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Die Weiterentwicklung der EU‑Antiterrorismuspolitik

Bedrohungen durch den Jihadismus und Rechtsextremismus und die transatlantische Kooperation

SWP-Aktuell 2021/A 22, 10.03.2021, 8 Seiten

doi:10.18449/2021A22

Forschungsgebiete

Im Zuge der Corona-Pandemie und durch den Sturm auf das Kapitol ist die Bedrohungswahrnehmung im Hinblick auf rechtsextremistische Gruppen und Anhänger von Verschwörungstheorien markant gestiegen. Die erneuten Anschläge in Frankreich und Österreich im November des vergangenen Jahres haben gezeigt, dass auch die Gefahr durch den jihadistischen Terrorismus akut bleibt. Die Ende 2020 aktualisierte EU-Agenda für Terrorismusbekämpfung umfasst vor diesem Hintergrund ein breites Themenspektrum. Sie zeugt aber auch von der Heterogenität der Unions­kompetenzen und den unterschiedlichen Interessen der EU-Mitglieder. Einerseits bleiben die Befugnisse der EU bei der Rehabilitation von inhaftierten terroristischen Gefährdern oder bei der gesamtgesellschaftlichen Prävention beschränkt. Andererseits treibt die EU einen gemeinsamen Regulierungsrahmen für Meinungsäußerungen im Online-Raum voran. Dieser Ansatz ist zugleich Teil einer erneuerten transatlan­tischen Agenda. Die aktive Bekämpfung des Rechtsterrorismus wird jedoch eher in flexiblen Koalitionen vorangetrieben werden können.

Die Zerschlagung des Territoriums des »Isla­mischen Staates« (IS) 2019 und eine inten­sive Verfolgung von potentiellen Terroristen durch Nachrichtendienste und Straf­verfolgungsbehörden haben dazu geführt, dass schwerwiegende Anschläge, wie sie zwischen 2014 und 2017 in Europa beson­ders gehäuft erfolgten, weniger wahrscheinlich geworden sind. Weder als Folge der sogenannten Migra­tionskrise von 2015 noch durch die Rück­kehr ausländischer Kämpfer des IS hat sich bislang eine un­kontrollierbare Gefahr für Europa ergeben, wenngleich irreguläre Zu­wanderer und ab­gelehnte Asylbewerber wiederholt Attentate und Anschlagversuche durchgeführt haben. Bei diesen Taten wurde deutlich, dass der Zugang zu Waffen und hochwertigen Zie­len schwieriger geworden ist.

Der Anschlag von Wien, der im November 2020 mit einer Kalaschnikow erfolgte, konnte wegen eines nachrichtendienst­lichen Versagens nicht verhindert werden. Bei der Attacke auf die Pariser Redaktion von Charlie Hebdo 2015 wurden hingegen noch Sturmgewehre eingesetzt, die in der Slowakei als Attrappen legal erworben und allzu leicht wieder funktionsfähig gemacht werden konnten. Die EU-Staaten haben in den vergangenen Jahren weitere Regelungs­lücken geschlossen, die von Ter­roristen aus­genutzt werden konnten, etwa bei der Finanzierung. Dennoch steht die Union vor neuen Risiken, die die bisherigen relativen Erfolge bei der Terrorismusbekämpfung in Frage stellen.

Die anhaltende Gefahr durch jihadistisch motivierten Terror

In Syrien und Irak ist eine Neuformierung des Islamischen Staats (IS, alternativ Daesh) möglich. Große Selbstmordanschläge in Bagdad im Januar dieses Jahres sind Zei­chen einer solchen Entwicklung. Es ist da­von auszugehen, dass der IS weiterhin über umfangreiche Finanz­mittel verfügt. Inhaf­tierte Kämp­fer könnten von regionalen Un­ruhen und Befreiungsaktionen profitieren (SWP-Aktuell 74/2020). Die EU-Staaten agie­ren immer noch zu zögerlich und inkohä­rent bei der Rückübernahme von Staats­angehörigen, die sich dem IS angeschlossen hatten. Geordnete Verfahren der Rückführung sind aus normativen Erwägungen und wegen der Sicherheitsrisiken vorzuziehen, die bei einer permanenten Verweigerung der Zuständigkeit entstehen würden.

