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Globales Ringen um sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte

Reaktionsmöglichkeiten auf die versuchte Aushöhlung in internationalen Foren

SWP-Aktuell 2024/A 61, 28.11.2024, 8 Seiten

doi:10.18449/2024A61

Forschungsgebiete

In zahlreichen Ländern kam es jüngst durch restriktivere Regelungen von Schwanger­schaftsabbrüchen zu einer Schwächung der sexuellen und reproduktiven Gesundheit und Rechte (SRGR). Diese legislativen Entwicklungen auf nationaler Ebene spiegeln sich in Diskussionen in internationalen Foren wider, da sie menschenrechtliche Stan­dards und den Zugang zu Gesundheitsdienstleistungen berühren. Während Deutschland sich stets für den weitreichenden Schutz von SRGR ausspricht, fällt auf, dass sich die Bundesregierung für die inhaltliche Ausgestaltung dieses Rechtekomplexes in internationalen Foren wenig konkret engagiert. Dieser Ansatz der diplomatischen Zurückhaltung birgt die Gefahr, dass den Gegner:innen eines extensiven Verständnis­ses von SRGR, seien es Regierungen, Organisationen oder Einzelpersonen, ein Ein­falls­tor für die Aushöhlung des Konzepts geboten wird. Wenn die deutsche Bundes­regie­rung ihren internationalen Einsatz für Menschenrechte und individuelle Frei­heiten auch in der globalen Gesundheit verfolgen will, ist ein aktiveres Eintreten geboten.

Das 1994 in Kairo verabschiedete Aktionsprogramm der »International Conference on Population and Development« definiert SRGR als das uneingeschränkte körperliche und seelische Wohlbefinden in Bezug auf alle Bereiche von Sexualität und Fortpflanzung. Seit der Verabschiedung des Pro­gramms gilt SRGR als anerkannter Begriff im internationalen Recht; das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) interpretiert ihn in identischer Form. SRGR ist dabei eine Sammel­bezeichnung für eine Vielzahl an Themen, die sich auf Sexualität, Reproduktion und Geschlechteridentität beziehen.

Dennoch kommt es immer wieder und zu­letzt vermehrt zu einem diskursiven Ringen um die Spannweite dessen, was unter SRGR zu verstehen ist. Dabei geht es um nichts Geringeres als den Versuch, internationale Normen durch eine inhaltliche Umdeutung – sogenanntes Norm-Spoiling – auszuhöh­len und die Wirksamkeit von SRGR auf den Kern­bereich der Gesundheitsversorgung von Schwangeren, Müttern und Neugebore­nen zu reduzieren. Aus­geklammert werden damit durch Norm-Spoiler bewusst etwa Fragen des Zugangs zu Verhütungs­mitteln und sicheren Schwangerschaftsabbrüchen sowie des Schutzes vor Diskriminierung.

Die Auseinandersetzung über die Reichweite von SRGR ist dabei nicht nur aus normativer Perspektive relevant und für die Beteiligten politischen Akteure aus ideo­logischen Gründen bedeutsam. Vielmehr folgen aus den unterschiedlichen Lesarten reale Konsequenzen, da SRGR – unter den Befürworter:innen eines weiten Verständnisses von SRGR – als ein elementarer Teil einer allgemeinen Gesundheits­versorgung gilt. In letzter Konsequenz würde daher eine weite, Schwangerschaftsabbrüche mit einbeziehende Auslegung die Rechtfertigung eines Verbots von Abtreibungen aufgrund des nationalen kulturellen Kontexts ausschließen, da das Streben nach einer allgemeinen Gesundheitsversorgung universellen Cha­rak­ter hat und keine regionalen Einschränkungen kennt.

