotential innewohnt.
Generell ist zu befürchten, dass die Gewalt im Westjordanland weiter zunehmen wird. Schon unter der Bennett-Lapid-Regierung 2021/22 haben die gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen dem israelischen Militär, Palästinensern und Siedlern einen Höchststand seit Ende der Zweiten Intifada erreicht. Bei Teilen der neuen Regierung scheint zumindest fraglich, ob sie Interesse an einer Beruhigung der Situation haben oder eine Eskalation anstreben, um ein weitergehendes Vorgehen gegen die Palästinenser rechtfertigen zu können. Vor allem die Tatsache, dass Ben-Gvir und Smotrich in ihren neu zugeschnittenen Ministerien weitreichende administrative, aber auch polizeiliche Befugnisse haben, trägt zu dieser Befürchtung bei: Denn damit sind zwei Schlüsselpositionen, die die Rahmenbedingungen des Lebens der Palästinenser im Westjordanland maßgeblich mitbestimmen, nun in den Händen von Personen, die die palästinensische Bevölkerung umsiedeln wollen.
Ausblick
Netanjahu hat in verschiedenen Interviews geäußert, dass man sich keine Sorgen um die Radikalen in seinem Kabinett machen müsse, weil er die Entscheidungsgewalt in der Regierung habe. Allerdings deuten die Entwicklungen der letzten Wochen nicht darauf, dass er seinen mäßigenden Einfluss derzeit ausüben kann oder will. Vielmehr scheint diese Regierung gewillt, den Staat Israel deutlich illiberaler zu gestalten und entscheidende Weichen zu stellen, um das Westjordanland permanent unter israelischer Kontrolle zu behalten.
Für die deutsche Außenpolitik ist diese israelische Regierung eine Herausforderung. Vor dem Hintergrund seiner historischen Verantwortung einerseits und seiner Verpflichtung auf universelle Prinzipien wie Völker- und Menschenrechte andererseits hat sich Deutschland bis dato für eine Zwei- Staaten-Lösung eingesetzt. Die Hoffnung, dass israelische Völkerrechtsverstöße durch eine Lösung des Konflikts perspektivisch aufhören könnten, ist angesichts der aktuellen Regierung – die ja Ausdruck eines längerfristigen Trends ist – allerdings völlig unrealistisch; im Gegenteil, diese Regierung hat die Absicht, eine Zwei-Staaten-Lösung zu verunmöglichen.
Wenn Deutschland einen sinnvollen und konstruktiven Part im Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern übernehmen will, muss es sich dieser Situation anpassen. Dazu gehört, präventiv im Konzert mit den USA und der EU, gegebenenfalls auch mit einigen arabischen Staaten, darauf hinzuwirken, dass eine Gewalteskalation vermieden wird. Dies gilt auch für konkrete Siedlungsbauvorhaben und die Verdrängung der Palästinenser aus dem von Israel vollständig kontrollierten Teil des Westjordanlands (C-Gebiete) und Jerusalem. Generell sollte es der deutschen Politik darum gehen auszuloten, wie eine verhandelte Konfliktregelung erhalten werden kann und welche Maßnahmen dafür in Frage kommen.
Doch das Profil der neuen israelischen Regierung wirft noch grundlegendere Fragen auf: Was könnte eine deutsche Position zum Konflikt sein, wenn klar werden sollte, dass eine Zwei-Staaten-Lösung nicht mehr möglich ist? Auch über die Frage, inwiefern eine Besatzung – die per Definition temporär sein muss – noch völkerrechtlich legitim sein kann, wenn klar ist, dass die Besatzer das Territorium nicht verlassen wollen, muss diskutiert werden. Letztlich bedarf es eines Prozesses der Selbstbefragung, wie vor diesem Hintergrund eine deutsche Israelpolitik aussehen kann, bei der weder die Verantwortung aus dem historischen Erbe noch grundlegende Werte deutscher Außenpolitik aufgegeben werden.
Dr. Peter Lintl ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten.
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DOI: 10.18449/2023A03