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Die Vermessung des Maghreb

Vermeintliche Klarheit durch politökonomische Rankings und Indizes

SWP-Aktuell 2021/A 40, 11.05.2021, 8 Seiten

doi:10.18449/2021A40

Forschungsgebiete

Internationale Indizes und Rankings, wie der Mitte April 2021 publizierte World Press Freedom Index, spielen eine zunehmend wichtige Rolle im Maghreb. Maghrebinische Regierungen vermarkten Verbesserungen der eigenen Position, polemisieren gegen schlechte Einstufungen anderer oder nutzen eigene bessere Platzierungen, um ihre Kontrahenten herabzusetzen. Gleichzeitig ermöglichen Rankings Oppositionellen, auf Missstände im eigenen Land hinzuweisen. Externen Kooperationspartnern, allen vor­an der Euro­päischen Union (EU) und ihren Mitgliedstaaten, dienen sie als Entscheidungs­grundlage für Politiken gegenüber Algerien, Marokko und Tunesien. Auch wenn Indi­zes und Rankings Objektivität und Vergleichbarkeit insinuieren, sind sie oftmals pro­b­lematisch in ihrer Genese, Aussagekraft und Verwendung. Nur wenn sie in die quali­ta­tive Forschung zum Maghreb eingebettet und ihre Kehrseiten reflektiert werden, können sie dazu beitragen, Reformbedarf zu identifizieren und Missstände zu beheben.

Als im April 2021 der World Press Free­dom Index (PFI) der Nichtregierungsorganisa­tion Reporters sans frontières (RSF) er­schien, löste er ein großes Medienecho im Maghreb aus; insbesondere prominente Regierungskritiker griffen ihn auf. Aber auch die staat­lichen Pres­seagenturen der Maghreb-Länder nutzen Rankings und Indi­zes regelmäßig, um auf Defizite in ihren Nachbarstaaten hinzuweisen: Während die marokkanische Presseagentur den PFI gern instrumentalisiert, um die mangelnde Pressefreiheit in Algerien anzupran­gern, rühmt sich die alge­rische Presseagen­tur vorzugsweise mit der eigenen Platzierung im Human Develop­ment Index (HDI), der seit 1990 im Human Development Report des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (UNDP) erscheint.

Für ähnlich viel Resonanz sorgt auch der zu­letzt im März veröffentlichte Freedom in the World Index (FWI), seit 1972 erhoben von der US-amerikanischen Nichtregierungs­organisation Freedom House. Nicht zuletzt wurde der im Januar publizierte Cor­rup­tion Perceptions Index (CPI), den Trans­parency International seit 1995 ermittelt, mit großer Spannung erwartet und dem­entsprechend politisch ausgeschlachtet: Die tune­sische Presse erbaute sich an der besten Platzierung des Landes seit einem Jahrzehnt, die marokkanischen und algerischen Medien stürzten sich auf die schlechten Korruptions-Bewertungen des jeweils anderen Landes.

Darüber hinaus haben sich neuere Indi­zes als wichtige Marker etabliert, wie der Bertels­mann Transformation Index (BTI), der Democracy Index der Economist Intelli­gence Unit (EIU) und der Ease of Doing Busi­ness Index der Weltbank. Sie gewinnen zu­sehends an Bedeutung und Einfluss in der Außen- und Sicherheitspolitik sowie in der Wirtschafts- und Entwicklungspolitik, zum Beispiel in maßgebenden politökonomischen Länderanalysen des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammen­arbeit und Entwicklung (BMZ), in Status­berichten der EU-Kommission zur Europäi­schen Nach­barschaftspolitik, etwa mit Alge­rien, oder in verpflichtenden Wirkungs­analysen (Sus­tainability Impact Assess­ments), die der EU als Entscheidungs­grund­lage für neue Han­dels­abkommen dienen, unter anderem mit Marokko und Tunesien.

Was all diesen Indizes und Rankings gemein ist: Sie behaupten, objektive und verlässliche Messung und Bewertung zu gewährleisten. Dass dieser Anspruch in der Praxis bisweilen kaum zu erfüllen ist, zeigt sich bei näherer Betrachtung dieser Instru­mente am Beispiel der Maghreb-Staaten.