Politisierung von SRGR

Die Kontroversen um SRGR führen zu einer stärkeren Politisierung des Themas, sprich zu einer Betrachtung aus einer primär poli­tischen Perspektive, und zur Instrumen­talisierung als Wahlkampfthema. Hierbei werden häufig einzelne Elemente der SRGR beson­ders betont, zum Beispiel sichere Schwangerschaftsabbrüche. Diskurse in verschiedenen europäischen Län­dern, das Ende von »Roe v. Wade« in den USA und Debatten in internationalen Foren bezeu­gen die zahlreichen Bestrebungen konservativer, fundamentalistischer und autoritärer Kräfte, SRGR zu unter­minieren. Gerade der Umgang mit Schwangerschafts­abbrü­chen sticht in den kontroversen Debatten über SRGR besonders hervor und eignet sich aufgrund der speziellen Aufmerksamkeit, die dieser Frage weltweit zuteilwird, um exemplarisch den Prozess der Aushöhlung einzelner Aspekte von SRGR in inter­nationalen Foren zu skizzieren.

Fallbeispiel USA

Ein Beispiel, wie auch die Außen- und Ent­wicklungs­politik dem Einfluss von Regie­rungs­wechseln ausgesetzt ist, bieten die USA: Mit der 1984 angekündigten »Mexico City Policy« schränkte die damalige repu­blikanische US-Regierung unter Ronald Reagan die Verwendung von bilateralen Entwicklungsgeldern dahingehend ein, dass die Empfänger:innen damit keine abtreibungsbezogenen Maßnahmen finanzieren durften (sogenannte »Gag Rule«). Von einer Unterstützung ausgeschlossen wurden da­mit alle im Ausland tätigen Nichtregierungs­organisationen, die neben den eigentlich förderfähigen Maßnahmen auch Unterstützung bei Schwangerschaftsabbrüchen an­boten. Dabei genügte es, wenn die Organisa­tion lediglich Informationen zu Ab­brüchen bereitstellte. Die folgenden demo­kratischen US-Regierungen schafften die Mexico City Policy regelmäßig ab, während jede republikanische Administration sie wieder einführte.

Im Zuge des wachsenden Einflusses kon­servativer Kräfte in den USA, wie der »Herit­age Foun­dation«, ist der von George W. Bush geschaffene President’s Emergency Plan for AIDS Relief (PEPFAR) ins Zentrum des politischen Streits um die Mexico City Policy gerückt. PEPFAR ist eines der bedeu­tendsten Instrumente bei der Bekämpfung von HIV/AIDS weltweit. Zuletzt sah sich das Programm dem unbelegten Vorwurf von republikanischer Seite ausgesetzt, dass es Schwangerschaftsabbrüche unterstütze. Die Weiterfinanzierung der bis dato überparteilich getragenen Ini­tiative verzögerte sich und im März 2024 wurde die Verlängerung des Programms nicht wie bislang für fünf, sondern nur für ein Jahr beschlossen.

Gesundheitliche Konsequenzen

Die Aushöhlung von SRGR und die Er­schwerung des Zugangs zu sicheren Abtrei­bungen haben unmittelbare Konsequenzen für die globale öffentliche Gesundheit, ins­besondere von Frauen, Angehörigen der LGBTIQ+-Community und marginalisierten Gruppen. Nach WHO-Angaben enden etwa sechs von zehn ungewollten Schwangerschaften in induzierten Schwangerschaftsabbrüchen, sprich solchen, die mit der Ab­sicht vorgenommen werden, eine Schwangerschaft zu beenden. Etwa 45 Prozent all dieser induzierten Abbrüche weltweit fin­den unter Umständen statt, die als unsicher klassifiziert werden. Unsicher sind diese Abbrüche auf­grund mangelnder Quali­fikation der den Eingriff vornehmenden Per­son, unhygienischer Verhältnisse, ge­fähr­licher Methoden oder fehlender Unter­stützung. Etwa 7,9 Prozent der globalen Müttersterblichkeitsrate sind auf solche unsicheren Abtreibungen zurückzuführen, wobei restriktive Abtreibungsgesetze immer häufiger zu unsicheren Abbrüchen führen.

