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Ideologie und Politik bei Javier Milei

Libertärer Populismus in Argentinien

SWP-Aktuell 2024/A 43, 23.08.2024, 8 Pages

doi:10.18449/2024A43

Research Areas

Am disruptiven Politikstil Javier Mileis hat sich nach seinem Amtsantritt als argentinischer Präsident am 10. Dezember 2023 nichts geändert. Weiterhin profiliert er sich – auch in den sozialen Medien – als aggressiver Einzelkämpfer, der einen Kreuzzug führt. Mileis Regierungspolitik entspricht weitgehend seiner Wahlkampfrhetorik. Im Juli erzielte die Regierung erste verhandlungspolitische Erfolge – es gelang ihr, ein Gesetzespaket durch das Parlament zu bringen und sich mit drei Vierteln der Pro­vinzgouverneure auf einen wirtschaftspolitischen Kompromiss zu einigen. Während Argentiniens ökonomische Perspektiven noch unklar sind, stehen viele demokratische Errungenschaften der letzten Jahrzehnte unter Druck.

Mit Javier Milei wurde in Argentinien ein Außenseiter zum Präsidenten gewählt. Der 1970 in Buenos Aires geborene Ökonom, der jahrelang in Banken und Unternehmen gearbeitet hatte und später Wirtschafts­kolumnen in Zeitungen veröffentlichte, wurde ab 2016 durch provokante Fernsehauftritte und rege Aktivitäten in den sozia­len Medien einem breiteren Publikum be­kannt. Als häufiger Gast in Talkshows war er ein scharfer Kritiker der herrschenden Wirtschaftspolitik. Dies betraf zunächst die konservative Regierungskoalition unter Mauricio Macri (2015–2019), dann die Mitte-links-Präsidentschaft von Alberto Fer­nández (2019–2023).

Seine politische Karriere begann Milei 2021, als er erfolgreich für den Nationalkongress kandidierte und dort als Abgeordneter der Stadt Buenos Aires einzog. Bei den Präsidentschaftswahlen zwei Jahre später gewann er in 21 der 24 Wahlkreise des Lan­des. Mileis Wählerschaft rekrutiert sich aus allen sozialen Schichten, wobei Männer und insbesondere die 16- bis 24-Jährigen überrepräsentiert sind. Seine parteipolitische und parlamentarische Basis bleibt je­doch schmal. Sein Wahlbündnis »La Liber­tad Avanza« (LLA, Die Freiheit schreitet voran) wurde erst 2021 gegründet. In der Abgeordneten­kammer verfügt es über 37 von insgesamt 257 Mandaten, im Senat über 7 von ins­gesamt 72 Sitzen. Keiner der 24 Provinzgouverneure des Landes gehört der LLA an.

Milei pflegt einen populistischen Politikstil und vertritt eine libertär-autoritäre Ideologie, die am rechten Rand des natio­nalen politischen Spektrums angesiedelt ist. Sein Erfolg als Politiker ist auf das Zusammenspiel nationaler und internationaler Faktoren zurückzuführen: Er ist das Ergeb­nis von Angebot und Nachfrage in der poli­tischen Arena des eigenen Landes, aber auch Teil einer global erstarkenden radika­len Rechten.

It’s the economy, stupid!

Viele Bürger:innen Argentiniens sahen in dem Exzentriker Milei, der seit seiner Jugend »der Verrückte« (el loco) genannt wird, die letzte Hoffnung darauf, das Land aus seiner chronischen Wirtschaftskrise zu retten. Im November 2023 erreichte die jährliche Inflation den nationalen Rekordwert von 160 Prozent, und 49 Prozent der Bevölkerung waren von Armut betroffen. Zum informellen Sektor gehörten 45,3 Pro­zent der Arbeitnehmer:innen. Argentinien ist der mit Abstand größte Schuldner des Internationalen Währungsfonds (IWF). So ist es nicht verwunderlich, dass sich in der Stichwahl gegen den amtierenden Finanzminister ein Wirtschaftswissenschaftler durchsetzen konnte, der einen grundlegenden Umbau versprach – die Kettensäge als Symbol seiner radikalen Absichten in der Hand. Der Wahlsieg gelang mit Hilfe des Vorsitzenden der konservativen Partei PRO (Propuesta Republicana), Ex-Präsident Macri, der eine Wahlempfehlung für Milei aussprach, nachdem seine eigene Präsidentschaftskandidatin, Patricia Bullrich, nur den dritten Platz erreicht hatte.

