Am disruptiven Politikstil Javier Mileis hat sich nach seinem Amtsantritt als argentinischer Präsident am 10. Dezember 2023 nichts geändert. Weiterhin profiliert er sich – auch in den sozialen Medien – als aggressiver Einzelkämpfer, der einen Kreuzzug führt. Mileis Regierungspolitik entspricht weitgehend seiner Wahlkampfrhetorik. Im Juli erzielte die Regierung erste verhandlungspolitische Erfolge – es gelang ihr, ein Gesetzespaket durch das Parlament zu bringen und sich mit drei Vierteln der Provinzgouverneure auf einen wirtschaftspolitischen Kompromiss zu einigen. Während Argentiniens ökonomische Perspektiven noch unklar sind, stehen viele demokratische Errungenschaften der letzten Jahrzehnte unter Druck.
Mit Javier Milei wurde in Argentinien ein Außenseiter zum Präsidenten gewählt. Der 1970 in Buenos Aires geborene Ökonom, der jahrelang in Banken und Unternehmen gearbeitet hatte und später Wirtschaftskolumnen in Zeitungen veröffentlichte, wurde ab 2016 durch provokante Fernsehauftritte und rege Aktivitäten in den sozialen Medien einem breiteren Publikum bekannt. Als häufiger Gast in Talkshows war er ein scharfer Kritiker der herrschenden Wirtschaftspolitik. Dies betraf zunächst die konservative Regierungskoalition unter Mauricio Macri (2015–2019), dann die Mitte-links-Präsidentschaft von Alberto Fernández (2019–2023).
Seine politische Karriere begann Milei 2021, als er erfolgreich für den Nationalkongress kandidierte und dort als Abgeordneter der Stadt Buenos Aires einzog. Bei den Präsidentschaftswahlen zwei Jahre später gewann er in 21 der 24 Wahlkreise des Landes. Mileis Wählerschaft rekrutiert sich aus allen sozialen Schichten, wobei Männer und insbesondere die 16- bis 24-Jährigen überrepräsentiert sind. Seine parteipolitische und parlamentarische Basis bleibt jedoch schmal. Sein Wahlbündnis »La Libertad Avanza« (LLA, Die Freiheit schreitet voran) wurde erst 2021 gegründet. In der Abgeordnetenkammer verfügt es über 37 von insgesamt 257 Mandaten, im Senat über 7 von insgesamt 72 Sitzen. Keiner der 24 Provinzgouverneure des Landes gehört der LLA an.
Milei pflegt einen populistischen Politikstil und vertritt eine libertär-autoritäre Ideologie, die am rechten Rand des nationalen politischen Spektrums angesiedelt ist. Sein Erfolg als Politiker ist auf das Zusammenspiel nationaler und internationaler Faktoren zurückzuführen: Er ist das Ergebnis von Angebot und Nachfrage in der politischen Arena des eigenen Landes, aber auch Teil einer global erstarkenden radikalen Rechten.
It’s the economy, stupid!
Viele Bürger:innen Argentiniens sahen in dem Exzentriker Milei, der seit seiner Jugend »der Verrückte« (el loco) genannt wird, die letzte Hoffnung darauf, das Land aus seiner chronischen Wirtschaftskrise zu retten. Im November 2023 erreichte die jährliche Inflation den nationalen Rekordwert von 160 Prozent, und 49 Prozent der Bevölkerung waren von Armut betroffen. Zum informellen Sektor gehörten 45,3 Prozent der Arbeitnehmer:innen. Argentinien ist der mit Abstand größte Schuldner des Internationalen Währungsfonds (IWF). So ist es nicht verwunderlich, dass sich in der Stichwahl gegen den amtierenden Finanzminister ein Wirtschaftswissenschaftler durchsetzen konnte, der einen grundlegenden Umbau versprach – die Kettensäge als Symbol seiner radikalen Absichten in der Hand. Der Wahlsieg gelang mit Hilfe des Vorsitzenden der konservativen Partei PRO (Propuesta Republicana), Ex-Präsident Macri, der eine Wahlempfehlung für Milei aussprach, nachdem seine eigene Präsidentschaftskandidatin, Patricia Bullrich, nur den dritten Platz erreicht hatte.