Norm-Spoiling bei SRGR

Im Kairoer Aktionsprogramm wurde 1994 die Bedeutung der reproduktiven Rechte erstmals anerkannt, indem die Staaten re­produktive Gesundheit und sexuelle Frei­heiten zum ersten Mal in ein internatio­nales Dokument explizit einbezogen. In Bezug auf Abtreibungen sollten Staaten das Problem unsicherer Abbrüche dadurch an­gehen, dass sie den Zugang zu sicheren Methoden der Ab­treibung und medizinische Versorgung im Anschluss daran ge­währ­leisten, sofern dies mit nationalem Recht vereinbar war. Ein Jahr nach der Kairoer Konferenz trug die Vierte Welt­frauenkonferenz 1995 in Beijing noch weiter dazu bei, dass sichere Abtreibung als ein Anliegen der öffentlichen Gesundheit wahr­genommen wurde. Zudem enthält die »Bei­jing Declaration and Platform for Action« die Aufforderung an Staaten, ihre Gesetze, sollten sie Strafmaßnahmen für illegale Abtreibungen vorsehen, zu überprüfen.

Neben diesen spezifischen Dokumenten finden SRGR Erwähnung in mehreren inter­nationalen Vereinbarungen und Abkommen, wie der Konvention zur Besei­tigung jeder Form von Diskriminierung der Frau (CEDAW) und dem Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kul­turelle Rechte (IPwskR). Der UN-Ausschuss für wirt­schaftliche, soziale und kulturelle Rechte (CESCR) führte bereits 2000 in seiner All­gemeinen Bemerkung Nr. 14 aus, dass SRGR ein Kernelement des internationalen Rechts auf Gesundheit sei. Er bekräftigte dies zu­dem in der Allgemeinen Bemerkung Nr. 22 unter Verweis auf das Kairoer Aktions­programm. Dieses setzt damit den Rahmen für die staatlichen Ver­pflichtungen der Vertragsstaaten des IPwskR gegenüber ihren Einwohner:innen im Bereich der reproduktiven Gesundheit.

Durch »general comments«, »recommendations« oder »concluding observations« weisen diverse UN-Vertragsorgane immer wieder auf die Einhaltung von Standards hin. Sowohl nach der CEDAW als auch nach dem IPwskR müssen die Vertragsstaaten dem UN-Generalsekretär regelmäßig Berichte darüber vorlegen, wie sie ihre Verpflich­tungen auf nationaler Ebene umsetzen. Zudem forderten verschiedene Vertrags­organe mehrfach die Entkriminalisierung von Abtreibungen unter bestimmten Um­ständen, etwa bei gesundheitlichen Risiken für Mütter oder in Fällen von Vergewal­tigung. Wegweisend forderte der CEDAW-Ausschuss unter Rekurs auf ein konkretes Sexualdelikt (L.C. v. Peru) die Regierung von Peru explizit dazu auf, Abtrei­bungen im Falle von Vergewaltigung oder sexuellem Missbrauch zu entkriminalisieren.

Die Errungenschaften, die mit dem SRGR-Ansatz auf globaler Ebene erkämpft wur­den, stießen von Beginn an auch auf Kritik. Auch wenn die Kontro­versen um SRGR und das Thema Abtreibung daher kein neues Phänomen sind, scheinen sie zuletzt doch auf nationaler und internationaler Ebene eine neue Qualität anzunehmen, insbeson­dere durch das Erstarken ultrakonservativer sowie teils rechtsextremer und religiös-fundamentalistischer Stimmen. Bemerkenswert ist, dass solche Akteure SRGR wohl wegen des erreichten Grades an sprachlicher Etablierung und Kodifizierung in mehreren internationalen Verträgen meist nicht an sich ablehnen, sondern die SRGR-Normen dadurch schwächen, dass sie deren Inhalt und deren Reichweite in Frage stellen.