Die Biden-Administration kann dazu bei­tragen, die Lage vor Ort vorerst zu stabilisie­ren, da sie die Partnerschaft mit kurdischen Verbündeten erneuern und US-Kräfte in der Region halten will. Die Ernennung des ehe­maligen Sonderbeauftragten für die Globale Koalition zur Bekämpfung des IS, Brett McGurk, zum Koordinator des National Secu­rity Council für den Nahen Osten und Afrika ist zugleich ein Indiz für die anhal­tende Intensität der Bedrohung. So konn­ten mit dem IS affiliierte Organisationen auf dem afrikanischen Kon­tinent Fuß fas­sen – was anscheinend zu wachsenden Spannungen mit dortigen Anhängern von al-Qaida führt. Europäische Staaten müssen deshalb trotz vieler Rück­schläge weiter an der Sta­bilisierung exponierter Dritt­staaten mit­wir­ken. Das gilt in vorderster Linie für Frank­reich, das vielfältigen Proble­men im Sahel gegenübersteht (SWP-Aktuell 6/2021).

Parallel muss die EU im Inneren mit jiha­distischen Einzeltätern oder Kleingruppen umgehen, die ohne eine klare Anbindung an organisierte Strukturen zwar vielfach un­professionell, aber umso unberechenbarer agieren. Darüber hinaus sind neue ideolo­gische Entwicklungen im Auge zu behalten, wie ein gewaltbereiter Takfirismus (SWP-Aktuell 9/2021).

Eine besondere Herausforderung besteht in der wachsenden Zahl von Personen, die in den vergangenen Jahren aufgrund ihrer terroristischen Überzeugung oder wegen Unterstützungshandlungen (z. B. Ausreise­versuche zum IS) verurteilt wurden. Auch eine vergleichsweise geringe Rückfallquote von unter 5 Prozent, mit der gegenwärtig im Hinblick auf europäische Jihadisten kal­kuliert werden kann, stellt angesichts von derzeit über 1 400 inhaftierten Personen ein erhebliches Bedrohungspotential dar. In den vergangenen zwei Jahren konkretisierte sich diese Gefahr in Form von Anschlägen und Messerangriffen in Wien, Dresden und London. Im Nachgang stehen Entscheidungs­träger unter starkem Druck zu erklären, warum ehemalige Straftäter erneut zuschla­gen konnten. Eine permanente Sicherheitsverwahrung terroristischer Gefährder lässt sich aber nicht mit rechtsstaatlichen Prin­zipien vereinbaren.

Unterschiedliche Bewertungen des transnational vernetzten Rechtsextremismus

Die Verwerfungen der Corona-Krise haben derweil einen gewaltigen Resonanzraum für Verschwörungstheorien geschaffen. Gewaltsame Aktionen durch radikale Impf­gegner sind denkbar. Schon lange vor der Pandemie war ein deutlicher Anstieg des rechtsextremistischen Terrorismus zu ver­zeichnen. Wenn man unterschiedliche Formen der rechtsextremistischen Hass­kriminalität miteinbezieht, zeigt sich zwar für Europa eine Abnahme von Gewalttaten über die vergangenen dreißig Jahre. Es be­steht dennoch eine qualitativ neue Bedro­hung durch aufeinander bezogene Terror­anschläge.

Der Attentäter von Christchurch 2019 wurde nach eigener Aussage durch Anders Breiviks Taten acht Jahre zuvor inspiriert. Seither traten mehrere Nachahmer in den USA und Deutschland auf den Plan. Die Täter verbreiten dabei in der Regel trans­national anknüpfungsfähige rechtsextremistische Vorstellungen. Insbesondere die Mutmaßung einer »Großen Umvolkung«, der zufolge die weiße Bevölkerung gezielt durch Zuwanderung zersetzt werden soll, dient als verbindendes Element. Sogenannte Imageboards im Internet, offene wie geschlossene Kanäle in den sozialen Medien und Teile der Gamer-Szene unterstützen eine Kultur der Gewaltverherrlichung. Aber auch offline ist eine grenzüberschreitende Vernetzung von rechtsextremistischen Par­teien, Organisationen und Einzelpersonen zu beobachten, insbesondere durch Sport- und Musikveranstaltungen.

