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Die Zeit drängt: Der tunesische Präsident konsolidiert seine autoritäre Herrschaft

Europa wartet ab und verpasst Chancen der Einflussnahme

SWP-Aktuell 2022/A 35, 01.06.2022, 6 Seiten

doi:10.18449/2022A35v02

Forschungsgebiete

In nur neun Monaten hat Tunesiens Präsident Kais Saied alle Macht an sich gerissen und die seit dem Umbruch 2011 etablierten Institutionen der jungen Demokratie demontiert. Mit einer neuen Verfassung, die per Referendum am 25. Juli 2022 abgesegnet werden soll, will er eine »Neue Republik« begründen. Saieds Pläne spalten das Land: Es wächst der Widerstand politischer und zivilgesellschaftlicher Akteure, die einen inklusiven Prozess einfordern. Unterdessen nähert sich Tunesien der Zahlungsunfähigkeit. Seine europäischen Partner, die viel in die Demokratisierung investiert haben, kommentieren die Entwicklungen in Richtung Autokratie mit Sorge, haben aber kaum Maßnahmen ergriffen. Mit jedem weiteren Schritt Saieds wird es schwieriger, Einfluss zu nehmen. Im Interesse der Stabilität des Landes gilt es, so bald wie möglich finanzielle und diplomatische Hebel zu nutzen, die Europa und der Internationale Währungs­fonds aufgrund der wirtschaftlichen und finanziellen Abhängigkeit Tunesiens haben.

Im Frühsommer 2022 dürfte es keine Zwei­fel mehr geben, dass der im Oktober 2019 gewählte tunesische Präsident Kais Saied das Land zurück in den Autoritarismus führt. Am 25. Juli 2021 hat er den damaligen Premier­minister entlassen und das Par­lament suspendiert; im September 2021 die 2014 verabschiedete Verfassung ausgesetzt. Seither regiert der Präsident per Gesetzesdekret. Die Gewaltenteilung ist abgeschafft, zentrale Institutionen der jungen, fragilen Demokratie, etwa den Obersten Justizrat und die unabhängige Wahlkommission ISIE, hat er unter seine Kontrolle gebracht. Die noch immer relativ große Meinungs­freiheit wird zunehmend eingeschränkt, autoritäre Reflexe halten wieder Einzug, nicht nur im Sicherheitsapparat. Die Rhe­torik des Präsidenten, der keine Presse­konferenzen gibt, sondern vorwiegend über Facebook kommuniziert, ist populistisch und damit spaltend – politische Gegner gelten als Verräter. Da er keine politische Basis im System hat, stützt sich der Präsi­dent einzig auf den Sicherheitsapparat – im Ramadan 2022 hat er regelmäßig Kaser­nen besucht. Wichtige Entscheidungen kommuniziert er gelegentlich aus dem Innenministerium.

Nach monatelangem Schweigen – und auf Drängen externer Geber – hatte Kais Saied im Dezember 2021 einen politischen Fahr­plan aufgestellt. Auf Basis einer digi­talen Bürgerbefragung zum politischen System und dessen sozioökonomischer Ausgestaltung, die Anfang 2022 stattfand, sollen von Saied handverlesene Personen und Organisationen den Präsidenten bis Ende Juni beim Erarbeiten einer neuen Verfassung beraten. Am 25. Juli 2022 soll sie in einem Referendum abgesegnet wer­den. Für den 17. Dezember 2022 sind Par­lamentswahlen angekündigt. Es zeichnet sich ab, dass die »Basisdemokratie«, die Saied anstrebt, ein stark präsidiales und autoritäres System sein wird. Parteien sollen darin marginalisiert werden, etwa indem sie in Wahlen keine eigenen Listen aufstellen dürfen. Internationale Wahl­beobachter will der Präsident nicht zu­lassen – weder für das Referendum noch für die Parlamentswahlen.

Dürftige Legitimität – fragmentierte Opposition

Die Maßnahmen des Präsidenten verschafften ihm anfangs enorme Zustimmungs­raten. Vor allem aufgrund der Frustration der Bevölkerung über die politische Klasse: Das im März 2022 endgültig aufgelöste, stark fragmentierte Parlament war zuletzt dysfunktional, die Regierung quasi hand­lungsunfähig – nicht zuletzt weil die politischen Parteien vorwiegend mit (inter­nen) Machtkämpfen beschäftigt waren. Laut Umfragen, die im Januar 2021 publiziert wurden, hielt eine Mehrheit (61 %) der Be­fragten das Parlament für überflüssig und wünschte sich einen starken Mann an der Staatsspitze. Eine noch größere Mehrheit (76 %) gestand einem Führer zu, Regeln not­falls zu beugen, um etwas zu erreichen. Nur 33 % stimmten der Aussage zu, das Land solle ein parlamentarisches System haben, in dem alle Parteien frei konkurrieren.