Der Maghreb im Zahlenvergleich

In den 35 für diese Analyse ausgewählten Rankings und Indizes finden sich die drei Maghreb-Staaten weitestgehend dort wie­der, wo sie auch geographisch verortet sind: Zwischen Europa und Subsahara-Afrika und damit zwischen einer Vielzahl von Extrem­beispielen am oberen und unte­ren Ende der jeweiligen Skala. Globale Ungleichheiten zwischen dem »Westen«, den an dessen »Schwelle« liegenden Maghreb-Staaten und dem »glo­ba­len Süden« schla­gen sich somit im Gefälle der Ran­kings und Indizes nieder. In nahezu der Hälfte der Ranglisten, die international vergleichen, befinden sich alle drei Magh­reb-Staaten auf den Plätzen im mitt­leren Bewer­tungsdrittel. In keiner davon sind alle drei Staaten im unteren Drittel plat­ziert und nur im Global Mili­ta­risation Index (GMI) des Bonn Inter­national Center for Conversion (BICC) und im Pass­port Index der Bera­tungs­firma Arton Capi­tal jeweils im oberen Drittel. Der Ibrahim Index of African Gov­ernance (IIAG) der Mo Ibrahim Foun­da­tion deutet darauf hin, dass der Maghreb im regio­nalen Vergleich auf dem afrikanischen Kon­tinent anders als im internatio­nalen vorn liegt. Im Ranking des IIAG, der die Gov­ern­ance-Performance von 54 afrikanischen Ländern bewertet, nehmen alle drei Magh­reb-Staaten Plätze im oberen Drittel ein.

Im direkten Vergleich der Maghreb-Staa­ten offenbaren sich Länderprofile mit klaren Stärken und Schwächen, wobei Tune­sien insgesamt am besten abschneidet, Marokko im Mittelfeld liegt und Algerien das Schluss­licht bildet.

Demokratischer Spitzenreiter Tunesien

Tunesien belegt in mehr als der Hälfte der untersuchten Rankings und Indizes den ersten Platz unter den drei Maghreb-Staa­ten. Dabei kann das Land besonders in den Be­reichen Staatlichkeit sowie Menschen- und Bürgerrechte glänzen. In Indizes, die das politische System, die Governance-Per­for­mance und die politischen Freiheiten be­wer­ten, schneidet Tune­sien ausnehmend gut ab (siehe Tabelle 1). So auch im BTI, der sich aus den Komponenten »politische Trans­formation«, »wirtschaft­liche Transformation« und »Governance« zusammensetzt. Hier folgen Alge­rien und Marokko weit abge­schlagen. Im Ranking des IIAG liegt Tune­sien auf dem vierten Platz, vor ihm nur die Inselstaaten Mauritius, Kap Verde und die Seychellen. Im CPI steht Tunesiens öffent­licher Sektor ebenfalls relativ solide da.

Dennoch lassen sich aus diesen Bewertun­gen auch Defizite ablesen. Der BTI ord­net Tunesien als »defekte Demokratie« mit einem »eingeschränkten« Wirtschaftsstatus und einer »mäßigen« Governance-Perfor­mance ein. Der von der EIU erhobene De­moc­racy Index bestätigt Ersteres mit seiner Einstufung des Landes als »unvollständige Demokratie«. Trotzdem bleibt Tunesien laut Indi­zes die einzige Demokratie im Maghreb.

Bei den Menschen- und Bürgerrechten sieht es ähnlich aus. Im FWI, der die Kate­go­rien »politische Rechte« und »Bürger­rechte« beinhaltet, ist Tunesien in etwa dop­pelt so gut platziert wie Marokko und Algerien (siehe Tabelle 1). Damit ist Tune­sien Freedom House zufolge nicht nur der einzige Maghreb-Staat, son­dern zudem der einzige arabische und nur einer von fünf afrikanischen Staaten, der sich »frei« nennen darf. Marokko hingegen schätzt der FWI als »teilweise frei« ein (allerdings ohne die West­sahara), Algerien sogar als »nicht frei«. Auch im PFI de­klassiert Tunesien Marokko und Algerien deutlich – und das, obwohl es im Jahr 2010 mit Platz 164 die schlechteste Positionierung eines Maghreb-Staates seit der ersten Erhebung des Indexes (2002) inne­hatte.

Tabelle 1

Demokratie, Freiheiten und Korruption

Index

Tunesien

Marokko

Algerien

Bertelsmann Transformation Index (BTI)

Platz 44 von 137

Platz 94

Platz 83

EIU Democracy Index

Platz 54 von 165

Platz 96

Platz 115

Freedom in the World Index (FWI)

71/100 (»frei«)

37/100 (»teilweise frei«)

32/100 (»nicht frei«)

Corruption Perceptions Index (CPI)

Platz 69 von 180

Platz 86

Platz 104

World Press Freedom Index (PFI)

Platz 73 von 180

Platz 136

Platz 146

Quellen: Bertelsmann Stiftung, BTI 2020; The Economist Intelligence Unit, Democracy Index 2020; Freedom House, FWI 2021; Transparency International, CPI 2020; Reporters sans frontières, PFI 2021.

