Im Zuge der Corona-Pandemie und durch den Sturm auf das Kapitol ist die Bedrohungswahrnehmung im Hinblick auf rechtsextremistische Gruppen und Anhänger von Verschwörungstheorien markant gestiegen. Die erneuten Anschläge in Frankreich und Österreich im November des vergangenen Jahres haben gezeigt, dass auch die Gefahr durch den jihadistischen Terrorismus akut bleibt. Die Ende 2020 aktualisierte EU-Agenda für Terrorismusbekämpfung umfasst vor diesem Hintergrund ein breites Themenspektrum. Sie zeugt aber auch von der Heterogenität der Unionskompetenzen und den unterschiedlichen Interessen der EU-Mitglieder. Einerseits bleiben die Befugnisse der EU bei der Rehabilitation von inhaftierten terroristischen Gefährdern oder bei der gesamtgesellschaftlichen Prävention beschränkt. Andererseits treibt die EU einen gemeinsamen Regulierungsrahmen für Meinungsäußerungen im Online-Raum voran. Dieser Ansatz ist zugleich Teil einer erneuerten transatlantischen Agenda. Die aktive Bekämpfung des Rechtsterrorismus wird jedoch eher in flexiblen Koalitionen vorangetrieben werden können.
Die Zerschlagung des Territoriums des »Islamischen Staates« (IS) 2019 und eine intensive Verfolgung von potentiellen Terroristen durch Nachrichtendienste und Strafverfolgungsbehörden haben dazu geführt, dass schwerwiegende Anschläge, wie sie zwischen 2014 und 2017 in Europa besonders gehäuft erfolgten, weniger wahrscheinlich geworden sind. Weder als Folge der sogenannten Migrationskrise von 2015 noch durch die Rückkehr ausländischer Kämpfer des IS hat sich bislang eine unkontrollierbare Gefahr für Europa ergeben, wenngleich irreguläre Zuwanderer und abgelehnte Asylbewerber wiederholt Attentate und Anschlagversuche durchgeführt haben. Bei diesen Taten wurde deutlich, dass der Zugang zu Waffen und hochwertigen Zielen schwieriger geworden ist.
Der Anschlag von Wien, der im November 2020 mit einer Kalaschnikow erfolgte, konnte wegen eines nachrichtendienstlichen Versagens nicht verhindert werden. Bei der Attacke auf die Pariser Redaktion von Charlie Hebdo 2015 wurden hingegen noch Sturmgewehre eingesetzt, die in der Slowakei als Attrappen legal erworben und allzu leicht wieder funktionsfähig gemacht werden konnten. Die EU-Staaten haben in den vergangenen Jahren weitere Regelungslücken geschlossen, die von Terroristen ausgenutzt werden konnten, etwa bei der Finanzierung. Dennoch steht die Union vor neuen Risiken, die die bisherigen relativen Erfolge bei der Terrorismusbekämpfung in Frage stellen.
Die anhaltende Gefahr durch jihadistisch motivierten Terror
In Syrien und Irak ist eine Neuformierung des Islamischen Staats (IS, alternativ Daesh) möglich. Große Selbstmordanschläge in Bagdad im Januar dieses Jahres sind Zeichen einer solchen Entwicklung. Es ist davon auszugehen, dass der IS weiterhin über umfangreiche Finanzmittel verfügt. Inhaftierte Kämpfer könnten von regionalen Unruhen und Befreiungsaktionen profitieren (SWP-Aktuell 74/2020). Die EU-Staaten agieren immer noch zu zögerlich und inkohärent bei der Rückübernahme von Staatsangehörigen, die sich dem IS angeschlossen hatten. Geordnete Verfahren der Rückführung sind aus normativen Erwägungen und wegen der Sicherheitsrisiken vorzuziehen, die bei einer permanenten Verweigerung der Zuständigkeit entstehen würden.