Während Mileis stark theoretisch-technokratischer Diskurs wenig anschlussfähig bleibt, haben sein (auch nach Amtsantritt) auffälliges Auftreten und seine aggressive Emotionalität einen hohen Unterhaltungswert. Mit Mileis demonstrativer Wut über die Unfähigkeit der letzten beiden Regierungen, Argentinien auf einen Entwicklungspfad zu bringen, konnten sich weite Teile der Bevölkerung identifizieren. Im Vordergrund von Mileis Wahlerfolg standen so vor allem wirtschaftliche Anliegen. Sie verdrängten andere Aspekte und Ansichten des Kandidaten, die als problematisch oder irritierend empfunden werden konnten.
Ideologisches Gerüst
Mileis Diskurs war zu Beginn seines öffentlichen Wirkens stark wirtschaftspolitisch ausgerichtet, erfuhr im Laufe der Zeit aber eine ideologische Anreicherung. Das erweiterte politische Programm konnte verschiedene Sektoren der Gesellschaft ansprechen und an die Agenda der globalen radikalen Rechten anknüpfen.
Anarchokapitalismus
Milei bezeichnet sich selbst als liberal-libertär. Leben, Freiheit und Privateigentum sind seine höchsten Werte. Er ist ein Bewunderer der Österreichischen Schule und ein Kritiker der neoklassischen Wirtschaftstheorie, die staatlichen Eingriffen zur Korrektur von Marktfehlern Tür und Tor geöffnet habe. Dabei gibt es für Milei gar keine endogenen Marktfehler, sondern nur exogene Verzerrungen; der freie Markt sei das einzige moralisch vertretbare System zur Armutsbekämpfung.
Milei ist ein Anhänger des von Murray Rothbard in den 1950er Jahren in den USA begründeten Anarchokapitalismus. Anfang der 1990er Jahre argumentierte Rothbard, dass libertäre Ideen einer aktiven und aggressiven Strategie bedürften, um in den USA die Unterstützung einer Mehrheit zu gewinnen und sich politisch durchzusetzen. Er plädierte daher für einen Rechtspopulismus, dessen programmatische Kernpunkte sich im Zentrum von Mileis Diskurs wiederfinden. Rothbard propagierte eine »Strategie des Outreach«, die unter anderem darin bestehen sollte, dass sich Libertäre mit Paläokonservativen und Traditionalisten verbünden und dabei gewisse ideologische Kompromisse eingehen, etwa indem sie eine sozialkonservative Agenda übernehmen – eine ideologische Verschiebung, die auch in Mileis Diskursentwicklung zu beobachten ist. Diese neue breite rechtspopulistische Bewegung, so Rothbard, müsse unter der charismatischen Führung eines Präsidentschaftskandidaten stehen, dem alle rechten Anti-Establishment-Kräfte begeistert folgen würden.
Feind von Staat und Politik
Ein Staat, der nicht in der Lage ist, die dringendsten Probleme der Bürger:innen zu lösen und von Korruption geprägt ist, wird in der Diagnose zum Teil des Problems. Auf diesem gedanklichen Nährboden gedeiht Mileis individualistischer und antistaatlicher Diskurs. Er beschreibt den Staat als kriminelle Organisation, die von innen heraus zerschlagen werden müsse. Jegliche staatliche Intervention sei schädlich. Steuern sieht er als Zwangsmaßnahme eines Repressionsapparates zur Ausplünderung der ehrlichen und fleißigen Menschen. Werden in der argentinischen Wirtschaft die Ersparnisse mangels Vertrauens außerhalb des Bankensystems in Dollar gehalten, so versprach er, den abgewerteten Peso durch die US-Währung zu ersetzen und die Zentralbank abzuschaffen.
In typisch populistischer Manier macht Milei »die Kaste«, wie er die politische Elite nennt, für alle Missstände verantwortlich. Ihre Mitglieder seien »Parasiten«, die den Reichtum des Landes vernichteten. Politik verachtet er als schmutziges Geschäft.