Umfragen vom Frühjahr 2022 zeigten zwar sinkende, aber noch immer hohe Popularitätswerte für Saied. Allerdings hat sich seine Popularität nicht in De-facto-Mobilisierung übersetzt. An der digitalen Befragung zu Vorschlägen für das Referendum beteiligten sich gerade einmal 7,6 % der Wahlberechtigten.

Die geringe Beteiligung stellt die Legitimi­tät des gesamten Verfassungsprozesses von Saied in Frage. Zumal nicht unwahr­scheinlich ist, dass auch die Beteiligung am geplanten Referendum mäßig sein, das künf­tige System folglich auf Basis einer dürftigen Legitimität etabliert wird. Der Unterschied zum Prozess von 2011 bis 2014 ist eklatant: Damals hatte eine verfassunggebende Ver­sammlung mit großer Mehrheit die neue und nach internationalem Dafürhalten vor­bildlich demokratische Verfassung verab­schiedet. Diesmal kungeln wenige dem Prä­sidenten nahestehende Akteure im stillen Kämmerchen die neue Verfassung aus.

Dagegen regt sich zunehmend Widerstand in Zivilgesellschaft und politischer Klasse. Immer mehr Stimmen rufen zum Boykott des Referendums auf. Allerdings ist die Opposition gegen den Präsidenten frag­mentiert. Im April 2022 trat eine Nationale Rettungsfront auf den Plan, zu der sich die Bewegung »Bürger gegen den Coup« sowie eine Reihe von Parteien zusammenschlossen, darunter die islamistische Ennahdha, die besonders im Visier des Präsidenten steht und im Land selbst stark polarisiert. Ziel der Rettungsfront ist die Rückkehr zu einem demokratischen Prozess. Das streben auch sozialdemokratische Akteure an, wie die Attayar-Partei. Der Rettungsfront haben sich Letztere bislang nicht angeschlossen – wohl nicht zuletzt, um nicht mit Ennahdha in Verbindung gebracht zu werden.

Die in Umfragen konstant stärkste Partei, die Parti destourien libre (PDL), gegründet von Mitgliedern der ehemaligen Partei des früheren Präsidenten Ben Ali, kritisiert zwar Maßnahmen Kais Saieds, etwa die Ein­setzung einer Wahlkommission, die die PDL-Vorsitzende Abir Moussi zu Recht für ein willfähriges Instrument des Präsidenten hält. Doch auch Moussi verfolgt eine wenig demokratische Agenda: Sie will ein politi­sches System unter Ausschluss selbst gemä­ßigter Islamisten.

Wichtigstes potentielles Gegengewicht zu Kais Saied ist Noureddine Taboubi, Gene­ralsekretär der Union Générale Tunisienne du Travail (UGTT), dem Dachverband der Gewerkschaften, mit gut 1 Million Mitglie­dern. Die UGTT hat nicht nur Mobilisierungs­potential, sondern auch Vetomacht, da der Internationale Währungsfonds (IWF) die Ver­gabe eines neue Darlehens an die Bedin­gung geknüpft hat, dass die UGTT und der Arbeitgeberverband UTICA der Reform­agenda der Regierung zustimmen.

Während die UTICA sich bedeckt hält, hat Taboubi wiederholt Saieds »unilaterales« Vorgehen kritisiert und einen inklusiven Nationalen Dialog gefordert. Auf Druck der UGTT hat der Präsident ein »Hohes Beratendes Nationales Komitee für die neue Republik« ein­gerichtet, dem ein befreundeter Verfassungsrechtler vorsitzt. Der Aus­schuss soll Ergebnisse beratender Kommissionen für wirt­schaftliche und soziale An­gelegenheiten, Rechtsfragen sowie einen Nationalen Dialog zusammenführen. Aller­dings dürfen an diesen Beratungen ledig­lich wenige, vom Präsidenten ausgesuchte Akteure teilnehmen. Politische Parteien bleiben ausgeschlossen. Diese Beratungen werden, wenn überhaupt, wohl nur wenig Einfluss auf die Verfassung haben. Die UGTT jedenfalls hat sich Ende Mai 2022 gegen eine Teilnahme am Nationalen Dia­log entschieden: Der Dialog sei nicht in­klusiv und dessen Ergebnisse würde der Präsident vorweg bestimmen. Überdies hat sie einen nationalen Streik angekündigt.