Die Biden-Administration kann dazu beitragen, die Lage vor Ort vorerst zu stabilisieren, da sie die Partnerschaft mit kurdischen Verbündeten erneuern und US-Kräfte in der Region halten will. Die Ernennung des ehemaligen Sonderbeauftragten für die Globale Koalition zur Bekämpfung des IS, Brett McGurk, zum Koordinator des National Security Council für den Nahen Osten und Afrika ist zugleich ein Indiz für die anhaltende Intensität der Bedrohung. So konnten mit dem IS affiliierte Organisationen auf dem afrikanischen Kontinent Fuß fassen – was anscheinend zu wachsenden Spannungen mit dortigen Anhängern von al-Qaida führt. Europäische Staaten müssen deshalb trotz vieler Rückschläge weiter an der Stabilisierung exponierter Drittstaaten mitwirken. Das gilt in vorderster Linie für Frankreich, das vielfältigen Problemen im Sahel gegenübersteht (SWP-Aktuell 6/2021).
Parallel muss die EU im Inneren mit jihadistischen Einzeltätern oder Kleingruppen umgehen, die ohne eine klare Anbindung an organisierte Strukturen zwar vielfach unprofessionell, aber umso unberechenbarer agieren. Darüber hinaus sind neue ideologische Entwicklungen im Auge zu behalten, wie ein gewaltbereiter Takfirismus (SWP-Aktuell 9/2021).
Eine besondere Herausforderung besteht in der wachsenden Zahl von Personen, die in den vergangenen Jahren aufgrund ihrer terroristischen Überzeugung oder wegen Unterstützungshandlungen (z. B. Ausreiseversuche zum IS) verurteilt wurden. Auch eine vergleichsweise geringe Rückfallquote von unter 5 Prozent, mit der gegenwärtig im Hinblick auf europäische Jihadisten kalkuliert werden kann, stellt angesichts von derzeit über 1 400 inhaftierten Personen ein erhebliches Bedrohungspotential dar. In den vergangenen zwei Jahren konkretisierte sich diese Gefahr in Form von Anschlägen und Messerangriffen in Wien, Dresden und London. Im Nachgang stehen Entscheidungsträger unter starkem Druck zu erklären, warum ehemalige Straftäter erneut zuschlagen konnten. Eine permanente Sicherheitsverwahrung terroristischer Gefährder lässt sich aber nicht mit rechtsstaatlichen Prinzipien vereinbaren.
Unterschiedliche Bewertungen des transnational vernetzten Rechtsextremismus
Die Verwerfungen der Corona-Krise haben derweil einen gewaltigen Resonanzraum für Verschwörungstheorien geschaffen. Gewaltsame Aktionen durch radikale Impfgegner sind denkbar. Schon lange vor der Pandemie war ein deutlicher Anstieg des rechtsextremistischen Terrorismus zu verzeichnen. Wenn man unterschiedliche Formen der rechtsextremistischen Hasskriminalität miteinbezieht, zeigt sich zwar für Europa eine Abnahme von Gewalttaten über die vergangenen dreißig Jahre. Es besteht dennoch eine qualitativ neue Bedrohung durch aufeinander bezogene Terroranschläge.
Der Attentäter von Christchurch 2019 wurde nach eigener Aussage durch Anders Breiviks Taten acht Jahre zuvor inspiriert. Seither traten mehrere Nachahmer in den USA und Deutschland auf den Plan. Die Täter verbreiten dabei in der Regel transnational anknüpfungsfähige rechtsextremistische Vorstellungen. Insbesondere die Mutmaßung einer »Großen Umvolkung«, der zufolge die weiße Bevölkerung gezielt durch Zuwanderung zersetzt werden soll, dient als verbindendes Element. Sogenannte Imageboards im Internet, offene wie geschlossene Kanäle in den sozialen Medien und Teile der Gamer-Szene unterstützen eine Kultur der Gewaltverherrlichung. Aber auch offline ist eine grenzüberschreitende Vernetzung von rechtsextremistischen Parteien, Organisationen und Einzelpersonen zu beobachten, insbesondere durch Sport- und Musikveranstaltungen.
