Internationale Indizes und Rankings, wie der Mitte April 2021 publizierte World Press Freedom Index, spielen eine zunehmend wichtige Rolle im Maghreb. Maghrebinische Regierungen vermarkten Verbesserungen der eigenen Position, polemisieren gegen schlechte Einstufungen anderer oder nutzen eigene bessere Platzierungen, um ihre Kontrahenten herabzusetzen. Gleichzeitig ermöglichen Rankings Oppositionellen, auf Missstände im eigenen Land hinzuweisen. Externen Kooperationspartnern, allen voran der Europäischen Union (EU) und ihren Mitgliedstaaten, dienen sie als Entscheidungsgrundlage für Politiken gegenüber Algerien, Marokko und Tunesien. Auch wenn Indizes und Rankings Objektivität und Vergleichbarkeit insinuieren, sind sie oftmals problematisch in ihrer Genese, Aussagekraft und Verwendung. Nur wenn sie in die qualitative Forschung zum Maghreb eingebettet und ihre Kehrseiten reflektiert werden, können sie dazu beitragen, Reformbedarf zu identifizieren und Missstände zu beheben.
Als im April 2021 der World Press Freedom Index (PFI) der Nichtregierungsorganisation Reporters sans frontières (RSF) erschien, löste er ein großes Medienecho im Maghreb aus; insbesondere prominente Regierungskritiker griffen ihn auf. Aber auch die staatlichen Presseagenturen der Maghreb-Länder nutzen Rankings und Indizes regelmäßig, um auf Defizite in ihren Nachbarstaaten hinzuweisen: Während die marokkanische Presseagentur den PFI gern instrumentalisiert, um die mangelnde Pressefreiheit in Algerien anzuprangern, rühmt sich die algerische Presseagentur vorzugsweise mit der eigenen Platzierung im Human Development Index (HDI), der seit 1990 im Human Development Report des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) erscheint.
Für ähnlich viel Resonanz sorgt auch der zuletzt im März veröffentlichte Freedom in the World Index (FWI), seit 1972 erhoben von der US-amerikanischen Nichtregierungsorganisation Freedom House. Nicht zuletzt wurde der im Januar publizierte Corruption Perceptions Index (CPI), den Transparency International seit 1995 ermittelt, mit großer Spannung erwartet und dementsprechend politisch ausgeschlachtet: Die tunesische Presse erbaute sich an der besten Platzierung des Landes seit einem Jahrzehnt, die marokkanischen und algerischen Medien stürzten sich auf die schlechten Korruptions-Bewertungen des jeweils anderen Landes.
Darüber hinaus haben sich neuere Indizes als wichtige Marker etabliert, wie der Bertelsmann Transformation Index (BTI), der Democracy Index der Economist Intelligence Unit (EIU) und der Ease of Doing Business Index der Weltbank. Sie gewinnen zusehends an Bedeutung und Einfluss in der Außen- und Sicherheitspolitik sowie in der Wirtschafts- und Entwicklungspolitik, zum Beispiel in maßgebenden politökonomischen Länderanalysen des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), in Statusberichten der EU-Kommission zur Europäischen Nachbarschaftspolitik, etwa mit Algerien, oder in verpflichtenden Wirkungsanalysen (Sustainability Impact Assessments), die der EU als Entscheidungsgrundlage für neue Handelsabkommen dienen, unter anderem mit Marokko und Tunesien.
Was all diesen Indizes und Rankings gemein ist: Sie behaupten, objektive und verlässliche Messung und Bewertung zu gewährleisten. Dass dieser Anspruch in der Praxis bisweilen kaum zu erfüllen ist, zeigt sich bei näherer Betrachtung dieser Instrumente am Beispiel der Maghreb-Staaten.