Ausgesprochen relevant für den weiteren politischen Prozess wird sein, ob die UGTT ihr politisches Gewicht konsequent für eine Rückkehr zu demokratischen Prozessen und Strukturen einsetzen wird. Darauf hof­fen oppositionelle tunesische Akteure eben­so wie externe Partner. Sie könnte sich aber auch stärker auf sozioökonomische Ziele konzentrieren und, um diese durchzuset­zen, letztlich doch mit dem Präsidenten ko­operieren und ihn damit zumindest indi­rekt stützen.

Wirtschaftshilfen als Hebel

Während sich die innenpolitischen Konflikte zuspitzen, verschärft sich parallel die wirt­schaftliche Krise. Ohne einen baldigen neuen IWF-Kredit könnte Tunesien Zahlungs­unfähigkeit und im schlimmsten Fall ein Sze­nario wie in Libanon und Venezuela drohen.

Tunesien hat erklärt, dass es 2022 sieben Milliarden Dollar aufnehmen muss. Allein als Folge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine und entsprechend in die Höhe schnellender Preise für Energie und Weizen­produkte hat Tunesien laut seinem Zentral­bankchef einen zusätzlichen Finanzbedarf in Milliarden-Dollar-Höhe. Die Ratingagentur Moody’s hat Tunesien im Oktober 2021 von B3 auf Caa1 und die Agentur Fitch im März 2022 von B- auf CCC herabgestuft.

Die seit Juli 2021 von Präsident und Regierung angedeuteten Finanzhilfen aus den Golfstaaten sind nicht eingetroffen – allem Anschein nach hat Washington Druck auf sie ausgeübt, vorläufig keine Gel­der zu überweisen, um den Präsidenten nicht zu stärken. Die USA haben ihre Unter­stützung sehr schnell zurückgefahren. Im April 2022 verkündeten sie gar eine Halbie­rung der Militärhilfen. Darüber hinaus hat Washington deutliche diplomatische Sig­nale gesendet, auch indem Außenminister Blinken Tunesien bei seiner Maghreb-Reise Ende März 2022 ausließ. Aus Deutschland soll ohne ein IWF-Programm keine makro­ökonomische Unterstützung mehr kommen.

Die EU dagegen hat noch Ende Mai 2022 300 Millionen Euro Budgethilfen ausgezahlt. Das neue Siebenjahresprogramm, das deut­lich mehr Geld vorsieht, soll erst im Herbst 2022 verabschiedet werden. Budgethilfen im niedrigen Hundertmillionen-Bereich leistete in jüngerer Zeit auch Algerien.

Die tunesische Regierung hat einen ersten wirtschaftlichen Reformplan erarbeitet, den der IWF kommentiert hat. Offizielle Ver­handlungen sind aber noch keine aufgenom­men worden. Die UGTT hat bereits erklärt, dass sie Forderungen wie das Einfrieren der Lohn­summe ablehnt. Gleichzeitig hat sie Kompromissbereitschaft erkennen lassen. Dies gibt ihr im Gegenzug die Möglichkeit, Forderungen an Saied zu stellen.

Dass der Präsident voll und ganz hinter dem Reformplan der Regierung steht, ist zu bezweifeln: Er hat sich immer wieder gegen Austeritätsmaßnahmen ausgesprochen. Saied hat in seiner bisherigen Amtszeit Des­interesse an ökonomischen Fragen gezeigt und einen Mangel an Wissen über wirtschaft­liche Zusammenhänge. Seine diesbezüg­lichen Gesetzesdekrete seit 2021 sind ana­chronistisch und dirigistisch: Verfolgung sogenannter Spekulanten, Amnes­tien in Korruptionsfällen sowie Ermutigung von Kooperativen.

Letztlich bietet die wirtschaftliche Schieflage Tunesiens europäischen Partnern den einzigen handfesten Hebel, um Einfluss zu nehmen. Im IWF-Executive Board, das alle Kredite bewilligen muss, sind unter ande­rem die USA, Deutschland und Frankreich vertreten. Darum können diese Staaten auch bilateral Druck auf Tunesiens Ent­schei­dungsträger ausüben – zumal ein IWF-Abkommen in der Regel weitere Finanz­spritzen von Kooperationspartnern wie Deutschland nach sich zieht.