Während Mileis stark theoretisch-techno­kratischer Diskurs wenig anschlussfähig bleibt, haben sein (auch nach Amtsantritt) auffälliges Auftreten und seine aggressive Emotionalität einen hohen Unterhaltungswert. Mit Mileis demonstrativer Wut über die Unfähigkeit der letzten beiden Regie­rungen, Argentinien auf einen Entwicklungspfad zu bringen, konnten sich weite Teile der Bevölkerung identifizieren. Im Vordergrund von Mileis Wahlerfolg stan­den so vor allem wirtschaftliche Anliegen. Sie verdrängten andere Aspekte und An­sichten des Kandidaten, die als problematisch oder irritierend empfunden werden konnten.

Ideologisches Gerüst

Mileis Diskurs war zu Beginn seines öffent­lichen Wirkens stark wirtschaftspolitisch ausgerichtet, erfuhr im Laufe der Zeit aber eine ideologische Anreicherung. Das erwei­terte politische Programm konnte verschiedene Sektoren der Gesellschaft ansprechen und an die Agenda der globalen radikalen Rechten anknüpfen.

Anarchokapitalismus

Milei bezeichnet sich selbst als liberal-liber­tär. Leben, Freiheit und Privateigentum sind seine höchsten Werte. Er ist ein Be­wunderer der Österreichischen Schule und ein Kritiker der neoklassischen Wirtschaftstheorie, die staatlichen Eingriffen zur Kor­rektur von Marktfehlern Tür und Tor geöff­net habe. Dabei gibt es für Milei gar keine endogenen Marktfehler, sondern nur exo­gene Verzerrungen; der freie Markt sei das einzige moralisch vertretbare System zur Armutsbekämpfung.

Milei ist ein Anhänger des von Murray Rothbard in den 1950er Jahren in den USA begründeten Anarchokapitalismus. Anfang der 1990er Jahre argumentierte Rothbard, dass libertäre Ideen einer aktiven und aggressiven Strategie bedürften, um in den USA die Unterstützung einer Mehrheit zu gewinnen und sich politisch durchzusetzen. Er plädierte daher für einen Rechts­populismus, dessen programmatische Kern­punkte sich im Zentrum von Mileis Diskurs wiederfinden. Rothbard propagierte eine »Strategie des Outreach«, die unter anderem darin bestehen sollte, dass sich Libertäre mit Paläokonservativen und Traditionalisten verbünden und dabei gewisse ideologische Kompromisse eingehen, etwa indem sie eine sozialkonservative Agenda über­nehmen – eine ideologische Verschiebung, die auch in Mileis Diskursentwicklung zu beobachten ist. Diese neue breite rechts­populistische Bewegung, so Rothbard, müsse unter der charismatischen Führung eines Präsidentschaftskandidaten stehen, dem alle rechten Anti-Establishment-Kräfte be­geistert folgen würden.

Feind von Staat und Politik

Ein Staat, der nicht in der Lage ist, die drin­gendsten Probleme der Bürger:innen zu lösen und von Korruption geprägt ist, wird in der Diagnose zum Teil des Problems. Auf diesem gedanklichen Nährboden gedeiht Mileis individualistischer und antistaat­licher Diskurs. Er beschreibt den Staat als kriminelle Organisation, die von innen heraus zerschlagen werden müsse. Jegliche staatliche Intervention sei schädlich. Steuern sieht er als Zwangsmaßnahme eines Repres­sionsapparates zur Ausplünderung der ehr­lichen und fleißigen Menschen. Werden in der argentinischen Wirtschaft die Ersparnisse mangels Vertrauens außerhalb des Bankensystems in Dollar gehalten, so ver­sprach er, den abgewerteten Peso durch die US-Währung zu ersetzen und die Zentralbank abzuschaffen.

In typisch populistischer Manier macht Milei »die Kaste«, wie er die politische Elite nennt, für alle Missstände verant­wortlich. Ihre Mitglieder seien »Parasiten«, die den Reichtum des Landes vernichteten. Politik verachtet er als schmutziges Ge­schäft.