Der Maghreb im Zahlenvergleich
In den 35 für diese Analyse ausgewählten Rankings und Indizes finden sich die drei Maghreb-Staaten weitestgehend dort wieder, wo sie auch geographisch verortet sind: Zwischen Europa und Subsahara-Afrika und damit zwischen einer Vielzahl von Extrembeispielen am oberen und unteren Ende der jeweiligen Skala. Globale Ungleichheiten zwischen dem »Westen«, den an dessen »Schwelle« liegenden Maghreb-Staaten und dem »globalen Süden« schlagen sich somit im Gefälle der Rankings und Indizes nieder. In nahezu der Hälfte der Ranglisten, die international vergleichen, befinden sich alle drei Maghreb-Staaten auf den Plätzen im mittleren Bewertungsdrittel. In keiner davon sind alle drei Staaten im unteren Drittel platziert und nur im Global Militarisation Index (GMI) des Bonn International Center for Conversion (BICC) und im Passport Index der Beratungsfirma Arton Capital jeweils im oberen Drittel. Der Ibrahim Index of African Governance (IIAG) der Mo Ibrahim Foundation deutet darauf hin, dass der Maghreb im regionalen Vergleich auf dem afrikanischen Kontinent anders als im internationalen vorn liegt. Im Ranking des IIAG, der die Governance-Performance von 54 afrikanischen Ländern bewertet, nehmen alle drei Maghreb-Staaten Plätze im oberen Drittel ein.
Im direkten Vergleich der Maghreb-Staaten offenbaren sich Länderprofile mit klaren Stärken und Schwächen, wobei Tunesien insgesamt am besten abschneidet, Marokko im Mittelfeld liegt und Algerien das Schlusslicht bildet.
Demokratischer Spitzenreiter Tunesien
Tunesien belegt in mehr als der Hälfte der untersuchten Rankings und Indizes den ersten Platz unter den drei Maghreb-Staaten. Dabei kann das Land besonders in den Bereichen Staatlichkeit sowie Menschen- und Bürgerrechte glänzen. In Indizes, die das politische System, die Governance-Performance und die politischen Freiheiten bewerten, schneidet Tunesien ausnehmend gut ab (siehe Tabelle 1). So auch im BTI, der sich aus den Komponenten »politische Transformation«, »wirtschaftliche Transformation« und »Governance« zusammensetzt. Hier folgen Algerien und Marokko weit abgeschlagen. Im Ranking des IIAG liegt Tunesien auf dem vierten Platz, vor ihm nur die Inselstaaten Mauritius, Kap Verde und die Seychellen. Im CPI steht Tunesiens öffentlicher Sektor ebenfalls relativ solide da.
Dennoch lassen sich aus diesen Bewertungen auch Defizite ablesen. Der BTI ordnet Tunesien als »defekte Demokratie« mit einem »eingeschränkten« Wirtschaftsstatus und einer »mäßigen« Governance-Performance ein. Der von der EIU erhobene Democracy Index bestätigt Ersteres mit seiner Einstufung des Landes als »unvollständige Demokratie«. Trotzdem bleibt Tunesien laut Indizes die einzige Demokratie im Maghreb.
Bei den Menschen- und Bürgerrechten sieht es ähnlich aus. Im FWI, der die Kategorien »politische Rechte« und »Bürgerrechte« beinhaltet, ist Tunesien in etwa doppelt so gut platziert wie Marokko und Algerien (siehe Tabelle 1). Damit ist Tunesien Freedom House zufolge nicht nur der einzige Maghreb-Staat, sondern zudem der einzige arabische und nur einer von fünf afrikanischen Staaten, der sich »frei« nennen darf. Marokko hingegen schätzt der FWI als »teilweise frei« ein (allerdings ohne die Westsahara), Algerien sogar als »nicht frei«. Auch im PFI deklassiert Tunesien Marokko und Algerien deutlich – und das, obwohl es im Jahr 2010 mit Platz 164 die schlechteste Positionierung eines Maghreb-Staates seit der ersten Erhebung des Indexes (2002) innehatte.
Demokratie, Freiheiten und Korruption
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Desgleichen liegt Tunesien bei der Visumfreiheit und im Bereich der akademischen Freiheiten vorn. Laut Henley & Partners können Tunesierinnen und Tunesier in 72 Länder visumfrei einreisen. Im Passport Index von Arton Capital erreicht Tunesien die beste Platzierung im Maghreb. Im Academic Freedom Index (AFi) des Berliner Think-Tanks Global Public Policy Institute (GPPi) schneidet es besonders gut ab und gehört als einziger Maghreb-Staat zur ersten von fünf Bewertungsgruppen. Dies spiegelt sich in seiner Spitzenstellung im Global Knowledge Index (GKI) des UNDP wider. Den Digital Quality of Life Index (DQL Index) führt Tunesien im Maghreb ebenfalls an.