In Deutschland besteht spätestens seit 2019 ein breiter Konsens in Politik und Sicherheitsbehörden, dass der Rechtsextremismus eine mindestens ebenso schwerwiegende Gefahr wie der militante Jihadis­mus darstellt. Die Ereignisse am Kapitol An­fang Januar haben der Weltöffentlichkeit zudem das wachsende Ausmaß und die Radikalität von verschwörungstheoretischen Bewegungen vor Augen geführt. Gleichwohl gibt es in den westlichen Staaten keine um­fassend geteilte Bedrohungswahrnehmung gegenüber dieser Herausforderung. Der be­fürchtete Durchmarsch rechtspopulistischer Kräfte hat sich bei vielen demokratischen Wahlen seit 2017 nicht bewahrheitet. Neben den USA und Deutschland konzentriert sich der explizite Rechtsterrorismus, in jeweils unterschiedlichen Ausprägungen, bisher auf Schweden, Norwegen, Finnland, Groß­britannien, Italien, Spanien und Griechen­land. Ver­schiedene osteuropäische Staaten haben starke rechtsextreme Organisationen, aber bisher keine Anschläge erleben müssen.

Insgesamt gibt es in der EU keine einheitliche Erfassung von politisch motivierten Gewalttaten, trotz der regelmäßigen Berichte von Europol, die alle Arten des Terrorismus einschließen sollen. Insofern besteht eine – geradewegs nachvollzieh­bare Diskrepanz –zwischen dem mutmaßlichen Bedrohungspotential von Seiten des transnationalen Rechtsterrorismus und den tatsächlich geteilten Sicherheitsprioritäten vieler EU-Staaten.

Die neuere EU-Agenda

Die besonders schwerwiegenden Anschläge in Paris im November 2015 markieren eine Wende in der europäischen Antiterroris­muspolitik (SWP-Aktuell 8/2017). Die poli­zeiliche und nachrichtendienstliche Zusam­menarbeit wurde seither deutlich intensiviert. Die EU beschloss zudem eine Ver­stärkung technischer Kontrollen an ihren Außen­gren­zen und eine damit verbundene Reform von Datenbanken, die unter ande­rem zur Erfassung von Terrorverdächtigen beitragen können. Viele dieser Maßnahmen müssen noch technisch umgesetzt werden.

In der aktuellen EU-Legislaturperiode haben sich die politischen Schwerpunkte allerdings verlagert. In der letzten gemeinsamen EU-Strategie für die Sicherheitsunion vom Sommer 2020 sind zwar viele Aspekte der Terrorismusbekämpfung angesprochen, vor allem im Bereich der Früherkennung. Die wich­tigsten Zukunftsaufgaben liegen gemäß dieser Strategie jedoch bei »hybriden Gefah­ren«, bei der Cybersicherheit, dem Schutz kritischer Infrastrukturen und den Aus­wirkungen neuer Technologien (ins­besondere der Künst­lichen Intelligenz und Verschlüsselung). Darüber hinaus gilt es in der an­dauernden Pandemie den Grundsatz der Personenfreizügigkeit und das Schengen-Regime so weit wie möglich zu er­halten.

Angesichts dieser vielfältigen Vorhaben und vordringlichen Krisen kann von den unterschiedlichen Mitteilungen und Erklä­rungen zur Antiterrorismuspolitik, die die Innenminister, die Kommission und der Europäische Rat im November und Dezem­ber 2020 verabschiedet haben, kein nen­nenswerter Schub ausgehen. Sie dienten pri­mär wohl als politisches Signal, um auf die kurz zuvor erfolgten Attentate in Frank­reich und Wien sowie auf den fünften Jahrestag der Anschläge in Paris zu reagie­ren. Es ist allerdings zu beachten, dass der Rat der EU-Innenminister in diesem Zusam­menhang eine zeitweise Ausweitung von Binnengrenzkontrollen begrüßt hat und den Austausch von Informationen zu poten­tiell gewaltbereiten Per­sonen intensivieren will. Dies kann die Debatte über die Zu­kunft des Schengen-Regimes beeinflussen, die spätestens ab Herbst geführt werden soll. Der Austausch zu Gefährdern soll zu­dem im Rahmen einer neuen »Europäi­schen Polizeipartnerschaft« erfolgen. Dies ist der vermutlich wichtigste Impuls der vergangenen deutschen Ratspräsidentschaft im Bereich der inneren Sicherheit. Die Poli­zeipartnerschaft kann aber nicht schwer­punkt­mäßig als Beitrag zur Terrorismus­bekämp­fung verstanden werden, denn sie er­streckt sich auf ein weit größeres Feld der Polizei­arbeit, einschließlich der lokalen Kooperation in Grenzregionen.