Grafik 1

Grafik 1Nennung von SRGR im WHO-Exekutivrat

Die gezielte Aushöhlung von Normen wird häufig als »Norm-Spoiling« bezeichnet. Der Begriff beschreibt den Angriff auf Ver­einbarungen, Normen und Rechte mit dem Ziel, diese über kurz oder lang zu schwächen oder abzuschaffen. Eine Reihe von Ak­teuren betreiben gezieltes Norm-Spoiling, von Individuen und Zivilorganisationen, wie C-Fam, über Staaten bis hin zu Staaten­gruppen. All diese Kräfte sind also durch ihre gemeinsamen Bemühungen gekennzeichnet, internationale SRGR-Normen zu unterwandern. Sie unterscheiden sich jedoch in ihrer Motivation. So überwiegen in Russland und Ungarn pronatalistische Argumente, also das Bestreben, Rahmen­bedingungen für mög­lichst viele Geburten und Kinder zu schaffen, wäh­rend Staaten wie Nicaragua ihre Positionen auf christ­liche Werte stützen. Wieder andere Akteure wie Polen unter PiS-Führung und Brasilien unter der Bolsonaro-Administration greifen darüber hinaus auf eine ausländerfeindliche Rheto­rik zurück, um Schwangerschafts­abbrüche zu kriminalisieren. Zudem über­schneiden sich die diversen Argumentationen häufig. Pronatalistische Ziele können beispiels­weise auch aus religiöser Perspektive angestrebt werden; sie finden sich aber auch in der xenophoben Diktion Orbáns, wenn dieser Einschränkungen des Abtreibungsrechts fordert und gleichzeitig das Narrativ der »Great Replacement«-Theorie verbreitet.

SRGR im WHO-Exekutivrat

Das aktuelle Ringen um die Anerkennung und den Inhalt von SRGR in internatio­na­len Foren kann mittels der Sitzungsproto­kolle des WHO-Exekutivrats veranschaulicht werden. Im Exekutivrat sind 34 Mit­gliedstaaten für einen Zeitraum von min­des­tens drei Jahren vertreten. Eine der Haupt­aufgaben des Rates ist es, die Tages­ordnung der Weltgesundheitsversammlung vorzubereiten. Dort dürfen nur Themen be­handelt werden, die zuvor im Exekutivrat besprochen wurden. Viele der so genehmig­ten Agendapunkte werden zudem gar nicht diskutiert. Anders als in der Versammlung können im Exekutivrat ausführliche Debat­ten über die wichtigsten Aspekte der glo­balen Gesundheit geführt werden.

Ein umfassendes Bild vom Umgang mit SRGR im WHO-Exekutivrat kann durch die Textanalyse der einzelnen Sitzungsprotokolle gewonnen werden. Dazu wurden alle Protokolle zwischen 1995 und 2023 ana­ly­siert und einzelne Absätze auf Schlag­worte im Kontext von SRGR durchsucht (siehe Replikationsmaterialien). Als Suchbegriffe wurden »Abtreibung« (»abortion«), »Fami­lienplanung« (»family planning«), »schwanger« (»pregnan*«) und »reproduktiv« (»repro­duct*«) verwendet (siehe Grafik). Der Begriff »sexuell« (»sexual«) wurde nicht ge­nutzt, da er auch in anderen Kontexten als SRGR ver­wendet wird. Während SRGR-Themen, ge­messen am Begriff »reproduktiv«, im Durch­schnitt in 2 Prozent der Absätze vorkom­men, geht es dabei nur in wenigen Fällen um Schwangerschaftsabbrüche. Beachtlich ist hierbei, dass zu Beginn der 2000er Jahre im Kontext von SRGR häufiger als noch in den 1990er Jahren Schwangerschaften, Ab­brüche und Familienplanung erwähnt wurden. Seitdem ist die Frequenz der Dis­kus­sionen über diese Inhalte deutlich zurückgegangen und auf einem durchweg niedrigen Niveau.

Neben dieser quantitativen Analyse lohnt sich die Betrachtung der wenigen Fälle, in denen SRGR und vor allem Abtreibungen explizit behandelt werden. Zwar betont die Mehrheit der Staaten die Relevanz von SRGR, aber sie führen aus diplomatischen Gründen nicht aus, welche Aspekte SRGR nach eigener Auffassung beinhaltet. Allein Kanada unterstreicht stets, dass zu SRGR auch »umfassende Sexualerziehung, Emp­fängnisverhütung und sichere Abtreibung sowie Betreuung nach einem Schwangerschaftsabbruch« (WHO-Exekutivrat, Sitzung 152, S. 195, übersetzt aus dem Englischen) gehö­ren. Dahingegen sprachen sich etwa Bra­silien, Sambia und die USA unter der Trump-Regierung in Sitzungen explizit gegen ein solches weites Verständnis aus, indem sie hauptsächlich negativ definieren, was nicht zu SRGR gehört (WHO-Exekutivrat, Sitzungen 148 und 144). Die Diskussion über die Reichweite von SRGR wird damit maß­geblich von Befürworter:innen einer engen Auslegung der damit verknüpften Rechte dominiert, obwohl kein an den Sitzungen des Exekutivrats teilnehmender Staat, mit Ausnahme von Russland, SRGR ablehnt.