In puncto Sicherheit und Konfliktpotential sieht es dagegen anders aus. Im GMI und im Fragile States Index (FSI) nimmt Tunesien den dritten Platz unter den Maghreb-Staaten ein, was sich allerdings zu seinen Gunsten auslegen lässt – Tunesien ist demnach am wenigsten fragil und militarisiert. Im Global Terrorism Index (GTI) liegt es vor Algerien und Marokko. Mit dieser Bewertung kann es sich jedoch keineswegs rühmen: Der Index zählt Vorfälle, Todesopfer, Verletzte und Sachschäden, um die »Auswirkungen von Terrorismus« zu messen, und stellt Tunesien ein weitaus schlechteres Zeugnis aus als seinen Index-Rivalen. Auch in der Political Terror Scale (PTS) und im Global Peace Index (GPI), der die Dimensionen »innere und internationale Konflikte«, »Sicherheit« und »Militarisierung« zusammenfasst, wird Tunesien schwächer bewertet als Marokko.
Doch die eklatantesten Defizite Tunesiens zeigen sich in der Wirtschaftsdomäne: Hier muss der freiheitliche Vorzeigekandidat Marokko das Feld überlassen.
Wirtschaftschampion Marokko
In der Gesamtplatzierung ist Marokko Tunesien dicht auf den Fersen. Das Land erreicht immerhin in 14 der 35 Rankings und Indizes den ersten Platz innerhalb des Maghreb. Bei den Wirtschaftsindizes wird das Königreich deutlich höher eingestuft als Tunesien und Algerien. Im prominenten Ease of Doing Business Index der Weltbank liegt Marokko auf Platz 53 von 190 Ländern und deklassiert Tunesien um 25 und Algerien um 104 Plätze.
Die gute Bewertung der marokkanischen Geschäftsfreundlichkeit und Unternehmensregulierung geht vor allem zurück auf die Indikatoren »Erwerb einer Baugenehmigung« (Platz 16), »Steuern« (24) und »Zugang zu Elektrizität« (34). Marokkos Wettbewerbsfähigkeit unterstreicht ferner der Global Competitiveness Index (GCI) des Weltwirtschaftsforums, in dem Marokko 12 Ränge vor Tunesien und 14 vor Algerien liegt (siehe Tabelle 2). Auch bei der Offenheit und Transparenz im Haushaltswesen, der wirtschaftlichen Freiheit und der Konnektivität übernimmt Marokko klar die Führung: Im Open Budget Index (OBI) befindet sich das Land mit Platz 62 ganze 20 Plätze vor Tunesien und 50 vor Algerien. Im Index of Economic Freedom der Heritage Foundation und im Global Soft Power Index der Unternehmensberatung Brand Finance sind die Vorsprünge sogar noch etwas größer. Im KOF Globalisierungsindex der ETH Zürich, der sich zu einem Drittel aus der Komponente »wirtschaftliche Globalisierung« errechnet, schneidet Marokko ebenfalls am besten ab.
Wirtschaft und Klimaschutz
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Überdies kann sich Marokko im Bereich der ökologischen Nachhaltigkeit von Tunesien und Algerien abheben. Im Ranking des Climate Change Performance Index (CCPI) belegt Marokko den siebten Platz von 57 bewerteten Ländern – und liegt damit de facto auf Platz vier, da die deutsche Umweltorganisation Germanwatch die ersten drei Plätze des CCPI-Rankings demonstrativ unbesetzt lässt. Das von Erdöl und Erdgas abhängige Algerien findet sich dagegen am unteren Ende der Rangliste auf Platz 43 wieder. Auch im Global Green Economy Index (GGEI) der Beratungsfirma Dual Citizen steht Marokko mit Platz 59 von 130 nicht schlecht da.
Deutlich weniger gut bewertet wird das Land allerdings im renommierten Environmental Performance Index (EPI) der Yale University, der die ökologische Leistungsbilanz von Staaten und Unternehmen betrachtet. Im EPI findet sich Marokko auf Platz 100 von 180 hinter Tunesien (Platz 71) und sogar Algerien (84). Hauptgrund hierfür ist, dass der Index sich ebenso auf die entwicklungsnahe Kategorie »Umweltgesundheit« bezieht, in der Algerien auf Platz 61 und im Maghreb an erster Stelle steht. Und obwohl Marokko die Wirtschaftsindizes im Maghreb anführt, gibt der BTI zumindest einen Hinweis darauf, dass die wirtschaftliche Spitzenposition des Königreichs nicht in Stein gemeißelt ist: In der Komponente »wirtschaftliche Transformation« erhält Marokko von der Bertelsmann Stiftung die Bewertung »eingeschränkt« und landet 17 Plätze hinter Tunesien auf Platz 62.