Umstrittener Umfang der EU‑Antiterrorismuspolitik

Die Zuordnung sicherheitspolitischer Initia­tiven zum Thema Terrorismusbekämpfung hat Vor- und Nachteile. Einerseits ist mit einer Beschleunigung der Entscheidungsfindung zu rechnen. Ande­rerseits ergeben sich Probleme bei der Koordi­nierung und Umsetzung, wenn besonders umfassende Maßnahmenpakete geschnürt werden. Vor allem gilt es unter dem Eindruck von Gräuel­taten verzerrte Bewertungen der Notwen­digkeit und Verhältnismäßigkeit von neuen Sicherheitsgesetzen zu vermeiden.

In den frühen 2000er Jahren wurden bei­spielsweise die Einführung des Euro­päi­schen Haftbefehls und sämtliche Maßnahmen im Raum der Freiheit, Sicherheit und des Rechts mit der Terrorismusbekämpfung begründet. Zügige Integrationsfortschritte zogen aber zahlreiche (grund-)rechtliche Anfechtungen und mehrfache gesetz­liche Nachbesserungen nach sich.

Die neuere EU-Agenda zur Terrorismusbekämpfung erscheint insgesamt ausgereifter. Beispielsweise greift die EU-Kommission Themen auf, die schon ein Sonderausschuss des Europäischen Parlaments in der letzten Legislaturperiode in einer umfassenden Evaluierung der EU-Antiterrorismuspolitik hervorgehoben hatte. Unter anderem sollen Opfern des Terrorismus mehr Rechte und Entschädigungsleistungen zustehen und öffentliche Räume verstärkt geschützt wer­den. Im Gegensatz dazu ist der erneute Auf­ruf des Europäischen Rates zur Vorratsdaten­speicherung als eher problematische Prio­ritätensetzung für die weitere EU-Antiterro­rismuspolitik anzusehen. Dies gilt auch für die derzeit verhandelte umfassende Reform des Europol-Mandats, mit der die technischen Kapazitäten der europäischen Polizei­behörden ausgebaut und eine engere Zu­sammenarbeit mit der Privatwirtschaft er­reicht werden sollen. Ein Teil dieser Geset­zesvorschläge ist sicher dazu geeignet, die Verfolgung von schweren Verbrechen zu erleichtern. Wenn der Akzent in der politi­schen Debatte jedoch auf die Terrorismusbekämpfung gelegt wird, droht eine Verzer­rung der inhaltlichen Bestimmungen. Dann ist erneut mit Nichtigkeitsklagen vor dem EuGH zu rechnen. Dieser hat jüngst noch­mals strenge Auflagen für die Zulässigkeit einer Vorratsdatenspeicherung formuliert.

Strukturelle Lücken und Grenzen der EU-Präventionspolitik

Die zentrale Aufgabe einer neubelebten EU-Antiterrorismuspolitik ist die Ein­dämmung der benannten jihadistischen und rechtsextremistischen Bedrohungs­potentiale. Im Bereich der Terrorismus­prävention versucht die EU seit Mitte der 2000er Jahre eine Ko­ordinationsrolle aus­zufüllen. Insbesondere hat die Kommission das sogenannte Radica­lisation Awareness Network (RAN) ins Leben gerufen, das mittlerweile mehr als 3 200 Mit­glieder aus Wissen­schaft, Verwaltung und Zivilgesellschaft um­fasst. Auftrag des Netz­werks ist es, Pilot­projekte und Best Practices grenzüberschreitend zu fördern und neue Forschungsergebnisse zu verbreiten. 2019 wurde zudem ein Lenkungsausschuss ge­schaffen, der die Mitgliedstaaten in ihrer Präventions­politik berät.