Die faktische Ungleichheit der Menschen aufgrund der doppelten Kontingenz von sozialer Herkunft und (auch dadurch bedingter) persönlicher Begabung wird von Milei nicht anerkannt. Vielmehr geht er theoretisch von einer Ursprungsgleichheit (nicht zu verwechseln mit Gleichwertigkeit) aus. Daher sieht er in politisch-rechtlichen Ordnungen keine Ermöglichungsrahmen mit Ausgleichsmechanismen (etwa Regeln zur Vermeidung von Oligopolen), sondern nur Einschränkungen der freien Entfaltung von Individuum und Markt; die Umverteilung gilt ihm als eine Quelle von Ungerechtigkeit. So lehnt er Ansätze der »Affirmative Action« bzw. positiven Diskriminierung, des Minderheitenschutzes und der Sozialpolitik kategorisch ab.
Engagiert im Kulturkampf
Nach Ansicht Mileis haben die »Neomarxisten« es verstanden, den gesunden Menschenverstand des Westens auszuschalten. Sie hätten die Massenmedien, die Kultureinrichtungen, die Universitäten und auch die internationalen Organisationen unter ihre Kontrolle gebracht. Deshalb sei der Okzident in Gefahr.
Argentinien zeichnet sich durch eine sehr lebendige feministische (queer-inklusive) Bewegung aus. In den letzten 15 Jahren hat eine hart erkämpfte progressive Gesetzgebung zu einer deutlichen Ausweitung der Rechte von LGBTIQ+ geführt. In diesem Land hat Milei dem Feminismus, dem »Genderismus«, dem »Kulturmarxismus« und der politischen Korrektheit den Kampf angesagt. Denn diese Strömungen würden neue Privilegien schaffen, staatliche Eingriffe bewirken und damit den freien Wirtschaftsprozess stören.
Mileis ultraliberale Haltung, mit der er den Verkauf der eigenen Organen unter Marktbedingungen befürwortet hat (»Mein erstes Eigentum ist mein Körper, warum sollte ich nicht darüber verfügen können?«), stößt schnell an ihre Grenzen, wenn es um die Selbstbestimmung von Schwangeren geht. Hier setzt er sich, gemeinsam mit seiner Vizepräsidentin Victoria Villarruel, für die Rücknahme der vom Kongress 2020 beschlossenen Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen ein. Abtreibung bewertet Milei als »Mord unter Verwandten«, der besonders hart bestraft werden müsse.
Mangelnde Geschlechtergerechtigkeit hält er für eine Erfindung der Linken. Auf den Vorwurf der Frauenfeindlichkeit reagiert Milei mit dem Hinweis, dass er politisch zwei Frauen an seiner Seite habe: Vizepräsidentin Villarruel, die mit ihm auf einem Doppelticket gewählt wurde, und Karina Milei, seine (jüngere) Schwester und rechte Hand. Sie wird von ihm – in männlicher Form – »der Chef« genannt, war seine Wahlkampfleiterin und ist heute Generalsekretärin der Präsidentschaft.
Für eine andere Erinnerungskultur
Im Gegensatz zur Erinnerungspolitik der peronistischen Regierungen von Néstor Kirchner (2003–2007) und Cristina Kirchner (2007–2015), die sich die Menschenrechte auf die Fahnen geschrieben hatten – nicht ohne das Thema teilweise zu instrumentalisieren und einige zivilgesellschaftliche Organisationen zu vereinnahmen –, relativiert Milei die Verbrechen der argentinischen Militärdiktatur (1976–1983). Zwar räumt er ein, dass es damals im »Krieg gegen die Subversion« zu Exzessen gekommen sei. Den systematischen Charakter der begangenen Menschenrechtsverletzungen (Entführungen, Folter, Morde, Verschwindenlassen) leugnet er jedoch. Er stellt die von Menschenrechtsorganisationen geschätzte und bisher auch von staatlicher Seite akzeptierte Zahl von rund 30.000 Todesopfern der Militärjunta in Frage. Diese Größenordnung ist zum Symbol für den Kampf um Erinnerung, Wahrheit und Gerechtigkeit geworden. Milei verweist dagegen auf jene 8.961 Opfer, die 1984 von Angehörigen offiziell der Nationalen Kommission für das Verschwindenlassen von Personen gemeldet wurden.
Vizepräsidentin Villarruel, die eher als Erzkonservative denn als Libertäre gilt, ist familiär und beruflich mit der Junta-Ära verbunden. Sie stammt aus einer Militärfamilie. Ihr Vater war Veteran des Falkland/Malvinas-Krieges und beteiligte sich nach der Redemokratisierung an aufständischen Aktivitäten. Ihr Onkel, ebenfalls Militär, war – so eine Anklage der argentinischen Justiz – in Menschenrechtsverletzungen während der Militärdiktatur verwickelt.