Schlusslicht Algerien
In der Gesamtübersicht der Rankings und Indizes bildet Algerien mit Abstand das Schlusslicht im Maghreb; in lediglich drei der 35 untersuchten ist das flächenmäßig größte Maghreb-Land vor Tunesien und Marokko platziert, nämlich im GMI, im Human Capital Index (HCI) und im HDI. Hervorzuheben sind dabei insbesondere Algeriens gute Bewertungen im HCI, der seit 2018 von der Weltbank veröffentlicht wird und beurteilt, inwiefern Länder in der Lage sind, das wirtschaftliche Potential ihrer Bürgerinnen und Bürger auszuschöpfen, und im HDI des UNDP. Mit Platz 98 von 174 Ländern ist Algeriens Performance im HCI zwar nicht gerade stark, doch liegt das Land vor den beiden anderen Maghreb-Staaten und kann sich vor allem in den Bildungs-Komponenten hervortun: Algerierinnen und Algerier gehen im Schnitt mehr als ein Jahr länger zur Schule als ihre Altersgenossen in Tunesien und Marokko.
Entwicklung und Militarisierung
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Wirklich beachtenswert ist Algeriens Einstufung im HDI (siehe Tabelle 3), in dem das Land sogar den dritten Platz in Afrika belegt (nach Mauritius und den Seychellen). Der Index errechnet sich seit 2010 aus den Indikatoren »Lebenserwartung bei Geburt«, »durchschnittliche« und »voraussichtliche Schulbesuchsdauer« sowie »Bruttonationaleinkommen (BNE) pro Einwohner«. Algerien erreicht bessere Werte in nahezu allen Einzelindikatoren, triumphiert aber am meisten beim BNE pro Kopf. Dies fällt besonders ins Gewicht, da der Cost of Living Index Algerien günstigere Lebenshaltungskosten als Marokko attestiert, das laut Numbeo die höchsten im Maghreb zu verzeichnen hat.
Von Algeriens Erfolgen in den Entwicklungsindizes profitieren Algerierinnen jedoch nicht im gleichen Maße wie Algerier. Das Land weist in den zwei Gender-Indizes des UNDP erhebliche Defizite in der Geschlechterparität auf. Im Gender Development Index (GDI) erhält das Land die schlechtmöglichste Bewertung und im Gender Inequality Index (GII) liegt es auf Platz 103 von 162. Allerdings stehen Tunesien und vor allem Marokko in den Gender-Indizes ebenfalls nicht sonderlich gut da.
Algeriens Teilerfolge in Entwicklungsindizes sollten daher nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Land im maghrebinischen Vergleich in mehr als zwei Dritteln der Rankings und Indizes den letzten Platz einnimmt. Großer Aufholbedarf lässt sich anhand der Indexbefunde in den Feldern identifizieren, in denen sich Tunesien und Marokko am stärksten profilieren konnten: Staatlichkeit, Menschen- und Bürgerrechte, Wirtschaft und technologische Entwicklung. Im DQL Index belegt Algerien den dritten Platz unter den Maghreb-Staaten und den vorletzten von 85 begutachteten Ländern. Ähnliches gilt im Übrigen für den EF English Proficiency Index.
Schließlich entpuppt sich Algerien im Hinblick auf den Bereich Sicherheit und Konfliktpotential als Sorgenkind. Laut FSI ist es das fragilste (Platz 71 von 178), laut GPI das am wenigsten friedfertige (117 von 163) und dem GMI zufolge das mit Abstand am meisten militarisierte Land im Maghreb (siehe Tabelle 3).
Die Kehrseiten: Rankings und Indizes im Plausibilitätscheck
Auf den ersten Blick ergeben die Rankings und Indizes ein Profil der einzelnen Maghreb-Staaten sowie ihrer Aufstellung im internationalen und regionalen Vergleich, das im Wesentlichen plausibel sowie konsistent mit qualitativen Einschätzungen zu sein scheint. Bei genauerer Betrachtung indes zeigen sich die Kehrseiten: Sie reichen von der Frage, wie übereinstimmend Rankings und Indizes untereinander sind und wie konsistent mit den Ergebnissen der qualitativen Forschung, über methodische Fragen bis hin zu ihrer potentiellen Nutzung und generellen Aussagekraft.