Europa wartet ab: Zielkonflikte und Wunschdenken

Die Europäische Union (EU) und ihre Mit­glied­staaten haben die Entwicklungen seit dem 25. Juli 2021 mit Sorge kommentiert. Sie haben aber nicht erkennen lassen, dass sie sich als handelnde Akteure verstehen.

Ihre Zurückhaltung lässt sich erstens mit der Sorge erklären, externe Einmischung könnte bei so massiver Unterstützung der Bevölkerung für ihren Präsidenten den Vor­wurf neokolonialer Politik provozieren. Oder dass die EU mit zweierlei Maß messe und Tunesien für seine Fortschritte bestrafe, wenn sie Saied stärker kritisiere als den unvergleichlich repressiveren ägyptischen Präsidenten Abdel Fatah al‑Sisi.

Doch mit einem »Hände weg«-Ansatz ris­kieren die Europäer auch ihre Reputation: zum einen bei all den tunesischen Akteu­ren, mit denen im Namen der Demokratisierung ein Jahrzehnt lang eng kooperiert wurde; zum andern bei Zivilgesellschaften in der Region, für die Tunesien ein Hoff­nungsschimmer war. Nicht nur in Tunesien werden europäische Doppelstandards be­klagt, die sich im unterschiedlichen Um­gang mit Flüchtlingen aus dem globalen Süden und aus der Ukraine zeigen. Der Ein­druck entsteht, wertebasierte Politik und Verteidigung von Freiheiten fände nur in Europa und für »weiße« Nachbarn statt.

Zweitens gründet die europäische Zurück­haltung gegenüber einer Konditionierung oder Kürzung europäischer Finanzhilfen in der Befürchtung, der tunesische Präsident könnte sich nichtwestlichen Akteuren wie China, den Golfstaaten, der Türkei, Russ­land oder gar Iran zuwenden. In der Tat zeigt Saied wenig Sympathien für den Wes­ten. Er konnte nur mit Mühe von seinen westlichen Partnern bewegt werden, dem VN-Votum zur Verurteilung des russischen Angriffs auf die Ukraine zuzustimmen.

Dennoch dürfte sich Tunesien nicht von Europa abwenden: Die Hilfe nichteuro­päischer Akteure ist innenpolitisch höchst umstritten und hat ebenfalls einen Preis bzw. ist an Bedingungen geknüpft. Zwar fordern die Golfstaaten weder Demokratie noch Freiheiten. Doch im Gegenzug für ihre Hilfen wollen sie sich gesellschaftlich und religionspolitisch einmischen. So unter­stützen die Emirate offenkundig Abir Moussi, die ein Verbot der Ennahdha anstrebt. Nach Angaben ehemaliger tunesischer Offizieller sollen sie zudem Druck auf Saied ausgeübt haben, die Ennahdha zu verbieten bzw. deren Führung zu verhaften. Allerdings ist die wirtschaftliche Notlage so groß, dass Tunesien unabhängig von möglicher Unter­stützung aus den Golfstaaten auch west­liche Hilfen benötigen wird.

Chinesisches Geld wiederum fließt eher in Infrastrukturprojekte als direkt ins Staats­budget und verschärft aufgrund hoher Zin­sen die Verschuldung. Dass Iran, Russland oder die Türkei die finanziellen Ressourcen bereitstellen, die Tunesien kurzfristig braucht, ist unwahrscheinlich.

Drittens hegte Europa anfangs die Hoffnung, Saieds Entschiedenheit und seine Beliebtheit würden eine effizientere Governance sowie überfällige Wirtschafts- und Verwaltungsreformen ermöglichen. Dies hat sich aber als Wunschdenken erwie­sen. Die zugrundeliegende Annahme eines Zielkonflikts zwischen Demokratisierung und Stabilität greift zu kurz: Es ist höchst unwahrscheinlich, dass ein nichtinklusiver und polarisierender politischer Prozess nach zehn Jahren Demokratisierung poli­tische und gesellschaftliche Stabilität herbei­führen kann. Vielmehr vertieft die aggres­sive Rhetorik des Präsidenten gegen poli­tische Gegner die Gräben im Land. Und dass Saied Tunesien gerade unter den derzeit schwierigen internationalen Rahmenbedingungen nicht aus der ökonomischen Krise führen kann, ist hinlänglich klar geworden. Eine wirtschaftspolitisch eigenständig han­delnde Regierung dürfte er nicht zulassen. Die Politik des Präsidenten ist folglich kein Rezept für nachhaltige staatliche Stabilität.