Festzustellen ist also, dass SRGR seit Mitte der 90er Jahre kontinuierlich erwähnt werden und die Bearbeitung dieses Problem­komplexes von einer Mehrheit der Staaten explizit unterstützt wird. Ungeachtet dessen ist jedoch gleichzeitig ein Rückgang der Aus­einandersetzung mit den Einzelthemen von SRGR zu verzeichnen. Die in den Protokollen dokumentierten Anmerkungen hierzu beschränken sich, wie zuvor skizziert, maß­geblich auf die Gegner:innen eines weiten Verständnisses von SRGR.

Geneva Consensus Declaration

Neben den genannten Akteuren positionier­ten sich in der Vergangenheit eine Reihe von postsowjetischen Staaten sowie Län­der mit überwiegend katholischer Bevölkerung und diverse islamisch-fundamentalis­tische Länder gegen bestimmte SRGR und Frauen­rechte im Allgemeinen. International erhiel­ten diese Bestrebungen Rückhalt durch die Arabische Liga, die G77 und die Afrika-Gruppe der Vereinten Natio­nen. Belarus, Ägypten und Katar gingen noch einen Schritt weiter und gründeten 2015 die »Group of Friends of the Family«. Die Gruppe posi­tioniert sich gegen bestimmte Aspekte von SRGR. Sie ver­tritt explizit das Ziel, die »Familie« – die nach ihrem Ver­ständnis immer aus Mann und Frau im Ehe­stand bestehen muss – zu stärken. Abtrei­bungen oder Prozesse und Politiken der UN, die auf Genderinklusivität ausgerichtet sind, lehnt sie ab. Weitere Länder wie Bangladesch, Indonesien, Malaysia, Ägypten, Nigeria, Saudi-Arabien, Iran und Russland traten in der Folge der Gruppe bei.

Die Anstrengungen dieser und anderer Norm-Spoiler kulminierten schließlich in der 2020 verabschiedeten »Geneva Con­sensus Declaration on Promoting Women’s Health and Strengthening the Family«. In dieser unterzeichneten, unter Führung der Trump-Administration, mehr als 30 Länder eine Stellungnahme, in der sie sich auf den Schutz des Rechtes auf Leben ab dem Mo­ment der Empfängnis als Priorität festlegen. Die unterzeichnenden Parteien berufen sich auf Aussagen aus dem Aktionsprogramm der Kairo-Konferenz von 1994 und der Bei­jing-Deklaration von 1995, sowie auf weite­re Menschenrechtsdokumente und Dekla­rationen, wie die »Convention on the Rights of the Child«. In ihrer Erklärung zitieren sie diejenigen Passagen, die sich auf den Vor­rang nationaler Gesetzgebung beziehen und in denen Abtreibung als Methode der Familienplanung abgelehnt wird.

Diese Erklä­rungen der Abtreibungs­gegner:innen haben aber nicht nur innen­politischen Signalcharakter, sondern zielen darauf ab, eine Einordnung des Zugangs zu sicheren Schwangerschafts­abbrüchen als Teil der allgemeinen Gesundheitsversor­gung zu verhindern, da sich hieraus weitere gesundheitspolitische Konsequenzen er­geben würden. Diese bestehen hauptsächlich darin, dass Staaten zu einer Entkriminalisierung angehalten werden könnten, da sie die normative und völkerrechtliche Pflicht (z.B. aus dem IPwskR) haben, die all­gemeine Gesundheitsversorgung der Bevöl­kerung sicherzustellen.