Zudem ist Villarruel, von Beruf Rechtsanwältin, die Gründerin des »Zentrums für juristische Studien über den Terrorismus und seine Opfer« (CELTYV). Dieses setzt sich seit 2006 für mehr Sichtbarkeit und Anerkennung der Opfer von Gewalt durch Guerilla-Organisationen in Argentinien ein. Laut Villarruel stehen diese Opfer im Schatten einer Erinnerungskultur, die von den an die Macht gekommenen ehemaligen Linksterroristen geprägt sei.
Im Zusammenhang mit diesem Blick auf die Repression der 1970er Jahre steht die sogenannte »Politik der gerechten Hand«, die Milei und Villarruel vertreten. Sie richtet sich sowohl gegen Kriminalität als auch gegen soziale Mobilisierung – vor allem was die in Argentinien üblichen Straßenblockaden (piquetes) angeht. Obwohl sich die beiden generell als Gegner staatlicher Intervention verstehen, plädieren sie für eine Ausweitung der staatlichen Eingriffsrechte in Sicherheitsfragen.
Mission und Retrotopia
Milei stellt seine Präsidentschaft als Auftrag Gottes dar – ähnlich wie Jair Bolsonaro in Brasilien und Donald Trump in den USA dies für sich beansprucht haben. Der Kampf des Libertarismus gegen den Kommunismus sei auch ein Kampf der Gläubigen gegen die Atheisten, bei dem göttliche Kräfte helfen würden. Mileis religiöses Missionsverständnis wird auch deutlich, wenn er die Arbeitsteilung mit seiner Schwester in Anlehnung an das Alte Testament beschreibt. Das Geschwisterpaar sei wie Moses (für Karina Milei) und Aaron, dessen Sprecher (für Javier Milei). Hier kommt Mileis Philosemitismus zum Ausdruck. Der Katholik spielt mit dem Gedanken, zum Judentum zu konvertieren, zählt den argentinischen Rabbiner Axel Wahnish zu seinen spirituellen Begleitern und besuchte mehrfach das Grab (Ohel) des Lubawitscher Rabbis Menachem Mendel Schneerson (1902–1994) in New York. Die mystische Überhöhung der politischen Aufgabe trägt zum libertären Autoritarismus bei: Politik verliert ihren agonalen und kontingenten Charakter und wird zur evidenten Wahrheit, zur politisch-religiösen Offenbarung erhoben.
Doch Mileis Mission ist rückwärtsgewandt. Erklärtes Ziel seines Bündnisses LLA ist es laut Wahlprogramm 2023, Argentinien durch eine liberale Politik wieder zu dem wirtschaftlich, politisch, kulturell und sozial blühenden Land zu machen, das es (als angeblich erste Weltmacht) zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewesen sein soll – einer Zeit übrigens, in der es noch kein allgemeines und geheimes Wahlrecht gab. Diesen Topos einer verklärten Vergangenheit, der im Sinne eines »Make America Great Again« nicht nur im Zentrum von Mileis Reden steht, sondern allgemein für die radikale Rechte charakteristisch ist, hat der Soziologe Zygmunt Bauman als »Retrotopia« (2018) bezeichnet. Es handelt sich demnach um »Visionen, die sich […] nicht mehr aus einer noch ausstehenden und deshalb inexistenten Zukunft speisen, sondern aus der verlorenen/ geraubten/ verwaisten, jedenfalls untoten Vergangenheit«.
Regierungspolitik
Aus der Geschichte Argentiniens seit dem Übergang zur Demokratie haben Milei und sein Team zwei Lehren gezogen. Erstens sei die Regierung des Peronisten Carlos Menem (1989–1999), der die Agenda des von IWF und Weltbank propagierten »Washington Consensus« umsetzte und den argentinischen Peso an den US-Dollar koppelte, die bisher erfolgreichste gewesen. Zweitens sei Macris konservative Regierung (2015–2019) deshalb gescheitert, weil sie einen graduellen Reformismus verfolgte. Vor diesem Hintergrund kamen Milei und sein Umfeld zu dem Schluss, dass Argentinien einer Schocktherapie unterzogen werden müsse.