Sollte die Popularität Saieds schwinden, ist nicht auszuschließen, dass das Militär eingreift. Ob das Ziel dann die Rückkehr zu einer demokratischen Ordnung oder – ent­gegen der Tradition des tunesischen Mili­tärs – eine größere Rolle der Sicherheitskräfte in der Politik sein wird, ist offen. Saieds Demontage demokratischer Struk­turen ist im Hinblick auf ein solches Sze­nario besonders problematisch.

Keine Zeit verlieren

Die EU und ihre Mitgliedstaaten wären gut beraten, sich auf die nächsten Schritte des Präsidenten vorzubereiten. Bislang haben sie meist aus dem Stegreif reagiert – wenn überhaupt. Dies gilt es zu ändern, bei allem Realismus mit Blick auf die Einflussmöglichkeiten. Letztlich sind es die Tunesier und Tunesierinnen, die sich über ihr künf­tiges System einigen müssen. Ungeachtet dessen müssten europäische Akteure eine Vorstellung davon entwickeln, wie sie in­klusive Prozesse und freiheitlich orientierte Kräfte in Tunesien unterstützen wollen.

Fest steht: Wenn Kais Saied das Referendum durchpeitscht, wovon auszugehen ist, dürfte es schwierig sein, das neu eingeführte, wohl stark autoritäre System wieder aus der Welt zu schaffen. Die Venedig-Kommission des Europarats, in der Tunesien Mitglied ist, hat Ende Mai 2022 aufgezeigt, dass wichtige (juristische) Voraussetzungen für den Ver­fassungsprozesses und insbesondere für das Referendum nicht erfüllt sind. Sie hat im Interesse von mehr demokratischer Legi­timität eine Verschiebung des Referendums und die Einsetzung der alten Wahlkommis­sion angeregt. Saied hat daraufhin um­gehend mit Suspension der tunesischen Mit­gliedschaft gedroht.

Die EU und ihre Mitgliedstaaten sollten dennoch schon vor dem Referendum ent­schiedene Signale senden sowie für die Zeit danach planen und:

  • Zeitnah koordinieren, welche Erwartungen die wichtigsten Partner, namentlich Brüssel, Berlin, Paris, Rom, Madrid sowie Washington bzw. die G7, im Vorfeld des Referendums an dessen Legitimität kom­munizieren und wie öffentlich sie dies tun wollen. Welche Folgen wollen die Part­ner für den Fall andeuten, dass we­der Inklusion noch Transparenz noch Legitimität im Prozess gewährleistet sind?

  • Die Gesprächskanäle zum zentralen Akteur UGTT intensivieren und konsolidieren.

  • Gesten vermeiden, die den Präsidenten aufwerten. Die 20 Millionen Euro Hilfszahlungen für Nahrungsmittel etwa waren ein wichtiger Schritt der EU. Aber solche Hilfen sollten nicht mehr in Treffen mit dem Präsidenten verkündet werden.

  • Kooperationen dahingehend überprüfen, ob sie den autoritären Bestrebungen des Präsidenten in die Hände spielen. Dies gilt etwa für die Unterstützung bei der Digitalisierung der Verwaltung. In An­betracht zunehmender Überwachung und von tunesischen Plänen, über eine digitale Identitätskarte umfassend Daten zu sammeln, sollten solche Kooperatio­nen kritisch hinterfragt werden.

  • In Erwägung ziehen, sämtliche makro­finanzielle Unterstützung sowie Kooperationen mit staatlichen Stellen auszusetzen, die weder kritische Infrastrukturen noch Zukunftsenergien betreffen – sollten die innenpolitischen Spannungen eskalieren. Dies könnte der Fall sein, wenn Saied seine Pläne mit Hilfe des Sicherheitsapparats gegen Widerstand durchzusetzen versucht oder es zu einer Macht­übernahme des Militärs und womöglich zu heftigen inneren Konflikten kommt.