Die faktische Ungleichheit der Menschen aufgrund der doppelten Kontingenz von sozialer Herkunft und (auch dadurch be­dingter) persönlicher Begabung wird von Milei nicht anerkannt. Vielmehr geht er theoretisch von einer Ursprungsgleichheit (nicht zu verwechseln mit Gleichwertigkeit) aus. Daher sieht er in politisch-rechtlichen Ordnungen keine Ermöglichungsrahmen mit Ausgleichsmechanismen (etwa Regeln zur Vermeidung von Oligopolen), sondern nur Einschränkungen der freien Entfaltung von Individuum und Markt; die Umverteilung gilt ihm als eine Quelle von Ungerechtigkeit. So lehnt er Ansätze der »Affirmative Action« bzw. positiven Diskriminierung, des Minderheitenschutzes und der Sozial­politik kategorisch ab.

Engagiert im Kulturkampf

Nach Ansicht Mileis haben die »Neomarxisten« es verstanden, den gesunden Menschenverstand des Westens auszuschalten. Sie hätten die Massenmedien, die Kultureinrichtungen, die Universitäten und auch die internationalen Organisationen unter ihre Kontrolle gebracht. Deshalb sei der Okzident in Gefahr.

Argentinien zeichnet sich durch eine sehr lebendige feministische (queer-inklu­sive) Bewegung aus. In den letzten 15 Jah­ren hat eine hart erkämpfte progressive Gesetzgebung zu einer deutlichen Ausweitung der Rechte von LGBTIQ+ geführt. In diesem Land hat Milei dem Feminismus, dem »Genderismus«, dem »Kulturmarxismus« und der politischen Korrektheit den Kampf angesagt. Denn diese Strömungen würden neue Privilegien schaffen, staat­liche Eingriffe bewirken und damit den freien Wirtschaftsprozess stören.

Mileis ultraliberale Haltung, mit der er den Verkauf der eigenen Organen unter Marktbedingungen befürwortet hat (»Mein erstes Eigentum ist mein Körper, warum sollte ich nicht darüber verfügen können?«), stößt schnell an ihre Grenzen, wenn es um die Selbstbestimmung von Schwangeren geht. Hier setzt er sich, gemeinsam mit sei­ner Vizepräsidentin Victoria Villarruel, für die Rücknahme der vom Kongress 2020 be­schlossenen Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen ein. Abtreibung bewertet Milei als »Mord unter Ver­wandten«, der besonders hart bestraft wer­den müsse.

Mangelnde Geschlechtergerechtigkeit hält er für eine Erfindung der Linken. Auf den Vorwurf der Frauenfeindlichkeit rea­giert Milei mit dem Hinweis, dass er poli­tisch zwei Frauen an seiner Seite habe: Vizepräsidentin Villarruel, die mit ihm auf einem Doppelticket gewählt wurde, und Karina Milei, seine (jüngere) Schwester und rechte Hand. Sie wird von ihm – in männ­licher Form – »der Chef« genannt, war seine Wahlkampfleiterin und ist heute Ge­neralsekretärin der Präsidentschaft.

Für eine andere Erinnerungs­kultur

Im Gegensatz zur Erinnerungspolitik der peronistischen Regierungen von Néstor Kirchner (2003–2007) und Cristina Kirch­ner (2007–2015), die sich die Menschenrechte auf die Fahnen geschrieben hatten – nicht ohne das Thema teilweise zu instrumentalisieren und einige zivilgesellschaftliche Organisationen zu vereinnahmen –, relativiert Milei die Verbrechen der argentinischen Militärdiktatur (1976–1983). Zwar räumt er ein, dass es damals im »Krieg gegen die Subversion« zu Exzessen gekom­men sei. Den systematischen Charakter der begangenen Menschenrechtsverletzungen (Entführungen, Folter, Morde, Verschwindenlassen) leugnet er jedoch. Er stellt die von Menschenrechtsorganisationen ge­schätzte und bisher auch von staatlicher Seite akzeptierte Zahl von rund 30.000 Todesopfern der Militärjunta in Frage. Diese Größenordnung ist zum Symbol für den Kampf um Erinnerung, Wahrheit und Ge­rechtigkeit geworden. Milei verweist dage­gen auf jene 8.961 Opfer, die 1984 von Angehörigen offiziell der Nationalen Kom­mission für das Verschwindenlassen von Personen gemeldet wurden.

Vizepräsidentin Villarruel, die eher als Erzkonservative denn als Libertäre gilt, ist familiär und beruflich mit der Junta-Ära verbunden. Sie stammt aus einer Militär­familie. Ihr Vater war Veteran des Falkland/Malvinas-Krieges und beteiligte sich nach der Redemokratisierung an aufständischen Aktivitäten. Ihr Onkel, ebenfalls Mili­tär, war – so eine Anklage der argentinischen Justiz – in Menschenrechtsverletzun­­gen während der Militärdiktatur verwickelt.