Die konkreten Effekte sind unklar. Exem­plarisch zeigt sich dies im Justizvollzug. Der Umgang mit terroristischen Gefährdern ist nach wie vor überwiegend uneinheitlich und unkoordiniert. Defizite in der Gefäng­nis­seelsorge und unterfinanzierte Rehabilitations­programme sind für viele Mitgliedstaaten noch immer prägend. Die EU unter­stützt einen Fachverband von Strafvollzugs­behörden, der unter anderem Daten über Haftbedingungen bereitstellt. Ein neueres RAN-Handbuch zur Rehabilitation von ter­roristischen Straf­tätern könnte als Referenzwerk dienen. Typische europäische In­strumente der Integration, wie gegenseitige regelmäßige Evaluierungen, wurden aber bis dato nicht eingeführt. Eine Empfehlung des EU-Ministerrats von 2019 zog bislang keine erkennbaren Folgen nach sich.

Ungeachtet dessen tragen die Mitglied­staaten jeweils für sich die alleinige Ver­ant­wortung für eine gesamtgesellschaftliche Präventions- und Integrationspolitik. Hier bedarf es einer starken kritischen Öffentlichkeit und demokratischen Legitimierung. Dies hat sich in den vergangenen Monaten bei der Debatte über den »politischen Islam« in Österreich und Frankreich erneut ge­zeigt. Es wäre nicht sinnvoll, auf EU-Ebene da­rüber zu entschei­den, inwiefern die Arbeit religiöser Vereine überwacht werden darf oder deren politische Beteiligung als an­gemessen gilt. Die zwischenzeitlich von EU-Ratspräsi­dent Charles Michel auf­gebrachte Idee, ein EU-Ausbildungszentrum für Imame zu grün­den, ist ebenso unrealistisch, solange die Bildungspolitik weitestgehend in natio­naler oder regionaler Ver­antwortung bleibt. Insofern ist es folge­richtig, dass der Europäische Rat Ende 2020 nur in sehr allgemeiner Form Angriffe auf die Meinungs- und Religionsfreiheit ver­urteilt und den Einklang zwischen reli­giöser Bildung und europäischen Grundwerten angemahnt hat.

Verpflichtende Löschung terroristischer Online-Inhalte

Im Gegenzug konzentriert sich die EU auf die Kontrolle des Online-Raums, wo sie auf Grundlage des Binnenmarkts starke regu­lative Kompetenzen ausüben kann. Bisher haben nur einige europäische Staaten, unter anderem Deutschland, neue gesetz­liche Regelungen zur schnellen Löschung von extremistischen oder (volks)verhetzen­den Online-Inhalten verabschiedet. In den vergangenen Jahren haben Sicherheits­behörden einstweilen freiwillige Partnerschaften mit Betreibern großer Online-Platt­formen (inkl. sozialer Medien) geschlossen, wobei Europol mit seinem Internet Referral Unit und das EU Internet Forum, in das Ver­treter zentraler Technologieunternehmen (Youtube / Google, Facebook, Microsoft, Twitter) eingebunden sind, eine Führungs­rolle übernommen haben. In Koordination mit dem Global Internet Forum to Counter Ter­rorism, das dieselben privatwirtschaftlichen Akteure und die EU mit 29 weiteren Staa­ten und den Vereinten Natio­nen verknüpft, konnte die Propaganda des IS deutlich zu­rück­gedrängt werden. Hauptinstrument ist eine Hashtag-Datenbank, die als terroristisch er­kanntes Material erfasst und plattformübergreifende Sperren ermög­licht. Im Oktober 2019, nach dem Terror­anschlag in Christchurch, einigten sich staatliche und private Akteure auf ein so­genanntes Krisen­protokoll, das künftig schnelle und mög­lichst weltweite Blockaden von gefilmten Terrortaten wie in Christ­church sicherstellen soll. In der EU wird die Anwendung dieses Krisenprotokolls von Europol koordiniert.

