Warum der scheidende US-Verteidigungsminister Robert Gates die europäischen Verbündeten in der Nato zu Recht kritisiert. Vier Thesen von Markus Kaim.
Kurz gesagt, 20.06.2011 ForschungsgebieteMarkus Kaim
Der scheidende US-Verteidigungsminister Robert Gates hat in seiner letzten politischen Grundsatzrede im Amt die europäischen Verbündeten wegen ihres mangelnden Engagements in der Nato kritisiert und das Bündnis vor einer düsteren Zukunft gewarnt – mit gutem Grund, wie Markus Kaim argumentiert. Vier Thesen zum Zustand der NATO:
Robert Gates hat Recht
Mit seiner Kritik, der Nato drohe aufgrund des geringen finanziellen Engagements der europäischen Bündnispartner eine eher düstere Zukunft, hat der US-Verteidigungsminister Recht. Zwar existiert das finanzielle Ungleichgewicht seit Gründung der Organisation, die Europäer haben hier stets vom hohen Verteidigungsetat der Amerikaner profitiert. Doch mit dem Ende des Ost-West-Konfliktes und nun in Folge der Finanz- und Wirtschaftskrise ist dieses Ungleichgewicht noch größer geworden: Heute tragen die USA als eines von 28 Mitgliedern 75 Prozent der gesamten militärischen Ausgaben des Bündnisses. Auch die fehlende politische Bereitschaft der europäischen Verbündeten zum Engagement konstatiert Robert Gates korrekt: Zwar haben die europäischen Nato-Staaten im EU-Rahmen in der Vergangenheit ambitionierte Pläne zur Sicherheit und Verteidigung entwickelt. Doch diese manifestierten sich bisher nicht in zusätzlichen und effektiven Fähigkeiten, die auch die NATO hätte nutzen können. Die 1999 beschlossene EU-Kriseninterventionstruppe von bis zu 60 000 Mann kam nie zustande, und die seit 2007 verfügbaren EU-Battlegroups wurden trotz diverser Krisen in der Peripherie Europas bislang nicht eingesetzt. Dazu kommt eine in den vergangenen Jahren entstandene Arbeitsteilung: Die Nato führte eine militärische Intervention aus, während die EU für die Phase danach verantwortlich zeichnete. Angesichts der Schwächen der europäischen NATO-Mitglieder droht diese funktionale Trennung nun Einzug in die NATO selbst zu halten. Dies würde die Entwicklung eines „geteilten Bündnisses“ wie Gates formuliert, weiter vorantreiben.
Lange wollten die Europäer nicht viel tun – jetzt können sie nicht mehr
Die USA definieren sich als globale Macht, deren sicherheitspolitische Interessen sowohl die Institutionen des internationalen Systems als auch verschiedene Regionen weltweit betreffen können. Dagegen kontrastieren die Ambitionen sogar der führenden europäischen Staaten sehr deutlich. Höchstens Frankreich und Großbritannien begreifen sich aufgrund ihres kolonialen Erbes als globale Ordnungsmächte, was sich nicht zuletzt an ihrem Status als Nuklearwaffenmächte und ständige Mitglieder des VN-Sicherheitsrates manifestiert. Alle anderen, inklusive Deutschland, erfüllen diesen Status lediglich rhetorisch. Unter diesem Aspekt sind die Einsparungen bei den Verteidigungsetats der europäischen Nato-Mitglieder zu sehen, deren Folgen der Libyen-Einsatz jetzt unerwartet rasch und brutal offen legt. Nach rund elf Wochen stoßen die europäischen Nato-Mitglieder an ihre militärischen Grenzen. Norwegen kündigte bereits das Ende seines Einsatzes an, während der britische Admiral Sir Mark Stanhope kürzlich auf die schwindenden Kapazitäten seiner Marine hinwies. Nun rächt sich, dass die europäischen NATO-Mitglieder bereits seit Jahren immer weniger in Sicherheit und Verteidigung investieren. Addiert man die Kürzungen der vergangenen Monate, die europäische Regierungen unter dem Eindruck der Finanz- und Wirtschaftskrise unter großem Zeitdruck und im Bündnis kaum koordiniert in ihren Verteidigungshaushalten vorgenommen haben, wird klar, warum der ein oder andere Staat angesichts spezifischer Missionen kaum noch militärisch handlungsfähig ist.
Die USA werden nicht länger das Ungleichgewicht in der NATO tragen
Das Auseinandriften im Bündnis wird durch eine besondere innenpolitische Konstellation in den USA verstärkt, in der Kongress und Regierung gleichermaßen auf Grund des amerikanischen Haushaltsdefizits die sicherheitspolitischen Prioritäten der USA neu ordnen und stärker als bisher nach Partnern suchen, die bereit sind, entstehende Lasten zu schultern. Präsident Obama steht dabei unter dem großen Druck von zwei Seiten, die Militäreinsätze in Afghanistan und im Irak abzuwickeln: Einerseits des linken Flügels seiner eigenen Partei, anderererseits von Teilen der Republikaner, die darauf drängen, die Europäer an den Einsatzlasten gleichmäßig zu beteiligen und zugleich das US-Defizit zu senken. Künftig werden die USA nicht länger bei allen Krisen im euro-atlantischen Raum die politische und militärische Führung übernehmen, insofern ist der Libyen-Einsatz der NATO ein Menetekel. Für künftige Krisen – auch und gerade in der europäischen Peripherie – wird die entscheidende Frage sein, ob das politische Establishment amerikanische strategische Interessen berührt sieht. Zwar ist in Washington kein neuer Isolationismus erkennbar, aber die USA werden verstärkt darauf setzen, sich Verbündete innerhalb wie außerhalb der etablierten multilateralen Institutionen zu suchen, die vor allem zwei Fähigkeiten haben: den politischen Willen und die militärische Fähigkeit, zu handeln.
Künftig etwas mehr Zurückhaltung, bitte
Die europäischen Regierungen verbalisieren seit Jahren regelmäßig ihre Kompetenz, als Ordnungsmacht auch militärisch tätig zu werden, setzen diese aber kaum um. Weil sie seit den 1990er Jahren durch viele derartige Bekundungen die Erwartung geweckt haben, sie würden künftig im Rahmen der EU und der NATO gleichermaßen als ein geschlossener und militärisch potenter Akteur auftreten wollen, sind sie sich nun selbst in die rhetorische Falle gegangen. Denn bei den entsprechenden Instrumenten für einen derartigen Geltungsanspruch bleiben sie bis heute weit hinter ihren eigenen Ankündigungen zurück. Eine Konsequenz wäre jetzt, den militärischen Bereich entsprechend zu stärken. Da aber die europäischen Verteidigungshaushalte für die kommenden Jahre dies vermutlich nicht leisten können, und auch keine Bereitschaft erkennbar ist, Mittel umzulenken, bleibt nur eine andere Option: Den Anspruch der Europäer als globale Ordnungsmacht zu reduzieren. Das ist bedauerlich, aber eine notwendige Besinnung auf neue Bescheidenheit.