In Deutschland besteht spätestens seit 2019 ein breiter Konsens in Politik und Sicherheitsbehörden, dass der Rechtsextremismus eine mindestens ebenso schwerwiegende Gefahr wie der militante Jihadismus darstellt. Die Ereignisse am Kapitol Anfang Januar haben der Weltöffentlichkeit zudem das wachsende Ausmaß und die Radikalität von verschwörungstheoretischen Bewegungen vor Augen geführt. Gleichwohl gibt es in den westlichen Staaten keine umfassend geteilte Bedrohungswahrnehmung gegenüber dieser Herausforderung. Der befürchtete Durchmarsch rechtspopulistischer Kräfte hat sich bei vielen demokratischen Wahlen seit 2017 nicht bewahrheitet. Neben den USA und Deutschland konzentriert sich der explizite Rechtsterrorismus, in jeweils unterschiedlichen Ausprägungen, bisher auf Schweden, Norwegen, Finnland, Großbritannien, Italien, Spanien und Griechenland. Verschiedene osteuropäische Staaten haben starke rechtsextreme Organisationen, aber bisher keine Anschläge erleben müssen.
Insgesamt gibt es in der EU keine einheitliche Erfassung von politisch motivierten Gewalttaten, trotz der regelmäßigen Berichte von Europol, die alle Arten des Terrorismus einschließen sollen. Insofern besteht eine – geradewegs nachvollziehbare Diskrepanz –zwischen dem mutmaßlichen Bedrohungspotential von Seiten des transnationalen Rechtsterrorismus und den tatsächlich geteilten Sicherheitsprioritäten vieler EU-Staaten.
Die neuere EU-Agenda
Die besonders schwerwiegenden Anschläge in Paris im November 2015 markieren eine Wende in der europäischen Antiterrorismuspolitik (SWP-Aktuell 8/2017). Die polizeiliche und nachrichtendienstliche Zusammenarbeit wurde seither deutlich intensiviert. Die EU beschloss zudem eine Verstärkung technischer Kontrollen an ihren Außengrenzen und eine damit verbundene Reform von Datenbanken, die unter anderem zur Erfassung von Terrorverdächtigen beitragen können. Viele dieser Maßnahmen müssen noch technisch umgesetzt werden.
In der aktuellen EU-Legislaturperiode haben sich die politischen Schwerpunkte allerdings verlagert. In der letzten gemeinsamen EU-Strategie für die Sicherheitsunion vom Sommer 2020 sind zwar viele Aspekte der Terrorismusbekämpfung angesprochen, vor allem im Bereich der Früherkennung. Die wichtigsten Zukunftsaufgaben liegen gemäß dieser Strategie jedoch bei »hybriden Gefahren«, bei der Cybersicherheit, dem Schutz kritischer Infrastrukturen und den Auswirkungen neuer Technologien (insbesondere der Künstlichen Intelligenz und Verschlüsselung). Darüber hinaus gilt es in der andauernden Pandemie den Grundsatz der Personenfreizügigkeit und das Schengen-Regime so weit wie möglich zu erhalten.
Angesichts dieser vielfältigen Vorhaben und vordringlichen Krisen kann von den unterschiedlichen Mitteilungen und Erklärungen zur Antiterrorismuspolitik, die die Innenminister, die Kommission und der Europäische Rat im November und Dezember 2020 verabschiedet haben, kein nennenswerter Schub ausgehen. Sie dienten primär wohl als politisches Signal, um auf die kurz zuvor erfolgten Attentate in Frankreich und Wien sowie auf den fünften Jahrestag der Anschläge in Paris zu reagieren. Es ist allerdings zu beachten, dass der Rat der EU-Innenminister in diesem Zusammenhang eine zeitweise Ausweitung von Binnengrenzkontrollen begrüßt hat und den Austausch von Informationen zu potentiell gewaltbereiten Personen intensivieren will. Dies kann die Debatte über die Zukunft des Schengen-Regimes beeinflussen, die spätestens ab Herbst geführt werden soll. Der Austausch zu Gefährdern soll zudem im Rahmen einer neuen »Europäischen Polizeipartnerschaft« erfolgen. Dies ist der vermutlich wichtigste Impuls der vergangenen deutschen Ratspräsidentschaft im Bereich der inneren Sicherheit. Die Polizeipartnerschaft kann aber nicht schwerpunktmäßig als Beitrag zur Terrorismusbekämpfung verstanden werden, denn sie erstreckt sich auf ein weit größeres Feld der Polizeiarbeit, einschließlich der lokalen Kooperation in Grenzregionen.