Angesichts des dynamischen Wachstums extremistischer Online-Inhalte und der gro­ßen Zahl von Plattformen, die bisher nicht an solchen Partnerschaften teil­nehmen, verfolgen die EU-Kommission und der Rat seit 2018 eine Gesetzesinitiative zur ver­pflichtenden Löschung terroristischer Online-Inhalte. Das Europäische Parlament und Vertreter der Industrie und der Zivil­gesellschaft warnten demgegenüber mehr­heitlich vor einer unverhältnismäßigen Zensur und der strukturellen Benachteiligung von kleineren Online-Plattforen, die keine Ressourcen zur Überprüfung von Inhalten und zur regelmäßigen Zusammen­arbeit mit Sicherheitsbehörden haben. Unter dem Eindruck der Ermordung des Lehrers Samuel Paty in Frankreich, die sich ein­deutig auf eine Aufhetzung in Sozialen Medien zurückführen ließ, konnte nun ein politischer Kompromiss gefunden werden: In der kommenden EU-Verordnung soll die strenge Frist zur Löschung von Inhalten, die als terroristisch einzuschätzen sind, inner­halb einer Stunde aufrechterhalten werden, wobei für kleine Anbieter aber gewisse Aus­nahmen gelten. Ebenso bleibt der Grundsatz, dass Löschungen grenzüberschreitend angeordnet werden können, innerhalb des Binnenmarkts erhalten, mit nur wenigen nachträglichen Überprüfungsmöglichkeiten für den Staat, in dem der betroffene Online-Service ansässig ist. Eine Verpflichtung zu »aktiven Maßnahmen«, das heißt zur vor­geschalteten Prüfung von Online-Inhalten, wurde hingegen gestrichen. Auch soll die Nutzung möglicher terroristischer Inhalte für Forschungs- und Bildungszwecke er­laubt bleiben.

Kritiker sehen dennoch die Gefahr einer illegitimen und unausgewogenen Inhaltskontrolle, da bei grenzüberschreitenden Löschanforderungen je nach nationalem politischen und rechtlichen System unter­schiedliche Maßstäbe angelegt werden könn­ten. Zudem würden extremistische Nutzer zu kaum kontrollierbaren Kommunika­tions­kanälen und Anbietern im außer­europäischen Ausland abwandern, etwa zu Telegram.

Die bisherigen Erfahrungen in Deutschland mit dem Netzwerkdurchsetzungs­gesetz (NetzDG) deuten darauf hin, dass zu­mindest die Risiken eines ungerechtfertigten Löschens legaler Inhalte oder einer ineffektiven Verdrängung illegaler Inhalte relativ gering sind. Der Nachteil der partiel­len Abwanderung »ins Dunkelfeld« wird womöglich aufgewogen durch die deutlich eingeschränktere Reichweite der dort ver­fügbaren Kommunikationskanäle. Proble­matischer sind eher die folgenden Punkte: die Auffindbarkeit von Meldestellen für Nutzer, die recht­liche Überprüfbarkeit von Löschungsanforderungen und die Nach­verfolgung von Tätern, da bei Polizei und Justiz zu wenig qualifiziertes Personal zur Verfügung steht. Eine entsprechende Weiter­entwicklung des Netz-DGs mit einer Stär­kung der Rolle des Bundeskriminalamts steht kurz vor dem Abschluss – aber auch noch vor mehreren rechtlichen und prak­tischen Hürden. In­sofern wird die kommende EU-Verordnung zur Löschung terro­ristischer Inhalte auch in anderen Mitgliedstaaten nicht ohne weiteres effektiv und in verhältnismäßiger Weise umgesetzt werden können.

Weitergehende EU-Regulierung im Bereich Digitalpolitik

Grundsätzlich entwickelt sich die Debatte zur Regulierung des Internets bzw. inter­net­basierter Geschäftsmodelle rasant weiter. Der Ende 2020 vorgestellte Digital Services Act (DSA) entfaltet ein umfassendes Kon­zept der Verantwortung und Rechenschafts­pflicht großer Online-Plattformen und Sozialer Medien. Unter anderem sollen ein­heitliche Mechanismen zur Meldung mut­maßlich illegaler Inhalte etabliert werden. Der Verbreitung extremistischer oder be­wusst irreführender Inhalte soll durch die Regulierung von Empfehlungsalgorithmen entgegengewirkt werden. Größere Platt­formen müssten einen tiefen Einblick in ihr gesamtes System zur Steuerung und Mode­ration von Inhalten gewähren. Der DSA soll aber keine Regelung zur Strafbarkeit be­stimmter In­halte schaffen.