  • Für »worst case«-Szenarien Instrumente vorbereiten, mit denen der steigenden Zahl von Tunesiern und Tunesierinnen in prekären Situationen über lokale NGOs bzw. internationale Organisationen direkt geholfen werden kann. Sinnvoll wäre dabei auch, dynamische Akteure im Privatsektor stärker einzubeziehen und zu unterstützen.

  • Denkbar wäre eine gemeinsame Tunesien-Reise von Außenministern wichtiger Partnerstaaten – etwa Deutschlands und Frankreichs gemeinsam mit den USA – mit einer klaren Botschaft: Es sei selbstverständlich Sache der Tunesier und Tunesierinnen, über die Ausgestaltung ihres künftigen Systems zu entscheiden. Sollten sie sich einig werden und würden dabei Inklusion und Freiheiten aufrechterhalten, könnten sie weiterhin und womöglich mit noch großzügiger Unterstützung rechnen, zudem winkten auch neue Möglichkeiten, Arbeitsvisa zu erlan­gen. Eine solche Botschaft würde dem Vorwurf entgegenwirken, Europa agiere nach Doppelstandards und mische sich in innere Angelegenheiten ein – gleichzeitig dürfte sie die politischen Dynamiken in Tunesien positiv beeinflussen.

Anregungen zur Introspektion

Die Ratlosigkeit, die Tunesiens autoritäre Wende bei den Europäern ausgelöst hat, wirft grundlegende Fragen zur europäischen Politik gegenüber Tunesien und anderen sich demokratisierenden Staaten auf.

Eine Frage ist etwa, warum oftmals von optimistischeren Szenarien ausgegangen wird. So dominierte nach Saieds Macht­übernahme eine Haltung, die ihm einen Ver­trauensvorschuss gewährte. Es wäre sinn­voll, künftig auch »worst case«-Szenarien durchzuspielen und sich frühzeitig konkrete Reaktionsmöglichkeiten zu überlegen.

Hinzu kommt, dass innerhalb der EU der Europäische Auswärtige Dienst (EAD) zwar die besten Einblicke in politische Entwicklungen vor Ort und in lokale Gegebenheiten hat. Doch in der EU-internen Praxis sind seine Steuerungsmöglichkeiten eher be­grenzt, wenn es um das von der EU-Kom­mis­sion verwaltete Finanzinstrument der Nachbarschaftspolitik (NDICI) geht. Es dürfte Saied ermutigen, dass die EU ihm noch im Mai 2022 Budgethilfen in Höhe von 300 Millionen Euro überwiesen hat. Dabei mag auch eine Rolle spielen, dass zugesagte Mit­tel in einem gewissen Zeitraum abfließen müssen; der »Abflussdruck« hat daher bis­weilen Vorrang vor politischen Erwägungen. Auch dieses strukturelle Pro­blem wäre im Interesse einer »Do no harm«-Politik zu lösen.

Unter den EU-Mitliedstaaten liegen die Meinungen zu politischer Konditionalität weit auseinander. Deutschland, die Nieder­lande und die nordischen Staaten sind politischer Konditionalität nicht abgeneigt. Staaten wie Frankreich, Italien, Spanien und Ungarn, das den EU-Kommissar für Nachbarschaft und Erweiterung stellt, leh­nen sie jedoch ab.

Wie viel Stärke indes in einer entschiedenen gemeinsamen Haltung zur Verteidi­gung von Freiheitswerten liegt, hat die geschlossene Reaktion westlicher Staaten auf den Angriffskrieg gezeigt, den Russland gegen die Ukraine führt. Die europäischen Partner täten folglich gut daran, einen Minimalkonsens zu finden und sich auf ein gemeinsames Narrativ zur künftigen Ko­operation mit einem möglicherweise wie­der stark autoritären Tunesien zu einigen.

Sollte dies misslingen, kann sich die Bun­desregierung nicht hinter der EU ver­stecken: Wenn Tunesiens Präsident die Ent-Demo­kra­tisierung weiter vorantreibt und gute Regierungsführung verhindert, ist auch die deutsch-tunesische Reformpartnerschaft hin­fällig. Denn dieses entwicklungspolitische Instrument Deutschlands setzt mit seinem »Fördern und Fordern«-Ansatz Regierungen voraus, die in besonders hohem Maße reformorientiert sind. Ist dies nicht der Fall, müsste die Kooperation mit der Regierung und offiziellen Stellen in Tunesien grund­legend neu konzipiert werden.

Dr. Isabelle Werenfels ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten.

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