Gesetzgeberische Offensive
Um ein umfassendes Reformpaket voranzutreiben, startete die Regierung bereits im Dezember 2023 eine gesetzgeberische Offensive, die auf zwei Säulen ruht: einer Gesetzesinitiative und einem Dekret. Sie werden aufgrund ihres Umfangs und ihrer Implikationen als »Omnibusgesetz« bzw. »Megadekret« bezeichnet. In Argentinien sind Dekrete der Exekutive so lange gültig, bis sie sowohl vom Senat als auch von der Abgeordnetenkammer abgelehnt werden. Im Aufhebungsfall bleiben die während der Geltungsdauer des Dekrets erworbenen Rechte bestehen. Das Dekret DNU 70/2023 der Regierung Milei, das den öffentlichen Notstand in den Bereichen Wirtschaft, Finanzen, Steuern, Verwaltung, soziale Sicherheit, Tarife, Gesundheit und Soziales bis zum 31. Dezember 2025 erklärt, ist bis heute in Kraft, da es bisher nur vom Senat abgelehnt wurde. Dies entspricht langjähriger Praxis; seit 1983 konnte kein einziges Dekret vom Kongress aufgehoben werden.
Gesetze wiederum müssen von beiden Kammern verabschiedet werden; das Initiativrecht liegt bei Exekutive und Legislative. In seiner ursprünglichen Version umfasste der Entwurf des Omnibusgesetzes nicht weniger als 664 Artikel, die eine Vielzahl von Politikfeldern betrafen und eine Ausweitung der Kompetenzen der Exekutive (auf Kosten der Legislative) vorsahen. Als sich die Debatte im Kongress zu Ungunsten des Gesetzesvorhabens der Regierung entwickelte, beschloss diese, den ersten Entwurf zurückzuziehen. Im April 2024 legte sie eine zweite, technischere und um die Hälfte gekürzte Fassung vor. Diesen Entwurf (Ley 27742) mit nunmehr 238 Artikeln verabschiedete der Kongress im Juli, nachdem der Senat einige Änderungen vorgenommen hatte, mit denen unter anderem die angestrebte Erweiterung der exekutiven Befugnisse eingeschränkt und die Zahl der zu privatisierenden Staatsunternehmen reduziert wurde. Dieser erste legislative Erfolg der Regierung ein halbes Jahr nach ihrem Amtsantritt wurde durch die Unterstützung der PRO und eines Großteils der UCR (Unión Cívica Radical) sowie einiger Provinzparteien in beiden Kammern des Parlaments ermöglicht. Das umfangreiche Gesetzespaket wird derzeit mittels Durchführungsverordnungen der Exekutive geregelt und umsetzbar gemacht.
Ebenfalls im Juli einigte sich Milei mit 18 der insgesamt 24 (derzeit alle männlichen) Provinzgouverneure verschiedener parteipolitischer Couleur auf einen – ursprünglich für Mai geplanten – wirtschaftspolitischen Kompromiss, den »Pakt vom Mai«. Die in Tucumán unterzeichnete Vereinbarung enthält neben einem für Argentiniens Politik der letzten Jahrzehnte ungewöhnlichen dreifachen Gottesbezug (»im Angesicht des Ewigen«, »möge Gott alle Argentinier segnen«, »mögen die Mächte des Himmels mit uns sein«) zehn überwiegend ökonomische Prinzipien und Ziele. An erster Stelle wird das Privateigentum für unverletzlich erklärt. Die Reduzierung der Staatsausgaben auf 25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), die Wahrung des fiskalischen Gleichgewichts und die angestrebten Steuer-, Arbeits- und Rentenreformen werden nachfolgend behandelt. Die Provinzen verpflichten sich zur Förderung der natürlichen Ressourcen und die Regierung zur Öffnung des argentinischen Außenhandels. Das Dokument sieht auch die Einrichtung eines »Rates vom Mai« vor, um »das große, erhabene und heilige Ziel der Neugründung des Vaterlandes zu diskutieren«.