Mit Blick auf Abtreibungen hält die Genfer Erklärung zum einen fest, dass der Zu­gang zu Gesundheitsdienstleistungen für Frauen verbessert und sichergestellt werden soll. Eingeschlossen sind ausdrücklich Be­lange der sexuellen und reproduktiven Gesundheit, ausgeschlossen allerdings ex­plizit Abtreibungen. Zum anderen wird betont, dass es kein internationales Recht auf Abtreibung gebe, sondern diesbezüg­liche Regelungen nur auf nationaler und loka­ler Ebene erlassen und geändert wer­den könnten. Die Erklärung erkennt also die SRGR an, schließt Abtreibung als Teil von SRGR aber aus. Während im Aktionsprogramm der Kairo-Konferenz auch Bezug auf die medizinische Nachsorge bei illega­len Abtreibungen genommen wird, lässt die Genfer Erklä­rung diesen Verweis bewusst aus. Ebenso beruft sich die Erklärung zwar auf die Beijing-Deklaration, übergeht aller­dings den dort enthaltenen Appell an die Staaten, zur Vermeidung der negativen Fol­gen unsicherer Schwangerschaftsabbrüche ihre nationalen Gesetze zu überprüfen. Drei Monate später, kurz nach ihrer Amtsübernahme, trat die Biden-Regierung von der Genfer Erklärung zurück und stellte sich gegen die Deklaration. Das führte allerdings nicht dazu, dass das Pro­jekt zum Erliegen kam. Im Gegenteil, seither haben sich noch weitere Länder dem Dokument angeschlossen, wie Georgien und Paraguay.

Wie aus den genannten Beispielen ersicht­lich wird, ist Sprache ein bedeutender Faktor im Prozess des Norm-Spoilings. So­wohl durch die Ablehnung bereits etablier­ter Formeln als auch durch die Einführung eines neuen Wordings und neuer Interpretationen. So scheinen Norm-Spoiler inter­nationale SRGR selten als solche anzugreifen – auch wenn dies auf lange Sicht das Ziel sein könnte –, sondern verwenden abweichende Definitionen von SRGR oder legen die Inhalte anders aus. Die Diskussionen in internationalen Foren, wie beispiels­weise im Exekutivrat der WHO oder in der Weltgesundheitsversammlung, zeigen, dass verschiedene Akteure diskursive Verschiebungen anstreben, mit bereits spürbaren Folgen für das Verständnis von internationalen Normen der SRGR und öffent­licher Gesundheit. Daten der WHO belegen bei­spielsweise, dass die Reduktion der Mütter­sterblichkeit in fast allen Regionen der Welt zuletzt stagnierte oder die Rate sogar an­steigt, was in Teilen auf die nationalen und internationalen politischen Tendenzen zurückgeführt wird.

Deutsche Position zur SRGR

Mit verschiedenen Strategien und Aktionsprogrammen positioniert sich die Bundesregierung regelmäßig zum internationalen Völkerrecht im Allgemeinen und zur Ver­teidigung der SRGR im Besonderen. In ihrem Konzept für eine feministische Außen- und Entwicklungspolitik (siehe dazu SWP-Studie 7/2024) verschreiben sich das Auswärtige Amt (AA) und das BMZ einer konsequenten Stärkung von SRGR weltweit und konstatieren, dass die Krimina­lisierung von Schwangerschaftsabbrüchen zu einer höheren Prä­valenz der Müttersterblichkeit führt. In den Leitlinien zur feministischen Außenpolitik beschreibt das AA, wie sich durch die zuneh­menden Spannungen und die »Spaltung der internationalen Gemeinschaft« Schwierig­keiten für die Aufrechterhaltung etablierter Rechte von Frauen und LGBTIQ+-Personen und spezifisch der SRGR ergeben. In diesem Zusammenhang verspricht das AA, mit Nachdruck für den Schutz dieser Rechte im internationalen System einzutreten. Wäh­rend die deutsche Bundesregierung also die Versuche einiger Akteure, bestehendes Recht zu schwächen, erkennt und diese ablehnt, will sie sich darüber hinaus für die Etablierung neuer Normen einsetzen.