Zudem ist Villarruel, von Beruf Rechtsanwältin, die Gründerin des »Zentrums für juristische Studien über den Terrorismus und seine Opfer« (CELTYV). Dieses setzt sich seit 2006 für mehr Sichtbarkeit und Aner­kennung der Opfer von Gewalt durch Guerilla-Organisationen in Argentinien ein. Laut Villarruel stehen diese Opfer im Schat­ten einer Erinnerungskultur, die von den an die Macht gekommenen ehemaligen Linksterroristen geprägt sei.

Im Zusammenhang mit diesem Blick auf die Repression der 1970er Jahre steht die sogenannte »Politik der gerechten Hand«, die Milei und Villarruel vertreten. Sie rich­tet sich sowohl gegen Kriminalität als auch gegen soziale Mobilisierung – vor allem was die in Argentinien üblichen Straßenblockaden (piquetes) angeht. Obwohl sich die beiden generell als Gegner staatlicher Intervention verstehen, plädieren sie für eine Ausweitung der staatlichen Eingriffsrechte in Sicherheitsfragen.

Mission und Retrotopia

Milei stellt seine Präsidentschaft als Auftrag Gottes dar – ähnlich wie Jair Bolsonaro in Brasilien und Donald Trump in den USA dies für sich beansprucht haben. Der Kampf des Libertarismus gegen den Kommunismus sei auch ein Kampf der Gläubigen gegen die Atheisten, bei dem göttliche Kräfte helfen würden. Mileis religiöses Missionsverständnis wird auch deutlich, wenn er die Arbeits­teilung mit seiner Schwester in Anlehnung an das Alte Testament beschreibt. Das Geschwisterpaar sei wie Moses (für Karina Milei) und Aaron, dessen Sprecher (für Javier Milei). Hier kommt Mileis Philosemitismus zum Ausdruck. Der Katholik spielt mit dem Gedanken, zum Judentum zu kon­vertieren, zählt den argentinischen Rabbi­ner Axel Wahnish zu seinen spirituellen Begleitern und besuchte mehrfach das Grab (Ohel) des Lubawitscher Rabbis Menachem Mendel Schneerson (1902–1994) in New York. Die mystische Überhöhung der poli­tischen Aufgabe trägt zum libertären Autoritarismus bei: Politik verliert ihren agonalen und kontingenten Charakter und wird zur evidenten Wahrheit, zur politisch-religiösen Offenbarung erhoben.

Doch Mileis Mission ist rückwärtsgewandt. Erklärtes Ziel seines Bündnisses LLA ist es laut Wahlprogramm 2023, Argenti­nien durch eine liberale Politik wieder zu dem wirtschaftlich, politisch, kulturell und sozial blühenden Land zu machen, das es (als angeblich erste Weltmacht) zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewesen sein soll – einer Zeit übrigens, in der es noch kein all­gemeines und geheimes Wahlrecht gab. Diesen Topos einer verklärten Vergangenheit, der im Sinne eines »Make America Great Again« nicht nur im Zentrum von Mileis Reden steht, sondern allgemein für die radikale Rechte charakteristisch ist, hat der Soziologe Zygmunt Bauman als »Retro­topia« (2018) bezeichnet. Es handelt sich demnach um »Visionen, die sich […] nicht mehr aus einer noch ausstehenden und des­halb inexistenten Zukunft speisen, sondern aus der verlorenen/ geraubten/ verwaisten, jedenfalls untoten Vergangenheit«.

Regierungspolitik

Aus der Geschichte Argentiniens seit dem Übergang zur Demokratie haben Milei und sein Team zwei Lehren gezogen. Erstens sei die Regierung des Peronisten Carlos Menem (1989–1999), der die Agenda des von IWF und Weltbank propagierten »Washington Consensus« umsetzte und den argentinischen Peso an den US-Dollar koppelte, die bisher erfolgreichste gewesen. Zweitens sei Macris konservative Regierung (2015–2019) deshalb gescheitert, weil sie einen graduellen Reformismus verfolgte. Vor diesem Hintergrund kamen Milei und sein Umfeld zu dem Schluss, dass Argentinien einer Schocktherapie unterzogen werden müsse.