Makroökonomie und Menschen
Zu Mileis ersten wirtschaftspolitischen Maßnahmen gehörten zum einen die deutliche Abwertung des Peso (um mehr als 50 Prozent) und zum anderen die Abschaffung bzw. Lockerung von Preiskontrollen in den Bereichen Energie, Transport, Lebensmittel und Medikamente. In der Gesamtbetrachtung hat sich die Inflation im Land seit Januar 2024 von Monat zu Monat verlangsamt. Im Juni lag sie bei 271,5 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat, kumuliert für das erste Halbjahr bei 79,8 Prozent. Am stärksten stiegen im Juni die Preise für Mieten (nach der Flexibilisierung des Mietregimes zugunsten der Eigentümer:innen) und öffentliche Dienstleistungen (14,3 Prozent), gefolgt vom Gastgewerbe (6,3 Prozent) und dem Bildungswesen (5,7 Prozent).
Bereits im ersten Quartal 2024 wurde ein – kleiner – Haushaltsüberschuss erzielt. Er ist vor allem auf Kürzungen bzw. den Verzicht auf Inflationsanpassungen bei den Renten und Pensionen zurückzuführen, die im Mai real um rund 29 Prozent gegenüber dem Vorjahr gesunken sind. Auch die Kürzung (um rund 83 Prozent) der Investitionsausgaben, d. h. der Stopp geplanter und laufender Infrastrukturprojekte, trug stark dazu bei. Es gab zudem geringere Ausgaben für Subventionen (Energie und Transport) und Sozialprogramme. Eine der wenigen Positionen mit einer gegenläufigen Entwicklung ist die allgemeine und universelle Zulage für Kinder bzw. Schwangerschaft – mit einem realen Anstieg von 13 Prozent. Aber auch Mehreinnahmen, vor allem bei der Umsatzsteuer und der Devisentransaktionssteuer (deren Satz erhöht wurde) trugen zumindest in geringem Umfang zum positiven Haushaltssaldo bei.
Der Etatüberschuss gilt auch unter Berücksichtigung des Schuldendienstes. Im Juni konnte die Zentralbank eine Swap-Zahlung an China verschieben, und die Regierung erzielte einen Kompromiss mit dem IWF. Dieser billigte die achte Überprüfung seines Abkommens mit Argentinien und genehmigte die Überweisung von 800 Millionen US-Dollar, die teilweise zur Begleichung ausstehender Zahlungen an die Organisation verwendet werden sollen.
Auf der anderen Seite stehen im ersten Quartal 2024 ein Rückgang des BIP (um 5,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr) und ein Anstieg der Arbeitslosenquote (auf 7,7 Prozent gegenüber 6,9 Prozent vor einem Jahr), womit sich der seit Ende der Pandemie zu beobachtende Aufwärtstrend bei der Beschäftigung umgekehrt hat. Gleichzeitig nimmt der Druck auf den Arbeitsmarkt zu, da Beschäftigte und Unterbeschäftigte aufgrund der sinkenden Kaufkraft ihrer Einkommen nach (mehr) Arbeit suchen. So sind die Löhne im formellen Privatsektor im Vergleich zum Vorjahr um 14 Prozent zurückgegangen.
Mileis Wirtschaftsprogramm trifft vor allem die unteren Schichten hart. Armut und soziale Ungleichheit haben zugenommen. Nach den im August veröffentlichten Daten des Observatorio de la Deuda Social (UCA) waren im ersten Quartal 54,9 Prozent der Bevölkerung von Armut und davon 20,3 Prozent von extremer Armut betroffen. Sieben von zehn Kindern leben in einem armen Haushalt, davon drei in einem extrem armen, d. h. mit einem Einkommen, das nicht ausreicht, um den Wert eines Korbs an Grundnahrungsmitteln zu decken. Die Einkommensschere hat sich weiter geöffnet, wie der Anstieg des Gini-Koeffizienten von 0,446 auf 0,467 zeigt.
Der Staat eines Minarchisten
Obwohl sich Milei in der Theorie als Anarchokapitalist bezeichnet, sieht er sich in der Praxis als »Minarchist«, da er zumindest eine »kleine Autorität« anerkennt, deren Aufgabe es ist, für Sicherheit zu sorgen und Recht zu sprechen. Staatsstrukturen in anderen Bereichen aber sollen abgebaut werden.