Im Bereich des jihadistischen Terrorismus sollen, wie skizziert, bereits einige freiwil­lige Mechanismen und die kommende EU-Verordnung zur Kontrolle von Online-Inhal­ten greifen. Im Bereich des Rechtsextremis­mus und der sogenannten »Hassrede«, die auch unter den Regelungsbereich des DSA fallen könnte, stellen sich jedoch zwei be­sondere Herausforderungen: Zum einen verwenden viele Akteure aus dem Online-Milieu der »neuen Rechten« eine kodierte Sprache, die extremistische Inhalte in An­spielungen versteckt und nur schwer von automatisierten Verfahren erfasst werden kann. Zum anderen werden rechtsextremistische Äußerungen in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten unterschiedlich bewertet. Die Union hat 2008 einen Rahmenbeschluss zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit verabschiedet, dem zufolge die Mitgliedstaaten entsprechende Aussagen bestrafen sollten. Dieser schwach verbindliche Rechtsakt aus der Zeit vor dem Vertrag von Lissabon hat nur wenig Wir­kung gehabt.

Innerhalb der Kommission wird deshalb erwogen, die in Artikel 83 (1) AEUV be­nann­ten Kriminalitätsfelder, für die die EU eine Harmonisierungsfunktion wahrnehmen kann, auf die Bereiche der Hasskriminalität und Hassrede zu erweitern. Ein solcher Entschluss müsste jedoch einstimmig im Rat erfolgen. Dies ist nicht wahrscheinlich, zumindest solange die Spannungen zwi­schen den Mitgliedstaaten in Fragen der Rechts­staatlichkeit und der Auslegung der liberalen Grundwerte der Union andauern. Die Entscheidung von Twitter und Face­book, US-Präsident Trump von ihren Platt­formen zu verbannen, hat beispielsweise bei der polnischen Regierung zu der Reak­tion geführt, ein nationales Gesetz zu planen, das eine solche »Zensur« in ihrem Einflussbereich verbieten soll.

Ein einseitiges Vorgehen der großen Online-Plattformen unter Ausnutzung ihrer Quasi-Monopolstellung kann mit guten Gründen kritisch hinterfragt werden. Ein­zelne Mitgliedstaaten machen es durch neue Rechtsakte zu den Grenzen der Meinungsäußerung im Internet schwieriger, zu einer gesamt­europäischen Herangehensweise zu gelangen. Dies gilt auch für Frankreich, das im Jahr 2022 im Rahmen seiner nächsten EU-Ratspräsident­schaft den Digital Services Act abschließen will, aber bereits jetzt natio­nale Gesetze in diesem Bereich vorantreibt.

Transatlantische Dimension

Die Ereignisse am Kapitol haben in den USA unter vielen Demokraten und auch einigen Republikanern einen Sinneswandel ausgelöst, was den traditionell sehr hoch angesetzten Stellenwert der Meinungsfreiheit betrifft. In den USA findet seither eine intensive Debatte statt über die Verantwortung von Plattformen. Angesichts der euro­päischen Marktmacht und der Dominanz US-amerikanischer Firmen wäre es äußerst ratsam, dass Brüssel und Washington sich zu einer ko­ordinierten Heran­gehensweise entschieden. Grob umrissen könnte folgen­de Richtschnur auf beiden Seiten des Atlan­tiks gelten: Das Recht auf freie Meinungsäußerung bleibt weitgehend erhalten. Es soll aber kein »Recht auf Amplifizierung« geben. Das würde eine Eindämmung der Verbreitung von bestimmten Online-Inhal­ten erlauben.

Joe Biden hat in seiner Antritts­rede mehrfach die Gefahr angesprochen, die von Rechtsextremismus und Rassismus ausgeht, nicht zuletzt um sich von der mutmaß­lichen Tolerierung oder gar Unterstützung derartiger Gruppen (z. B. der Proud Boys) unter Donald Trump abzusetzen. Allerdings haben die US-Behörden schon 2020 erst­malig eine rechts­extremistische Organi­sation, die sogenannte Russian Imperial Movement, als ausländische terroristische Vereinigung verboten. Umso überraschender ist es, dass immer noch keine föderale Gesetzgebung existiert, um innerstaatliche terroristische Vereinigungen als solche zu verfolgen. Wenn diese Lücke unter der Biden-Administration geschlossen werden sollte, kann die globale Kooperation gegen rechtsextremistische und potentiell terro­ristische Akteure an Substanz gewinnen.