Gesetzgeberische Offensive

Um ein umfassendes Reformpaket voran­zutreiben, startete die Regierung bereits im Dezember 2023 eine gesetzgeberische Offensive, die auf zwei Säulen ruht: einer Gesetzesinitiative und einem Dekret. Sie werden aufgrund ihres Umfangs und ihrer Implikationen als »Omnibusgesetz« bzw. »Megadekret« bezeichnet. In Argentinien sind Dekrete der Exekutive so lange gültig, bis sie sowohl vom Senat als auch von der Abgeordnetenkammer abgelehnt werden. Im Aufhebungsfall bleiben die während der Geltungsdauer des Dekrets erworbenen Rechte bestehen. Das Dekret DNU 70/2023 der Regierung Milei, das den öffentlichen Notstand in den Bereichen Wirtschaft, Finanzen, Steuern, Verwaltung, soziale Sicherheit, Tarife, Gesundheit und Soziales bis zum 31. Dezember 2025 erklärt, ist bis heute in Kraft, da es bisher nur vom Senat abgelehnt wurde. Dies entspricht langjähriger Praxis; seit 1983 konnte kein einziges Dekret vom Kongress aufgehoben werden.

Gesetze wiederum müssen von beiden Kammern verabschiedet werden; das Initia­tivrecht liegt bei Exekutive und Legislative. In seiner ursprünglichen Version umfasste der Entwurf des Omnibusgesetzes nicht weniger als 664 Artikel, die eine Vielzahl von Politikfeldern betrafen und eine Aus­weitung der Kompetenzen der Exekutive (auf Kosten der Legislative) vorsahen. Als sich die Debatte im Kongress zu Ungunsten des Gesetzesvorhabens der Regierung ent­wickelte, beschloss diese, den ersten Ent­wurf zurückzuziehen. Im April 2024 legte sie eine zweite, technischere und um die Hälfte gekürzte Fassung vor. Diesen Ent­wurf (Ley 27742) mit nunmehr 238 Artikeln verabschiedete der Kongress im Juli, nach­dem der Senat einige Änderungen vorgenommen hatte, mit denen unter anderem die angestrebte Erweiterung der exekutiven Befugnisse eingeschränkt und die Zahl der zu privatisierenden Staatsunternehmen reduziert wurde. Dieser erste legislative Erfolg der Regierung ein halbes Jahr nach ihrem Amtsantritt wurde durch die Unter­stützung der PRO und eines Großteils der UCR (Unión Cívica Radical) sowie einiger Provinzparteien in beiden Kammern des Parlaments ermöglicht. Das umfangreiche Gesetzespaket wird derzeit mittels Durch­führungsverordnungen der Exekutive ge­regelt und umsetzbar gemacht.

Ebenfalls im Juli einigte sich Milei mit 18 der insgesamt 24 (derzeit alle männlichen) Provinzgouverneure verschiedener par­tei­politischer Couleur auf einen – ursprüng­lich für Mai geplanten – wirtschaftspolitischen Kompromiss, den »Pakt vom Mai«. Die in Tucumán unterzeichnete Vereinbarung enthält neben einem für Argentiniens Politik der letzten Jahrzehnte ungewöhn­lichen dreifachen Gottesbezug (»im Ange­sicht des Ewigen«, »möge Gott alle Argentinier segnen«, »mögen die Mächte des Him­mels mit uns sein«) zehn überwiegend öko­nomische Prinzipien und Ziele. An erster Stelle wird das Privateigentum für unverletzlich erklärt. Die Reduzierung der Staats­ausgaben auf 25 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), die Wahrung des fiskalischen Gleichgewichts und die angestrebten Steuer-, Arbeits- und Rentenreformen wer­den nachfolgend behandelt. Die Pro­vinzen verpflichten sich zur För­derung der natür­lichen Res­sourcen und die Regierung zur Öffnung des argentinischen Außenhandels. Das Doku­ment sieht auch die Einrichtung eines »Rates vom Mai« vor, um »das große, erha­bene und heilige Ziel der Neugründung des Vaterlandes zu diskutieren«.