Ein Beispiel dafür sind Deutschlands An­strengungen im Jahr 2019, im UN-Sicher­heitsrat eine Resolution zu sexueller Gewalt im Rahmen eines bewaffneten Konflikts zu verabschieden. Manche For­mulierungen innerhalb des von Deutsch­land vorgeschlagenen Textes führten zu heftigen Diskussio­nen und Protestaktionen anderer Akteure. Die USA unter der Trump-Administration drohten ein Veto an und drängten sogar auf die Streichung jedweder Nennung sexueller und reproduktiver Gesundheit und Rechte. Schließ­lich wurde eine Version der Reso­lution mit Enthaltungen von Russland und China verabschiedet, in der die SRGR keine Erwähnung fanden.

Zu ähnlich gelagerten Auseinander­set­zungen kommt es auch mit verschiedenen Mitgliedstaaten der Europäischen Union, zu­letzt im Rahmen der Anhörung des designierten ungarischen Gesundheits­kommissars Olivér Várhelyi, der ebenfalls den Standpunkt einnahm, dass Regelungen des Zugangs zu sicheren Abtreibungen kein Teil von SRGR seien, eine rein nationale An­gelegenheit darstellten und nicht in seinen Zuständigkeitsbereich als Kommissar fielen.

Die Bundesrepublik Deutschland tritt in internationalen Foren wie dem WHO-Exe­kutivrat oder dem UN-Sicherheitsrat aus diplo­matischen Gründen zurückhaltend auf und sucht den Konsens, während die Gegner:in­nen ihre Position mit Maximalforderungen und Drohungen vortragen. Mit­tlerweile offenbaren das Scheitern ein­schlägiger Re­so­lutionen, die zunehmenden Vorstöße zur Aushöhlung der SRGR und die zahlreichen nationalen Rückschritte beim Zugang zu sicheren Schwangerschafts­abbrü­chen, dass der vermittelnde Ansatz der Bundesregierung aktuell wenig erfolg­reich ist. Ein konfrontatives Vorgehen könn­te zielführender sein. Eine solches Vorgehen könnte sich beispiels­weise an der Strategie Kanadas orientieren, das den Norm-Spoil­ing-Versuchen regelmäßig durch explizite Gegenrede entgegentritt.

Counter-Norm-Spoiling

Ein wichtiger Faktor, den es bei jedweden Bestrebungen deutscher und europäischer Politik in Bezug auf SRGR und allgemeine Frauen- und Menschenrechte künftig ver­stärkt zu bedenken gilt, ist die potentielle Fragilität geltender Normen. Norm-Spoiler könnten künftig noch deutlicher auf die sprachliche Umdeutung internationaler Normen hinwirken. Die liberal-demokra­tische Interpretation dieser Normen ist kein Automatismus und vulnerabel gegenüber einer mora­lisch ultrakonservativen Rheto­rik, die derzeit auf internationaler Ebene stärker wird. Ein geschärftes Bewusstsein für die Taktik und die Möglichkeiten dieser Akteure ist Voraussetzung dafür, dass effek­tive und nachhaltige Antworten auf deren Vorgehen gefunden werden. Als eine Vari­an­te der Reaktion auf die Diskursverlagerung würde sich empfehlen, ebenso explizit zu werden und den Diskurs nicht Norm-Spoilern zu überlassen. Die Fokussierung der Verteidiger reproduktiver Gesundheit und Rechte allein auf Fragen des Abtreibungsrechts birgt indes die Gefahr, dass andere Aspekte des Themenkomplexes wie Verhütung, Vermeidung oder Bekämpfung sexuell übertragbarer Krankheiten oder Auf­klärungsmaßnahmen ins Abseits geraten. Gleichwohl stehen eben Fragen des Ab­treibungsrechts im Zentrum der internationalen Debatten und deshalb sollte in dieser Sache eine klare Sprache angeschlagen werden, wenn eine menschenrechtsbasierte Politik an­gestrebt wird.

Ein Beispiel, wie Vorhaben und Maßnah­men im Bereich der sexuellen und repro­duktiven Gesundheit Einzug in außenpolitische Strategien erhalten können, bietet unter ande­rem Frankreichs internationale Politik zum Thema SRGR für den Zeitraum 2023–2027. Frankreich bezieht in seinen außen­politischen Handlungsleitlinien im Hinblick auf den Zugang zu sicheren Schwangerschaftsabbrüchen explizit Stel­lung. Konkret fördert Frankreich finanziell den Zugang zu Leistungen der SRGR aus dem Muskoka-Fonds. Der Fonds wurde im Anschluss an den G8-Gipfel 2010 in Mus­koka, Kanada, ins Leben gerufen und finan­ziert seither Maßnahmen verschiedener UN-Organe, die dem Erreichen der SDGs im Bereich der SRGR und der Reduktion der Mütter- und Kindersterblichkeitsraten in zehn frankophonen Ländern Afrikas dienen.