Methodische Fragezeichen
Vergleicht man verschiedene Indizes und Rankings, die ähnliche Erkenntnisinteressen haben, ergeben sich zahlreiche Fragen zu ihrem Design. Beispiel: Thema Entwicklung. Im HDI führt Algerien im Maghreb, was durch die Indikatoren »Gesundheitsversorgung« und »Bildungsdauer« zu erklären ist sowie durch Algeriens Rentierstaat, der auf Erdöl- und Erdgasreichtum basiert. Der HDI spiegelt die Entwicklungsrealität vor Ort jedoch kaum getreu wider – und insbesondere nicht die Chancen, die im Zeitalter der globalen Vernetzung und Digitalisierung nicht nur mit klassischer Schulbildung, sondern mit Faktoren wie etwa Englischkenntnissen und Zugang zu schnellem Internet zusammenhängen. In diesen Bereichen haben Marokko und vor allem Tunesien in Rankings die Nase vorn. Denn obwohl Algerien im HDI am besten platziert ist, schneidet Tunesien in fünf (und Marokko in vier) anderen für Entwicklungsthemen aussagekräftigen Indizes deutlich besser ab: Neben den beiden Gender-Indizes des UNDP (mit Ausnahme Marokkos im GII) gilt dies für den Global Hunger Index (GHI), den Global Knowledge Index (GKI) und den DQL Index.
Noch eklatantere Widersprüche zeigen sich zwischen unterschiedlichen Rankings zu politischen Freiheiten und der Einordnung politischer Systeme. So stuft der BTI in seiner Komponente »politische Transformation«, die den Demokratiestatus eines Landes zu bestimmen versucht, Algerien als »gemäßigte Autokratie« erheblich besser ein als die »harte Autokratie« Marokko. Der Democracy Index der EIU dagegen taxiert Marokko als »hybrides Regime«, Algerien als »autoritäres Regime«. Auch der FWI schätzt Marokko (»teilweise frei«) als viel »freier« ein als Algerien (»nicht frei«). Eine naheliegende Erklärung für diese Divergenz wäre, dass den Diagnosen unterschiedliche Demokratieverständnisse zugrunde liegen. Doch sowohl die Bertelsmann Stiftung als auch die EIU berufen sich auf fünf Kriterien, die weitestgehend kongruent sind.
Daraus lässt sich schließen, dass selbst geringe Abweichungen in einzelnen Kriterien, ihrer jeweiligen Operationalisierung, Normierung und Gewichtung zu fundamental unterschiedlichen bzw. sogar zu konträren Einstufungen führen können. Die Konsequenz daraus lautet: Europäische und andere externe Kooperationspartner der Maghreb-Staaten entscheiden mit der Wahl des Indexes letztlich darüber, wie sie einen Staat beurteilen. Mit Blick auf konkrete Kooperationen, ob politökonomischer oder entwicklungspolitischer Natur, macht es durchaus einen Unterschied, ob ein Staat als »autoritäres Regime« oder als »gemäßigte Autokratie« (Beispiel Algerien) gilt. Hinsichtlich Marokkos ist die Spannbreite besonders groß und Kooperationspartner können zwischen »hybrides Regime« und »harte Autokratie« wählen – und auf Grundlage dessen entsprechende Politiken entwickeln, Entscheidungen treffen und diese wunschgemäß begründen. Dies illustriert die Gefahren der quantitativen Instrumente: Sie insinuieren ein umfassendes, objektives, messbares und akkurates Bild. Dabei wird vergessen, dass die Subjektivität der Rankings schon bei denjenigen beginnt, die sie designen und bereits mit der Zusammensetzung der Indizes Urteile fällen.
Werden Kennzahlen zusätzlich noch selektiv genutzt bzw. instrumentalisiert, folgen daraus häufig vereinfachte und verzerrte Bilder einer deutlich komplexeren Realität – und im schlechtesten Fall Politiken, die auf falschen Annahmen basieren. Die Tatsache etwa, dass im vergangenen Jahrzehnt neben Tunesien auch Marokko ein »Darling« internationaler Geber und Investoren gewesen ist und wenig Kritik erfahren hat, dürfte nicht zuletzt an seinen Verbesserungen in Rankings liegen. Dies birgt die Gefahr, dass Regierungen Reformen eher darauf ausrichten, ihren Indexwert zu optimieren, als ihre tatsächliche Performance zu steigern. Vergleiche über längere Zeit sind zudem mit Vorsicht zu genießen, da Verbesserungen in Rankings nicht zwangsläufig auf Fortschritte im untersuchten Land zurückzuführen sind. Vielmehr können sie auch schlicht auf Verschlechterungen in anderen Ländern hinweisen – und umgekehrt.