Makroökonomie und Menschen

Zu Mileis ersten wirtschaftspolitischen Maß­­­nahmen gehörten zum einen die deutliche Abwertung des Peso (um mehr als 50 Pro­zent) und zum anderen die Abschaffung bzw. Lockerung von Preis­kontrollen in den Bereichen Energie, Trans­port, Lebensmittel und Medikamente. In der Gesamtbetrachtung hat sich die Infla­tion im Land seit Januar 2024 von Monat zu Monat verlangsamt. Im Juni lag sie bei 271,5 Prozent gegenüber dem Vorjahres­monat, kumuliert für das erste Halbjahr bei 79,8 Prozent. Am stärksten stiegen im Juni die Preise für Mie­ten (nach der Flexibilisierung des Miet­regimes zugunsten der Eigen­tümer:innen) und öffentliche Dienstleistun­gen (14,3 Pro­zent), gefolgt vom Gastgewerbe (6,3 Prozent) und dem Bildungswesen (5,7 Prozent).

Bereits im ersten Quartal 2024 wurde ein – kleiner – Haushaltsüberschuss erzielt. Er ist vor allem auf Kürzungen bzw. den Verzicht auf Inflationsanpassungen bei den Renten und Pensionen zurückzuführen, die im Mai real um rund 29 Prozent gegenüber dem Vorjahr gesunken sind. Auch die Kür­zung (um rund 83 Pro­zent) der Investitionsausgaben, d. h. der Stopp geplanter und laufender Infrastrukturprojekte, trug stark dazu bei. Es gab zudem geringere Ausgaben für Subven­tionen (Energie und Transport) und Sozial­programme. Eine der wenigen Positionen mit einer gegenläufigen Ent­wicklung ist die allgemeine und universelle Zulage für Kin­der bzw. Schwangerschaft – mit einem realen Anstieg von 13 Prozent. Aber auch Mehreinnahmen, vor allem bei der Umsatz­steuer und der Devisentrans­aktionssteuer (deren Satz erhöht wurde) trugen zumindest in geringem Umfang zum positiven Haushaltssaldo bei.

Der Etatüberschuss gilt auch unter Be­rücksichtigung des Schuldendienstes. Im Juni konnte die Zentralbank eine Swap-Zahlung an China verschieben, und die Regierung erzielte einen Kompromiss mit dem IWF. Dieser billigte die achte Überprüfung seines Abkommens mit Argentinien und genehmigte die Überweisung von 800 Millionen US-Dollar, die teilweise zur Be­gleichung ausstehender Zahlungen an die Organisation verwendet werden sollen.

Auf der anderen Seite stehen im ersten Quartal 2024 ein Rückgang des BIP (um 5,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr) und ein Anstieg der Arbeitslosenquote (auf 7,7 Prozent gegenüber 6,9 Prozent vor einem Jahr), womit sich der seit Ende der Pandemie zu beobachtende Aufwärtstrend bei der Beschäftigung umgekehrt hat. Gleichzeitig nimmt der Druck auf den Arbeitsmarkt zu, da Beschäftigte und Unter­beschäftigte aufgrund der sinkenden Kauf­kraft ihrer Einkommen nach (mehr) Arbeit suchen. So sind die Löhne im formellen Privatsektor im Vergleich zum Vorjahr um 14 Prozent zurückgegangen.

Mileis Wirtschaftsprogramm trifft vor allem die unteren Schichten hart. Armut und soziale Ungleichheit haben zugenommen. Nach den im August veröffentlichten Daten des Obser­vatorio de la Deuda Social (UCA) waren im ersten Quartal 54,9 Prozent der Bevölkerung von Armut und davon 20,3 Prozent von extre­mer Armut betroffen. Sieben von zehn Kindern leben in einem armen Haus­halt, davon drei in einem extrem armen, d. h. mit einem Einkommen, das nicht ausreicht, um den Wert eines Korbs an Grundnahrungsmitteln zu decken. Die Ein­kommens­schere hat sich weiter ge­öffnet, wie der Anstieg des Gini-Koeffi­zien­ten von 0,446 auf 0,467 zeigt.

Der Staat eines Minarchisten

Obwohl sich Milei in der Theorie als Anar­chokapitalist bezeichnet, sieht er sich in der Praxis als »Minarchist«, da er zumindest eine »kleine Autorität« anerkennt, deren Auf­gabe es ist, für Sicherheit zu sorgen und Recht zu sprechen. Staatsstrukturen in anderen Be­reichen aber sollen abgebaut werden.