Im Jahr 2018 schloss sich auch Dänemark der Finanzierung des Fonds an. Damit würde Frankreich sicherlich einen geeigne­ten Partner darstellen, sollte es sich Deutsch­land zum Ziel setzen, ähnliche Maßnahmen zu fördern und so zum »Counter-Norm-Spoiling« auf internationaler Ebene beizu­tragen. Anstelle auf neue Normen unter dem Dach der SRGR hinzuwirken, wie es Deutschland zum Beispiel mit der UN-Sicherheitsratsresolution vorhatte, könnte sich die Bundesregierung in internationalen Foren gemeinsam mit diesen Part­nern pri­mär auf die Verteidigung bereits bestehender Normen und auf deren Umsetzung, auch durch außen- und entwicklungspolitische Strategien, konzen­trieren. Auf dieser Grundlage lassen sich die folgenden kon­kre­ten Empfehlungen für die deutsche und europäische Politik aus­sprechen:

  • Wenn es das Ziel deutscher Politik ist, die SRGR diskursiv zu stärken, sollten sich ihre Vertreter:innen in internatio­nalen Foren auch durch entschiedenes Auftreten und unzweideutige Formulierungen nachdrücklicher für die Beibehal­tung der bereits getroffenen Normen ein­setzen. Das würde dazu beitragen, dass Norm-Spoiler mit ihren Bemühungen, die Defi­nitionsmacht über SRGR-Kon­zepte zu erlangen, erfolglos bleiben.

  • Zudem sollte Deutschland in der Dis­kussion über die Spann- und Tragweite von SRGR klar artikulieren, was es unter einschlägigen Rechten wie dem Zugang zu sicheren Abtreibungen versteht. Hier­bei ist keineswegs die uneingeschränkte Legalisierung gemeint, wie es Gegner:in­nen oft behaupten, sondern eine Entkriminalisierung von Abbrüchen mit zeit­lichen Begrenzungen oder unter bestimm­ten Indikationen, wie bei Vergewaltigungen oder gesundheitlichen Risiken durch die Schwangerschaft.

  • Mit Blick auf die EU empfiehlt es sich, zunächst eine Entscheidung darüber zu treffen, ob angesichts der häufig abweichenden Positionen zu SRGR in verschie­denen Mitgliedstaaten eine gemeinsame Position in internationalen Foren vertreten werden kann. Wenn sich keine ge­meinsame Position auf EU-Ebene finden lässt, sollte sich die Bundesregierung für die Debatten in internationalen Foren geeignete, ähnlich gesinnte Part­ner, wie etwa Frankreich, suchen, auch auf die Gefahr hin, dann nicht mehr mit einer gemeinsamen EU-Stimme zu sprechen.

  • Zur Stärkung von SRGR auf globaler Ebene bedarf es stabiler Strukturen, auf die sich Partner ungeachtet der Veränderung politischer Ausrichtungen von Regierungen verlassen können. Ein Weg hierzu wäre die Bereitstellung mehrjähriger und flexibler Budgets, etwa im ent­wicklungspolitischen Kontext, für neue, aber auch für bereits etablierte Programme und insbesondere für zivil­gesell­schaftliche Organisationen, die un­abhän­gig von Regierungen arbeiten und in die Lage versetzt werden müssen, Counter-Norm-Spoiling zu betreiben.

Franziska Schwebel ist Forschungsassistentin in der Forschungsgruppe EU / Europa. Dr. Michael Bayerlein ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe EU / Europa. Dr. Pedro A. Villarreal ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Globale Fragen. Die Autor:innen arbeiten im Projekt »Die globale und Europäische Gesundheitsgovernance in der Krise«, das vom Bundes­ministerium für Gesundheit (BMG) gefördert wird.

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