Hinzu kommt, dass die Datenerhebung gerade in autoritären Staaten schwierig ist. Und schließlich liegen einigen Indizes veraltete Datensätze oder Schätzungen zugrunde, etwa dem Multidimensional Poverty Index (MPI) und dem Gender Social Norms Index (GSNI) des UNDP.
Sterile Bilder und blinde Flecken
Der Abgleich mit der qualitativen Literatur weist überdies auf problematische Leerstellen in Rankings hin. So verschleiern Indizes zu politischen Freiheiten die Natur von Systemen. An den Beispielen Marokko und Algerien zeigt sich die Schwierigkeit, zwei Länder mit so unterschiedlichen politischen Systemen gegeneinander zu gewichten und auf ein und derselben Skala zu verorten. Im einen Fall regiert ein Monarch mit harter Hand und in der Verfassung verankerten nahezu absoluten Entscheidungsbefugnissen. Im anderen Fall handelt es sich um ein hoch undurchsichtiges System, in dem konkurrierende Schlüsselakteure, die vorwiegend dem Militär angehören, mittels Klientelnetzwerken willkürlich aus dem Hintergrund regieren.
Für politische Aktivistinnen und Aktivisten sind beide Systeme gleichermaßen problematisch. Das algerische möglicherweise in höherem Maße, da der Zugang von internationalen Menschenrechtsorganisationen nicht gesichert ist und folglich Informationsdefizite entstehen, etwa zu Folter. Darüber, welches System nun die Kategorisierung »autoritär« verdient, lässt sich also streiten. Für die maghrebinischen Regierungen indes sind solche Bewertungen von großer Bedeutung, weil sie erhebliche Folgen haben mit Blick auf internationale Kooperationen und Abkommen. In den bereits genannten Analysen und Berichten, die der Bundesregierung und der EU-Kommission als Entscheidungsgrundlage dienen, wird dies nicht problematisiert.
Die Vergleichbarkeit von strukturell sehr unterschiedlichen Volkswirtschaften ist ebenfalls nur sehr bedingt gegeben. Eine Rentierwirtschaft wie Algerien kann man kaum sinnvoll mit diversifizierten Volkswirtschaften wie Tunesien oder Marokko vergleichen. Marokkos Wirtschaft wird stark durch das Königshaus reguliert bzw. dominiert und mag für ausländische Investoren attraktiv sein, allen voran aus Europa. Der übrige heimische Privatsektor hingegen leidet nicht nur unter dem Wirtschaftsmonopol der Königsfamilie, sondern ebenso unter der Korruption in der öffentlichen Verwaltung. Marokkos gutes Abschneiden im Ease of Doing Business Index ist damit aus lokaler Perspektive durchaus fragwürdig. Dies unterstreicht der Abgleich mit anderen Wirtschaftsindizes: In der BTI-Komponente »wirtschaftliche Transformation«, die anders als der Weltbank-Index auch Kriterien wie sozialen Ausgleich, Chancengleichheit und Nachhaltigkeit beinhaltet, bleibt Marokko weit hinter Tunesien zurück.
Zieht man allein Rankings heran, läuft man Gefahr, ein steriles Bild der einzelnen Maghreb-Staaten zu erhalten, da zahlreiche profunde Probleme der Systeme quantitativ nicht oder nur schwer erfassbar sind. Informalität und politische Parallelstrukturen (»Deep State«) etwa werden in den einzelnen Indikatoren, die den Indizes zugrunde liegen, nicht berücksichtigt. Dergleichen können quantitative Erfassungen letztlich auch nicht (gewähr)leisten. Selbst wenn der CPI einen Versuch in diese Richtung unternimmt, handelt es sich bei den Kennzahlen um zum Teil von Wirtschaftseliten wahrgenommene und nicht um tatsächliche Korruption. Ferner sagen die Zahlen wenig aus über die Qualität der Korruption und ihre Strukturen. Folglich kann auf der Basis der Rankings und Indizes, wenn überhaupt, nur bedingt ermittelt werden, welche Reformen angebracht wären. Gleiches lässt sich mit Blick auf den GMI festhalten. Er misst die Militarisierung eines Landes, sagt aber noch nichts über ihre intendierte Nutzung und ebenso wenig über das Verhältnis zwischen Militär und Politik aus: Militarisiert sich ein Land, weil der Monarch es so will, wie in Marokko, oder agiert das Militär längst autark von der Politik oder kontrolliert sie sogar, wie in Algerien? Über Akteure kann insgesamt anhand von Indizes kaum eine Aussage getroffen werden, da sie sich wegen ihrer qualitativen Natur quantitativen Analysen weitestgehend entziehen.