Umstrittener Umfang der EU‑Antiterrorismuspolitik
Die Zuordnung sicherheitspolitischer Initiativen zum Thema Terrorismusbekämpfung hat Vor- und Nachteile. Einerseits ist mit einer Beschleunigung der Entscheidungsfindung zu rechnen. Andererseits ergeben sich Probleme bei der Koordinierung und Umsetzung, wenn besonders umfassende Maßnahmenpakete geschnürt werden. Vor allem gilt es unter dem Eindruck von Gräueltaten verzerrte Bewertungen der Notwendigkeit und Verhältnismäßigkeit von neuen Sicherheitsgesetzen zu vermeiden.
In den frühen 2000er Jahren wurden beispielsweise die Einführung des Europäischen Haftbefehls und sämtliche Maßnahmen im Raum der Freiheit, Sicherheit und des Rechts mit der Terrorismusbekämpfung begründet. Zügige Integrationsfortschritte zogen aber zahlreiche (grund-)rechtliche Anfechtungen und mehrfache gesetzliche Nachbesserungen nach sich.
Die neuere EU-Agenda zur Terrorismusbekämpfung erscheint insgesamt ausgereifter. Beispielsweise greift die EU-Kommission Themen auf, die schon ein Sonderausschuss des Europäischen Parlaments in der letzten Legislaturperiode in einer umfassenden Evaluierung der EU-Antiterrorismuspolitik hervorgehoben hatte. Unter anderem sollen Opfern des Terrorismus mehr Rechte und Entschädigungsleistungen zustehen und öffentliche Räume verstärkt geschützt werden. Im Gegensatz dazu ist der erneute Aufruf des Europäischen Rates zur Vorratsdatenspeicherung als eher problematische Prioritätensetzung für die weitere EU-Antiterrorismuspolitik anzusehen. Dies gilt auch für die derzeit verhandelte umfassende Reform des Europol-Mandats, mit der die technischen Kapazitäten der europäischen Polizeibehörden ausgebaut und eine engere Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft erreicht werden sollen. Ein Teil dieser Gesetzesvorschläge ist sicher dazu geeignet, die Verfolgung von schweren Verbrechen zu erleichtern. Wenn der Akzent in der politischen Debatte jedoch auf die Terrorismusbekämpfung gelegt wird, droht eine Verzerrung der inhaltlichen Bestimmungen. Dann ist erneut mit Nichtigkeitsklagen vor dem EuGH zu rechnen. Dieser hat jüngst nochmals strenge Auflagen für die Zulässigkeit einer Vorratsdatenspeicherung formuliert.
Strukturelle Lücken und Grenzen der EU-Präventionspolitik
Die zentrale Aufgabe einer neubelebten EU-Antiterrorismuspolitik ist die Eindämmung der benannten jihadistischen und rechtsextremistischen Bedrohungspotentiale. Im Bereich der Terrorismusprävention versucht die EU seit Mitte der 2000er Jahre eine Koordinationsrolle auszufüllen. Insbesondere hat die Kommission das sogenannte Radicalisation Awareness Network (RAN) ins Leben gerufen, das mittlerweile mehr als 3 200 Mitglieder aus Wissenschaft, Verwaltung und Zivilgesellschaft umfasst. Auftrag des Netzwerks ist es, Pilotprojekte und Best Practices grenzüberschreitend zu fördern und neue Forschungsergebnisse zu verbreiten. 2019 wurde zudem ein Lenkungsausschuss geschaffen, der die Mitgliedstaaten in ihrer Präventionspolitik berät.
Die konkreten Effekte sind unklar. Exemplarisch zeigt sich dies im Justizvollzug. Der Umgang mit terroristischen Gefährdern ist nach wie vor überwiegend uneinheitlich und unkoordiniert. Defizite in der Gefängnisseelsorge und unterfinanzierte Rehabilitationsprogramme sind für viele Mitgliedstaaten noch immer prägend. Die EU unterstützt einen Fachverband von Strafvollzugsbehörden, der unter anderem Daten über Haftbedingungen bereitstellt. Ein neueres RAN-Handbuch zur Rehabilitation von terroristischen Straftätern könnte als Referenzwerk dienen. Typische europäische Instrumente der Integration, wie gegenseitige regelmäßige Evaluierungen, wurden aber bis dato nicht eingeführt. Eine Empfehlung des EU-Ministerrats von 2019 zog bislang keine erkennbaren Folgen nach sich.