Im Rahmen des »Kettensägenplans« kündigte er Massenentlassungen und die Nichtverlängerung von Arbeitsverträgen im öffentlichen Sektor an. Mehr als 75.000 Personen sollten davon betroffen sein, bis Juni wurde dies angeblich in 25.000 Fällen umgesetzt. Milei hat die Zahl der Ministerien halbiert. Heute umfasst sein Kabinett – neben dem Kabinettschef – die Ministerien für auswärtige Angelegenheiten, Sicherheit, Verteidigung, Wirtschaft, Gesundheit, Humankapital, Justiz sowie Deregulierung und Staatstransformation. Daneben gibt es vier Präsidialsekretariate. Im öffentlichen Dienst werden substantielle Reformen eingeleitet, die sowohl das Personalregime als auch die Verwaltungsverfahrensverordnung betreffen.
Auf der Liste der staatlichen Unternehmen, die ganz bzw. teilweise privatisiert oder in Lizenz vergeben werden sollen, stehen zunächst acht (überwiegend im Energie- und Transportsektor). Darüber hinaus werden zahlreiche staatliche Behörden, Agenturen, Ombudspersonen sowie Stipendien- und Zuschussprogramme abgeschafft, die für den Schutz und die Förderung bestimmter Bereiche, Rechte und gefährdeter Gruppen sorgen. Dazu gehört etwa das Nationale Institut gegen Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus (INADI). Besonders betroffen sind Kultureinrichtungen wie das Nationale Institut für Film und audiovisuelle Künste (INCAA), das die Regierung ebenfalls schließen will. Gleiches gilt für die Institutionen, die sich der Gendergerechtigkeit und der Bekämpfung sexualisierter Gewalt widmen (darunter ein Ministerium und ein Sekretariat), obwohl Femizide in Argentinien ein gravierendes Problem darstellen. Der Plan zur Formalisierung von – zumeist weiblichen – Hausangestellten sowie Programme zum Schutz der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt wurden gestrichen. In der Staatsverwaltung wurde die genderinklusive Sprache verboten. Am 8. März, dem Internationalen Frauentag, kündigte Milei die Umbenennung des 2009 im Regierungspalast eingerichteten »Saals der argentinischen Frauen der Zweihundertjahrfeier« in »Saal der argentinischen Helden« (próceres) an. Weitere Institutionen werden umgewidmet. So wurde die traditionsreiche staatliche Nachrichtenagentur TELAM in eine »Werbe- und Propagandaagentur« umgewandelt, ihre journalistische Tätigkeit damit eingestellt. Diese Entwicklung macht auch vor der renommierten Universidad de Buenos Aires (UBA) nicht halt, die sich wegen Budgetkürzungen zu drastischen Sparmaßnahmen gezwungen sieht – so muss sie etwa in manchen Bereichen auf die Beleuchtung verzichten.
Die Regierung hat eine Gesetzesinitiative zur Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters von 18 auf 13 Jahre in den Kongress eingebracht, mit der ein neues Strafregime für die zwischen 13- und 18-Jährigen entstehen soll. Weitere legislative Entwürfe zur inneren Sicherheit und zur Modernisierung der Streitkräfte sind in Vorbereitung. Die Notwendigkeit, das Militär auch im Inneren einzusetzen, begründet die Regierung mit einer nicht näher spezifizierten »terroristischen Bedrohung«. Die Armee soll auf den Straßen patrouillieren, Personen und Fahrzeuge kontrollieren und sogar Verhaftungen vornehmen dürfen. Dies steht im Einklang mit einer neuen Verordnung, die die föderalen Sicherheitskräfte ermächtigt, bei Demonstrationen, die den (Personen-)Verkehr stören, einzugreifen. Eine härtere Gangart der Polizei, die mit vielen Festnahmen einherging, war bereits bei den letzten Demonstrationen zu spüren.
Außenpolitische Wende
Präsident Milei hat eine »neue außenpolitische Doktrin« angekündigt, die auf einer strategischen Allianz mit den USA basiert und den »westlichen Werten« nicht widersprechen darf. Er tat dies im April in Argentiniens südlichster Stadt Ushuaia, vor Generalin Laura Richardson, die dem US Southern Command vorsteht. In diesem Sinne lehnt die Regierung den vom Vorgängerpräsidenten beschlossenen Beitritt des Landes zur Staatengruppe BRICS ab.