Angesichts der unterschiedlichen Bedrohungslage und ‑wahrnehmung des Rechts­terrorismus in den europäischen Staaten ist aber bis auf weiteres vor allem mit flexiblen bi- oder minilateralen Initiativen zu rech­nen, insbesondere bei der strafrechtlichen und nachrichtendienstlichen Kooperation. Gerade Deutschland fällt eine wichtige europäische Führungsrolle zu. Es ist im Bereich des Rechtsextremismus und Rechts­terrorismus besonders betroffen und hat dort aber auch spezielle Kompetenzen. Auf dieses Profil sollte es sich stützen, um die transatlantischen Beziehungen neu zu be­leben. Dies gilt auch für die künftige Sicher­heitskooperation mit Großbritannien, das den innerstaatlichen Rechtsextremismus schon seit mehreren Jahren als strategische Gefahr einstuft.

Fazit und Empfehlungen

Bei der gesamtgesellschaftlichen Prävention terroristischer Gewalttaten stößt die EU trotz jahrelanger Anstrengungen an struk­turelle Grenzen. Innerhalb der EU sollten sich die Mitgliedstaaten nicht gegenseitig in gesellschaftliche Diskussionen über die Rolle der Religion und Integration hineinziehen. Zielführender ist es, bestimmte Problembereiche, wie die Prävention und Rehabilitation in nationalen Justizvollzugssystemen, mit weiteren europäischen Re­formanreizen zu versehen. Auch ohne eine Harmonisierungs­kompetenz kann die EU mehr tun, als Best Practices zu fördern.

Ganz oben auf der Agenda steht derzeit eine Verständigung über die Auslegung der Meinungsfreiheit und über die Verantwortung von Online-Plattformen und Serviceanbietern. Die EU-Mitgliedstaaten müssen langfristig daran arbeiten, ein stärker ge­meinschaftliches Verständnis der strafrechtlichen Grenzen der freien Meinungsäußerung zu entwickeln. Zunächst muss die Umsetzung der kommenden Verordnung zur Löschung von terroristischen Online-Inhalten kritisch begleitet werden. Damit es zu keiner unverhältnismäßigen Anwendung des Terrorismusvorwurfs in grenzüberschrei­tenden Zusammenhängen kommt, wäre es hilf­reich, die Rechtsgrundlagen zur Bekämpfung der Hassrede und der Hass­kriminalität zu erweitern. Mittelfristig wird der Digital Services Act Handlungsdruck erzeugen, da Meldungen und Löschungs­anordnungen voraussichtlich stark zuneh­men werden. Die Konsequenzen des DSA werden weit über die Terrorismusbekämpfung und über die EU-Grenzen hinaus­reichen. Deshalb muss die in den USA kon­vergierende Wahrnehmung des Rechts­extremismus als Bedrohung schon jetzt als Chance für einen transatlantischen Rege­lungsrahmen genutzt werden.

Alle diese Schritte zur Regulierung des Online-Raums können nur indirekt auf die verschiedenen Arten des religiösen und politischen Extremismus einwirken. Die Forschung zu Radikalisierungsprozessen und zu terroristischen Taten zeigt, dass Online-Kommunikation eine wichtige und wachsende Rolle spielt, aber persönliche, gesellschaftliche und politische Faktoren mindestens ebenso entscheidend bleiben.

Da der Rechtsterrorismus bisher nur in einer Minderheit von westlichen Staaten als prioritäre Gefahr erlebt wird, sollte man auf operativer Ebene in flexiblen Formaten vorangehen. Dies gilt etwa für den Aus­tausch zu rechtsextremistischen Gefährdern oder für konkrete Maßnahmen wie Vereins­verbote und Ermittlungsverfahren, die grenzüberschreitende Aspekte haben kön­nen. Das Muster einer solchen Antiterroris­mus­kooperation unter »most affected member states« ist die Kooperation in den frühen 2010er Jahren gegen das Phänomen der ausländischen Kämpfer des IS. Diese Zusammenarbeit konnte später in gemeinsame europäische Ansätze überführt wer­den. Auch jetzt wieder kann die EU bei konkreten Antiterrormaßnahmen von engagierten Mitgliedstaaten wie Deutschland und Drittstaaten, wie Großbritannien und den USA, profitieren.

Dr. Raphael Bossong ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe EU / Europa.

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