Ungeachtet dessen tragen die Mitgliedstaaten jeweils für sich die alleinige Verantwortung für eine gesamtgesellschaftliche Präventions- und Integrationspolitik. Hier bedarf es einer starken kritischen Öffentlichkeit und demokratischen Legitimierung. Dies hat sich in den vergangenen Monaten bei der Debatte über den »politischen Islam« in Österreich und Frankreich erneut gezeigt. Es wäre nicht sinnvoll, auf EU-Ebene darüber zu entscheiden, inwiefern die Arbeit religiöser Vereine überwacht werden darf oder deren politische Beteiligung als angemessen gilt. Die zwischenzeitlich von EU-Ratspräsident Charles Michel aufgebrachte Idee, ein EU-Ausbildungszentrum für Imame zu gründen, ist ebenso unrealistisch, solange die Bildungspolitik weitestgehend in nationaler oder regionaler Verantwortung bleibt. Insofern ist es folgerichtig, dass der Europäische Rat Ende 2020 nur in sehr allgemeiner Form Angriffe auf die Meinungs- und Religionsfreiheit verurteilt und den Einklang zwischen religiöser Bildung und europäischen Grundwerten angemahnt hat.
Verpflichtende Löschung terroristischer Online-Inhalte
Im Gegenzug konzentriert sich die EU auf die Kontrolle des Online-Raums, wo sie auf Grundlage des Binnenmarkts starke regulative Kompetenzen ausüben kann. Bisher haben nur einige europäische Staaten, unter anderem Deutschland, neue gesetzliche Regelungen zur schnellen Löschung von extremistischen oder (volks)verhetzenden Online-Inhalten verabschiedet. In den vergangenen Jahren haben Sicherheitsbehörden einstweilen freiwillige Partnerschaften mit Betreibern großer Online-Plattformen (inkl. sozialer Medien) geschlossen, wobei Europol mit seinem Internet Referral Unit und das EU Internet Forum, in das Vertreter zentraler Technologieunternehmen (Youtube / Google, Facebook, Microsoft, Twitter) eingebunden sind, eine Führungsrolle übernommen haben. In Koordination mit dem Global Internet Forum to Counter Terrorism, das dieselben privatwirtschaftlichen Akteure und die EU mit 29 weiteren Staaten und den Vereinten Nationen verknüpft, konnte die Propaganda des IS deutlich zurückgedrängt werden. Hauptinstrument ist eine Hashtag-Datenbank, die als terroristisch erkanntes Material erfasst und plattformübergreifende Sperren ermöglicht. Im Oktober 2019, nach dem Terroranschlag in Christchurch, einigten sich staatliche und private Akteure auf ein sogenanntes Krisenprotokoll, das künftig schnelle und möglichst weltweite Blockaden von gefilmten Terrortaten wie in Christchurch sicherstellen soll. In der EU wird die Anwendung dieses Krisenprotokolls von Europol koordiniert.