Im Rahmen des »Kettensägenplans« kündigte er Massenentlassungen und die Nichtverlängerung von Arbeitsverträgen im öffentlichen Sektor an. Mehr als 75.000 Personen sollten davon betroffen sein, bis Juni wurde dies angeblich in 25.000 Fällen umgesetzt. Milei hat die Zahl der Ministerien halbiert. Heute umfasst sein Kabinett – neben dem Kabinettschef – die Minis­terien für auswärtige Angelegenheiten, Sicherheit, Verteidigung, Wirtschaft, Ge­sundheit, Humankapital, Justiz sowie Deregulierung und Staatstransformation. Daneben gibt es vier Präsidialsekretariate. Im öffentlichen Dienst werden substantielle Reformen eingeleitet, die sowohl das Per­so­nalregime als auch die Verwaltungsverfahrensverordnung betreffen.

Auf der Liste der staatlichen Unternehmen, die ganz bzw. teilweise privatisiert oder in Lizenz vergeben werden sollen, ste­hen zunächst acht (überwiegend im Ener­gie- und Transportsektor). Darüber hinaus werden zahlreiche staatliche Behörden, Agenturen, Ombudspersonen sowie Stipen­dien- und Zuschussprogramme abgeschafft, die für den Schutz und die Förderung be­stimmter Bereiche, Rechte und gefährdeter Gruppen sorgen. Dazu gehört etwa das Nationale Institut gegen Diskriminierung, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus (INADI). Besonders betroffen sind Kultureinrichtungen wie das Nationale Institut für Film und audiovisuelle Künste (INCAA), das die Regierung ebenfalls schließen will. Glei­ches gilt für die Institutionen, die sich der Gendergerechtigkeit und der Bekämpfung sexualisierter Gewalt widmen (darunter ein Ministerium und ein Sekretariat), obwohl Femizide in Argentinien ein gravierendes Problem darstellen. Der Plan zur Formalisierung von – zumeist weiblichen – Haus­angestellten sowie Programme zum Schutz der sexuellen und geschlechtlichen Vielfalt wurden gestrichen. In der Staatsverwaltung wurde die genderinklusive Sprache verbo­ten. Am 8. März, dem Internationalen Frau­entag, kündigte Milei die Umbenennung des 2009 im Regierungspalast einge­richte­ten »Saals der argentinischen Frauen der Zweihundertjahrfeier« in »Saal der argenti­nischen Helden« (próceres) an. Wei­tere In­stitutionen werden umgewidmet. So wurde die traditionsreiche staatliche Nach­richten­agentur TELAM in eine »Werbe- und Propa­gandaagentur« umgewandelt, ihre journa­listische Tätigkeit damit einge­stellt. Diese Entwicklung macht auch vor der renommierten Universidad de Buenos Aires (UBA) nicht halt, die sich wegen Bud­get­kürzungen zu drastischen Spar­maßnah­men gezwungen sieht – so muss sie etwa in manchen Bereichen auf die Beleuchtung verzichten.

Die Regierung hat eine Gesetzesinitiative zur Herabsetzung des Strafmündigkeits­alters von 18 auf 13 Jahre in den Kongress eingebracht, mit der ein neues Strafregime für die zwischen 13- und 18-Jährigen ent­stehen soll. Weitere legislative Entwürfe zur inneren Sicherheit und zur Modernisierung der Streitkräfte sind in Vorbereitung. Die Notwendigkeit, das Militär auch im Inneren einzusetzen, begründet die Regie­rung mit einer nicht näher spezifizierten »terroristischen Bedrohung«. Die Armee soll auf den Straßen patrouillieren, Perso­nen und Fahrzeuge kontrollieren und sogar Verhaftungen vornehmen dürfen. Dies steht im Einklang mit einer neuen Verord­nung, die die föderalen Sicherheitskräfte ermächtigt, bei Demonstrationen, die den (Personen-)Verkehr stören, einzugreifen. Eine härtere Gangart der Polizei, die mit vielen Festnahmen einherging, war bereits bei den letzten Demonstrationen zu spüren.

Außenpolitische Wende

Präsident Milei hat eine »neue außenpolitische Doktrin« angekündigt, die auf einer strategischen Allianz mit den USA basiert und den »westlichen Werten« nicht wider­sprechen darf. Er tat dies im April in Argentiniens südlichster Stadt Ushuaia, vor Gene­ralin Laura Richardson, die dem US South­ern Command vorsteht. In die­sem Sinne lehnt die Regierung den vom Vorgängerpräsidenten beschlossenen Bei­tritt des Lan­des zur Staatengruppe BRICS ab.