Nicht minder problematisch ist, dass lokale Unterschiede verloren gehen. Blinde Flecken ergeben sich bei der Betrachtung innerstaatlicher Armuts- und Arbeitslosigkeitsgefälle, etwa in Marokko zwischen den Wirtschaftszentren Casablanca und Rabat und der strukturschwachen Rif-Region, oder in Tunesien zwischen der wohlhabenden Vorstadt von Tunis, La Marsa, und abgehängten Landesteilen wie Tataouine und Jendouba. Dabei stellt sich die Frage, ob es insbesondere hinsichtlich der Identifizierung von Reformbedarf nicht gewinnbringender wäre, detaillierte Daten zu einzelnen Landesteilen und Akteuren zu erheben, etwa zur Performance von Parteien, Ministerien und politischen Ämtern wie Staatsoberhäuptern – anstatt ganze Länder über einen Kamm zu scheren.
Darüber hinaus bleibt außer beim CPI bei so gut wie allen Einstufungen unklar, ob die Bürgerinnen und Bürger ihr Land ähnlich taxieren. Laut Umfragen von 2020 genießen die autoritären Regime Marokkos und Algeriens weit mehr Vertrauen als die demokratisch gewählte Regierung Tunesiens.
Mehrwert und Empfehlungen
Die am Beispiel der Maghreb-Staaten aufgezeigten Widersprüche und Unstimmigkeiten in Rankings und Indizes veranschaulichen, dass sie ein ambivalentes Instrument sind; werden sie unreflektiert genutzt, kann das folgenschwere Entscheidungen über Kooperationen sowie problematische Evaluierungen von Prozessen nach sich ziehen. Gleichzeitig können Rankings und Indizes dazu beitragen, Reformbedarf zu erkennen und Missstände zu beheben; sowohl die Maghreb-Staaten selbst als auch externe Kooperationspartner, allen voran die EU und ihre Mitgliedstaaten, können davon profitieren. Umso wichtiger ist es, dass die Bundesregierung und die EU-Kommission sich der Schwächen von Rankings und Indizes bewusst sind, wenn sie sich ihrer bedienen – ansonsten besteht das Risiko dessen, was Alexander Cooley und Jack Snyder »dumb down global governance« genannt haben, sprich, dass komplexe Sachverhalte grob vereinfacht und unzulängliche Politiken entwickelt werden.
Um dies zu verhindern, sollten folgende Punkte berücksichtigt werden: Nur durch die ganzheitliche und umsichtige Betrachtung unterschiedlicher Rankings und Indizes – inklusive ihrer Widersprüche – gibt es die Chance, ein umfassendes Bild zu erhalten. Doch selbst wenn man sie auf diese Weise nutzt, ersetzt das keineswegs profunde Kenntnisse des jeweiligen lokalen Kontextes. Einzig wenn Letztere eingebunden werden, sind Leerstellen und Verzerrungen in Rankings und Indizes erkennbar, lassen sich falsche Kausalschlüsse vermeiden und die Ursachen von Missständen identifizieren.
Auch muss hinterfragt werden, inwieweit Staaten vergleichbar sind, die fundamental unterschiedliche Voraussetzungen aufweisen. Um Schlüsse über die Aussagekraft von Rankings und Indizes zu ziehen, muss zudem ihre Genese und Zusammensetzung mitbedacht werden. Dazu zählen die ausgewählten Kriterien, ihre Operationalisierung und Gewichtung, die Quellen der Daten und die Art ihrer Erhebung. Nicht zuletzt lohnt sich ein Blick auf die Finanzierung, die Interessen und die Weltanschauung der messenden Institutionen.
Aljoscha Albrecht ist Forschungsassistent in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten.
Dr. Isabelle Werenfels ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten.
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doi: 10.18449/2021A40