Angesichts des dynamischen Wachstums extremistischer Online-Inhalte und der großen Zahl von Plattformen, die bisher nicht an solchen Partnerschaften teilnehmen, verfolgen die EU-Kommission und der Rat seit 2018 eine Gesetzesinitiative zur verpflichtenden Löschung terroristischer Online-Inhalte. Das Europäische Parlament und Vertreter der Industrie und der Zivilgesellschaft warnten demgegenüber mehrheitlich vor einer unverhältnismäßigen Zensur und der strukturellen Benachteiligung von kleineren Online-Plattforen, die keine Ressourcen zur Überprüfung von Inhalten und zur regelmäßigen Zusammenarbeit mit Sicherheitsbehörden haben. Unter dem Eindruck der Ermordung des Lehrers Samuel Paty in Frankreich, die sich eindeutig auf eine Aufhetzung in Sozialen Medien zurückführen ließ, konnte nun ein politischer Kompromiss gefunden werden: In der kommenden EU-Verordnung soll die strenge Frist zur Löschung von Inhalten, die als terroristisch einzuschätzen sind, innerhalb einer Stunde aufrechterhalten werden, wobei für kleine Anbieter aber gewisse Ausnahmen gelten. Ebenso bleibt der Grundsatz, dass Löschungen grenzüberschreitend angeordnet werden können, innerhalb des Binnenmarkts erhalten, mit nur wenigen nachträglichen Überprüfungsmöglichkeiten für den Staat, in dem der betroffene Online-Service ansässig ist. Eine Verpflichtung zu »aktiven Maßnahmen«, das heißt zur vorgeschalteten Prüfung von Online-Inhalten, wurde hingegen gestrichen. Auch soll die Nutzung möglicher terroristischer Inhalte für Forschungs- und Bildungszwecke erlaubt bleiben.
Kritiker sehen dennoch die Gefahr einer illegitimen und unausgewogenen Inhaltskontrolle, da bei grenzüberschreitenden Löschanforderungen je nach nationalem politischen und rechtlichen System unterschiedliche Maßstäbe angelegt werden könnten. Zudem würden extremistische Nutzer zu kaum kontrollierbaren Kommunikationskanälen und Anbietern im außereuropäischen Ausland abwandern, etwa zu Telegram.
Die bisherigen Erfahrungen in Deutschland mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz (NetzDG) deuten darauf hin, dass zumindest die Risiken eines ungerechtfertigten Löschens legaler Inhalte oder einer ineffektiven Verdrängung illegaler Inhalte relativ gering sind. Der Nachteil der partiellen Abwanderung »ins Dunkelfeld« wird womöglich aufgewogen durch die deutlich eingeschränktere Reichweite der dort verfügbaren Kommunikationskanäle. Problematischer sind eher die folgenden Punkte: die Auffindbarkeit von Meldestellen für Nutzer, die rechtliche Überprüfbarkeit von Löschungsanforderungen und die Nachverfolgung von Tätern, da bei Polizei und Justiz zu wenig qualifiziertes Personal zur Verfügung steht. Eine entsprechende Weiterentwicklung des Netz-DGs mit einer Stärkung der Rolle des Bundeskriminalamts steht kurz vor dem Abschluss – aber auch noch vor mehreren rechtlichen und praktischen Hürden. Insofern wird die kommende EU-Verordnung zur Löschung terroristischer Inhalte auch in anderen Mitgliedstaaten nicht ohne weiteres effektiv und in verhältnismäßiger Weise umgesetzt werden können.
Weitergehende EU-Regulierung im Bereich Digitalpolitik
Grundsätzlich entwickelt sich die Debatte zur Regulierung des Internets bzw. internetbasierter Geschäftsmodelle rasant weiter. Der Ende 2020 vorgestellte Digital Services Act (DSA) entfaltet ein umfassendes Konzept der Verantwortung und Rechenschaftspflicht großer Online-Plattformen und Sozialer Medien. Unter anderem sollen einheitliche Mechanismen zur Meldung mutmaßlich illegaler Inhalte etabliert werden. Der Verbreitung extremistischer oder bewusst irreführender Inhalte soll durch die Regulierung von Empfehlungsalgorithmen entgegengewirkt werden. Größere Plattformen müssten einen tiefen Einblick in ihr gesamtes System zur Steuerung und Moderation von Inhalten gewähren. Der DSA soll aber keine Regelung zur Strafbarkeit bestimmter Inhalte schaffen.