Mileis außenpolitische Prioritäten lassen sich an seiner Reiseaktivität ab­lesen. Bis Ende Juli hatte er zwölf Auslandsreisen in zehn verschiedene Länder unter­nommen. In die USA flog er fünfmal, lateinamerikanische Staaten waren nur zweimal das Ziel. In Brasilien besuchte Milei die Conservative Political Action Con­ference (CPAC), den internationalen Kon­gress der radikalen Rechten, und traf den ehemaligen Präsidenten Bolsonaro und dessen Sohn. Deshalb fehlte er beim Merco­sur-Gipfel in Paraguay. Milei stattete bislang keinem Mercosur-Land einen Staatsbesuch ab. In El Salvador nahm er an der Amts­einführung des wie­dergewählten Rechts­populisten Nayib Bukele teil. Milei verhält sich nicht wie ein Staatschef, der Diplomatie betreibt (das überlässt er seiner Außen­ministerin Diana Mondino), sondern eher wie ein Privatmann, der ideologische Freun­de besucht, wie die spanische Partei VOX in Madrid oder Elon Musk bei Tesla in Texas.

In der Politik gegenüber Israel und Paläs­tina hat Argentinien eine Wende vollzogen. Die Botschaft des Landes soll von Tel Aviv nach Jerusalem verlegt werden. In der UN-Generalversammlung enthielt sich Argen­tinien im Dezember 2023 bei der Abstimmung über einen humanitären Waffenstillstand im Gazastreifen. Im Mai 2024 votierte es gegen eine Resolution, die den Sicherheitsrat aufforderte, Palästina als UN-Voll­mitglied aufzunehmen. Beides lief der argentinischen Tradition zuwider. Im Juni entschied der Präsi­dent, das Islamische Kul­turzentrum in Buenos Aires nicht zu besu­chen, als er er­fuhr, dass der palästinensische Geschäftsträger dort anwesend sein würde.

Zudem beschloss Mileis Regierung, dass Argentinien der von Washington 2022 ins Leben gerufenen »Ukraine Defence Contact Group« beitritt, um der Ukraine militärische und humanitäre Hilfe zu leisten. Gleich­zeitig zieht sich das Land zunehmend aus wichtigen Themen der globalen Politik zurück. In den Bereichen Gender, Menschenrechte, Klimawandel, soziale Gerech­tigkeit und Gesundheit hat die Regierung neue Positionen eingenommen, die im Widerspruch zur UN-Agenda 2030 stehen.

Libertärer Autoritarismus

Auch wenn in Argentinien der Präsident plebiszitär legitimiert ist und die Gewaltenteilung noch funktioniert, zeigt die Politik der Regierung einen autoritären Geist, der die demokratischen Errungenschaften der letzten 40 Jahre bedroht. Grundlegende Reformen in Wirtschaft und Staatssektor sind zwar notwendig. Hier ist je­doch ein extremer Wettbewerbs­individua­lismus am Werk, der über die liberalen Ideale der per­sönlichen Autonomie und eines effizienten Staates hinausgeht, sich dem Sozialdar­wi­nismus annähert und die Gemeinschafts­kultur bzw. den Zwi­schen­bereich des Öffentlich-Gesellschaft­lichen zerstört.

Die Regierung verweist auf die Verbesserung der makroökonomischen Daten, deren Kehrseite jedoch die Verschlechterung der Lebensbedingungen vieler Menschen ist. Ob Argentinien die Talsohle durchschritten hat und ein nachhaltiger Aufschwung bevor­steht oder ob die Wirtschaft auf jetzigem Niveau stagnieren wird, ist unklar. Die Zu­stimmung zur Regierung, die in Umfra­gen vor allem nach wirtschaftlichen Ge­sichts­punkten beurteilt wird, ist zwar im Juli zum zweiten Mal in Folge gesunken (und liegt nun unter 50 Prozent). Aber die Hoff­nung, dass Milei das argentinische Problem lösen wird, scheint noch lebendig zu sein. Gleichzeitig häufen sich kritische Berichte zivilgesellschaftlicher Organisationen, warnende Stimmen von Persönlichkeiten aus Kultur und Wissenschaft sowie Demons­trationen gegen Maßnahmen der Regierung. Vor dem Hintergrund dieser unter­schiedlichen Perspektiven stellt sich die Frage, was es für das Land bedeuten würde, sollte Milei »wirtschaftlich erfolgreich« sein.

Dr. Claudia Zilla ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Amerika.

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