Mileis außenpolitische Prioritäten lassen sich an seiner Reiseaktivität ablesen. Bis Ende Juli hatte er zwölf Auslandsreisen in zehn verschiedene Länder unternommen. In die USA flog er fünfmal, lateinamerikanische Staaten waren nur zweimal das Ziel. In Brasilien besuchte Milei die Conservative Political Action Conference (CPAC), den internationalen Kongress der radikalen Rechten, und traf den ehemaligen Präsidenten Bolsonaro und dessen Sohn. Deshalb fehlte er beim Mercosur-Gipfel in Paraguay. Milei stattete bislang keinem Mercosur-Land einen Staatsbesuch ab. In El Salvador nahm er an der Amtseinführung des wiedergewählten Rechtspopulisten Nayib Bukele teil. Milei verhält sich nicht wie ein Staatschef, der Diplomatie betreibt (das überlässt er seiner Außenministerin Diana Mondino), sondern eher wie ein Privatmann, der ideologische Freunde besucht, wie die spanische Partei VOX in Madrid oder Elon Musk bei Tesla in Texas.
In der Politik gegenüber Israel und Palästina hat Argentinien eine Wende vollzogen. Die Botschaft des Landes soll von Tel Aviv nach Jerusalem verlegt werden. In der UN-Generalversammlung enthielt sich Argentinien im Dezember 2023 bei der Abstimmung über einen humanitären Waffenstillstand im Gazastreifen. Im Mai 2024 votierte es gegen eine Resolution, die den Sicherheitsrat aufforderte, Palästina als UN-Vollmitglied aufzunehmen. Beides lief der argentinischen Tradition zuwider. Im Juni entschied der Präsident, das Islamische Kulturzentrum in Buenos Aires nicht zu besuchen, als er erfuhr, dass der palästinensische Geschäftsträger dort anwesend sein würde.
Zudem beschloss Mileis Regierung, dass Argentinien der von Washington 2022 ins Leben gerufenen »Ukraine Defence Contact Group« beitritt, um der Ukraine militärische und humanitäre Hilfe zu leisten. Gleichzeitig zieht sich das Land zunehmend aus wichtigen Themen der globalen Politik zurück. In den Bereichen Gender, Menschenrechte, Klimawandel, soziale Gerechtigkeit und Gesundheit hat die Regierung neue Positionen eingenommen, die im Widerspruch zur UN-Agenda 2030 stehen.
Libertärer Autoritarismus
Auch wenn in Argentinien der Präsident plebiszitär legitimiert ist und die Gewaltenteilung noch funktioniert, zeigt die Politik der Regierung einen autoritären Geist, der die demokratischen Errungenschaften der letzten 40 Jahre bedroht. Grundlegende Reformen in Wirtschaft und Staatssektor sind zwar notwendig. Hier ist jedoch ein extremer Wettbewerbsindividualismus am Werk, der über die liberalen Ideale der persönlichen Autonomie und eines effizienten Staates hinausgeht, sich dem Sozialdarwinismus annähert und die Gemeinschaftskultur bzw. den Zwischenbereich des Öffentlich-Gesellschaftlichen zerstört.
Die Regierung verweist auf die Verbesserung der makroökonomischen Daten, deren Kehrseite jedoch die Verschlechterung der Lebensbedingungen vieler Menschen ist. Ob Argentinien die Talsohle durchschritten hat und ein nachhaltiger Aufschwung bevorsteht oder ob die Wirtschaft auf jetzigem Niveau stagnieren wird, ist unklar. Die Zustimmung zur Regierung, die in Umfragen vor allem nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten beurteilt wird, ist zwar im Juli zum zweiten Mal in Folge gesunken (und liegt nun unter 50 Prozent). Aber die Hoffnung, dass Milei das argentinische Problem lösen wird, scheint noch lebendig zu sein. Gleichzeitig häufen sich kritische Berichte zivilgesellschaftlicher Organisationen, warnende Stimmen von Persönlichkeiten aus Kultur und Wissenschaft sowie Demonstrationen gegen Maßnahmen der Regierung. Vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen Perspektiven stellt sich die Frage, was es für das Land bedeuten würde, sollte Milei »wirtschaftlich erfolgreich« sein.
Dr. Claudia Zilla ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Amerika.
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DOI: 10.18449/2024A43