Im Bereich des jihadistischen Terrorismus sollen, wie skizziert, bereits einige freiwillige Mechanismen und die kommende EU-Verordnung zur Kontrolle von Online-Inhalten greifen. Im Bereich des Rechtsextremismus und der sogenannten »Hassrede«, die auch unter den Regelungsbereich des DSA fallen könnte, stellen sich jedoch zwei besondere Herausforderungen: Zum einen verwenden viele Akteure aus dem Online-Milieu der »neuen Rechten« eine kodierte Sprache, die extremistische Inhalte in Anspielungen versteckt und nur schwer von automatisierten Verfahren erfasst werden kann. Zum anderen werden rechtsextremistische Äußerungen in den einzelnen EU-Mitgliedstaaten unterschiedlich bewertet. Die Union hat 2008 einen Rahmenbeschluss zur Bekämpfung von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit verabschiedet, dem zufolge die Mitgliedstaaten entsprechende Aussagen bestrafen sollten. Dieser schwach verbindliche Rechtsakt aus der Zeit vor dem Vertrag von Lissabon hat nur wenig Wirkung gehabt.
Innerhalb der Kommission wird deshalb erwogen, die in Artikel 83 (1) AEUV benannten Kriminalitätsfelder, für die die EU eine Harmonisierungsfunktion wahrnehmen kann, auf die Bereiche der Hasskriminalität und Hassrede zu erweitern. Ein solcher Entschluss müsste jedoch einstimmig im Rat erfolgen. Dies ist nicht wahrscheinlich, zumindest solange die Spannungen zwischen den Mitgliedstaaten in Fragen der Rechtsstaatlichkeit und der Auslegung der liberalen Grundwerte der Union andauern. Die Entscheidung von Twitter und Facebook, US-Präsident Trump von ihren Plattformen zu verbannen, hat beispielsweise bei der polnischen Regierung zu der Reaktion geführt, ein nationales Gesetz zu planen, das eine solche »Zensur« in ihrem Einflussbereich verbieten soll.
Ein einseitiges Vorgehen der großen Online-Plattformen unter Ausnutzung ihrer Quasi-Monopolstellung kann mit guten Gründen kritisch hinterfragt werden. Einzelne Mitgliedstaaten machen es durch neue Rechtsakte zu den Grenzen der Meinungsäußerung im Internet schwieriger, zu einer gesamteuropäischen Herangehensweise zu gelangen. Dies gilt auch für Frankreich, das im Jahr 2022 im Rahmen seiner nächsten EU-Ratspräsidentschaft den Digital Services Act abschließen will, aber bereits jetzt nationale Gesetze in diesem Bereich vorantreibt.
Transatlantische Dimension
Die Ereignisse am Kapitol haben in den USA unter vielen Demokraten und auch einigen Republikanern einen Sinneswandel ausgelöst, was den traditionell sehr hoch angesetzten Stellenwert der Meinungsfreiheit betrifft. In den USA findet seither eine intensive Debatte statt über die Verantwortung von Plattformen. Angesichts der europäischen Marktmacht und der Dominanz US-amerikanischer Firmen wäre es äußerst ratsam, dass Brüssel und Washington sich zu einer koordinierten Herangehensweise entschieden. Grob umrissen könnte folgende Richtschnur auf beiden Seiten des Atlantiks gelten: Das Recht auf freie Meinungsäußerung bleibt weitgehend erhalten. Es soll aber kein »Recht auf Amplifizierung« geben. Das würde eine Eindämmung der Verbreitung von bestimmten Online-Inhalten erlauben.
Joe Biden hat in seiner Antrittsrede mehrfach die Gefahr angesprochen, die von Rechtsextremismus und Rassismus ausgeht, nicht zuletzt um sich von der mutmaßlichen Tolerierung oder gar Unterstützung derartiger Gruppen (z. B. der Proud Boys) unter Donald Trump abzusetzen. Allerdings haben die US-Behörden schon 2020 erstmalig eine rechtsextremistische Organisation, die sogenannte Russian Imperial Movement, als ausländische terroristische Vereinigung verboten. Umso überraschender ist es, dass immer noch keine föderale Gesetzgebung existiert, um innerstaatliche terroristische Vereinigungen als solche zu verfolgen. Wenn diese Lücke unter der Biden-Administration geschlossen werden sollte, kann die globale Kooperation gegen rechtsextremistische und potentiell terroristische Akteure an Substanz gewinnen.
Angesichts der unterschiedlichen Bedrohungslage und ‑wahrnehmung des Rechtsterrorismus in den europäischen Staaten ist aber bis auf weiteres vor allem mit flexiblen bi- oder minilateralen Initiativen zu rechnen, insbesondere bei der strafrechtlichen und nachrichtendienstlichen Kooperation. Gerade Deutschland fällt eine wichtige europäische Führungsrolle zu. Es ist im Bereich des Rechtsextremismus und Rechtsterrorismus besonders betroffen und hat dort aber auch spezielle Kompetenzen. Auf dieses Profil sollte es sich stützen, um die transatlantischen Beziehungen neu zu beleben. Dies gilt auch für die künftige Sicherheitskooperation mit Großbritannien, das den innerstaatlichen Rechtsextremismus schon seit mehreren Jahren als strategische Gefahr einstuft.
Fazit und Empfehlungen
Bei der gesamtgesellschaftlichen Prävention terroristischer Gewalttaten stößt die EU trotz jahrelanger Anstrengungen an strukturelle Grenzen. Innerhalb der EU sollten sich die Mitgliedstaaten nicht gegenseitig in gesellschaftliche Diskussionen über die Rolle der Religion und Integration hineinziehen. Zielführender ist es, bestimmte Problembereiche, wie die Prävention und Rehabilitation in nationalen Justizvollzugssystemen, mit weiteren europäischen Reformanreizen zu versehen. Auch ohne eine Harmonisierungskompetenz kann die EU mehr tun, als Best Practices zu fördern.
Ganz oben auf der Agenda steht derzeit eine Verständigung über die Auslegung der Meinungsfreiheit und über die Verantwortung von Online-Plattformen und Serviceanbietern. Die EU-Mitgliedstaaten müssen langfristig daran arbeiten, ein stärker gemeinschaftliches Verständnis der strafrechtlichen Grenzen der freien Meinungsäußerung zu entwickeln. Zunächst muss die Umsetzung der kommenden Verordnung zur Löschung von terroristischen Online-Inhalten kritisch begleitet werden. Damit es zu keiner unverhältnismäßigen Anwendung des Terrorismusvorwurfs in grenzüberschreitenden Zusammenhängen kommt, wäre es hilfreich, die Rechtsgrundlagen zur Bekämpfung der Hassrede und der Hasskriminalität zu erweitern. Mittelfristig wird der Digital Services Act Handlungsdruck erzeugen, da Meldungen und Löschungsanordnungen voraussichtlich stark zunehmen werden. Die Konsequenzen des DSA werden weit über die Terrorismusbekämpfung und über die EU-Grenzen hinausreichen. Deshalb muss die in den USA konvergierende Wahrnehmung des Rechtsextremismus als Bedrohung schon jetzt als Chance für einen transatlantischen Regelungsrahmen genutzt werden.
Alle diese Schritte zur Regulierung des Online-Raums können nur indirekt auf die verschiedenen Arten des religiösen und politischen Extremismus einwirken. Die Forschung zu Radikalisierungsprozessen und zu terroristischen Taten zeigt, dass Online-Kommunikation eine wichtige und wachsende Rolle spielt, aber persönliche, gesellschaftliche und politische Faktoren mindestens ebenso entscheidend bleiben.
Da der Rechtsterrorismus bisher nur in einer Minderheit von westlichen Staaten als prioritäre Gefahr erlebt wird, sollte man auf operativer Ebene in flexiblen Formaten vorangehen. Dies gilt etwa für den Austausch zu rechtsextremistischen Gefährdern oder für konkrete Maßnahmen wie Vereinsverbote und Ermittlungsverfahren, die grenzüberschreitende Aspekte haben können. Das Muster einer solchen Antiterrorismuskooperation unter »most affected member states« ist die Kooperation in den frühen 2010er Jahren gegen das Phänomen der ausländischen Kämpfer des IS. Diese Zusammenarbeit konnte später in gemeinsame europäische Ansätze überführt werden. Auch jetzt wieder kann die EU bei konkreten Antiterrormaßnahmen von engagierten Mitgliedstaaten wie Deutschland und Drittstaaten, wie Großbritannien und den USA, profitieren.
Dr. Raphael Bossong ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe EU / Europa.
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ISSN (Online) 2747-5018
doi: 10.18449/2021A22