Desgleichen liegt Tunesien bei der Visum­freiheit und im Bereich der akademischen Freiheiten vorn. Laut Henley & Partners können Tunesierinnen und Tunesier in 72 Länder visumfrei einreisen. Im Pass­port Index von Arton Capital erreicht Tune­sien die beste Platzierung im Maghreb. Im Aca­demic Freedom Index (AFi) des Berliner Think-Tanks Global Public Policy Institute (GPPi) schneidet es besonders gut ab und gehört als einziger Maghreb-Staat zur ersten von fünf Bewertungsgruppen. Dies spiegelt sich in seiner Spitzenstellung im Global Knowledge Index (GKI) des UNDP wider. Den Digital Quality of Life Index (DQL Index) führt Tunesien im Maghreb ebenfalls an.

In puncto Sicherheit und Konfliktpoten­tial sieht es dagegen anders aus. Im GMI und im Fra­gile States Index (FSI) nimmt Tune­sien den dritten Platz unter den Magh­reb-Staaten ein, was sich allerdings zu seinen Gunsten aus­legen lässt – Tunesien ist dem­nach am wenigsten fragil und mili­tarisiert. Im Global Terror­ism Index (GTI) liegt es vor Algerien und Marokko. Mit die­ser Bewertung kann es sich jedoch keines­wegs rüh­men: Der Index zählt Vorfälle, Todes­opfer, Verletzte und Sachschäden, um die »Aus­wirkungen von Terrorismus« zu messen, und stellt Tunesien ein weitaus schlechteres Zeug­nis aus als seinen Index-Riva­len. Auch in der Politi­cal Terror Scale (PTS) und im Global Peace In­dex (GPI), der die Dimensionen »innere und inter­natio­nale Konflikte«, »Sicher­heit« und »Mili­tari­sierung« zusammenfasst, wird Tunesien schwächer bewertet als Marokko.

Doch die eklatantesten Defizite Tunesiens zeigen sich in der Wirtschaftsdomäne: Hier muss der freiheitliche Vorzeigekandidat Marokko das Feld überlassen.

Wirtschaftschampion Marokko

In der Gesamtplatzierung ist Marokko Tune­sien dicht auf den Fersen. Das Land erreicht immerhin in 14 der 35 Rankings und In­di­zes den ersten Platz innerhalb des Magh­reb. Bei den Wirtschaftsindizes wird das König­reich deutlich höher eingestuft als Tune­sien und Algerien. Im prominenten Ease of Doing Business Index der Weltbank liegt Marokko auf Platz 53 von 190 Ländern und deklassiert Tunesien um 25 und Algerien um 104 Plätze.

Die gute Bewertung der marokkanischen Geschäftsfreundlichkeit und Unternehmens­regulierung geht vor allem zurück auf die Indikatoren »Erwerb einer Baugenehmigung« (Platz 16), »Steuern« (24) und »Zugang zu Elektrizität« (34). Marokkos Wettbewerbs­fähigkeit unterstreicht ferner der Global Competitiveness Index (GCI) des Weltwirtschaftsforums, in dem Marokko 12 Ränge vor Tunesien und 14 vor Algerien liegt (siehe Tabelle 2). Auch bei der Offenheit und Transparenz im Haushaltswesen, der wirtschaftlichen Frei­heit und der Konnektivität übernimmt Marok­ko klar die Führung: Im Open Budget Index (OBI) befindet sich das Land mit Platz 62 ganze 20 Plätze vor Tune­sien und 50 vor Algerien. Im Index of Eco­nomic Freedom der Heritage Foundation und im Global Soft Power Index der Unter­nehmensberatung Brand Finance sind die Vorsprünge sogar noch etwas größer. Im KOF Globalisierungsindex der ETH Zürich, der sich zu einem Drittel aus der Komponente »wirtschaftliche Globalisierung« errech­net, schneidet Marok­ko ebenfalls am besten ab.

Tabelle 2

Wirtschaft und Klimaschutz

Index

Tunesien

Marokko

Algerien

Ease of Doing Business Index

Platz 78

Platz 53 von 190

Platz 157

Global Competitiveness Index (GCI)

Platz 87

Platz 75 von 141

Platz 89

Index of Economic Freedom

Platz 119

Platz 81 von 178

Platz 162

Climate Change Performance Index (CCPI)

n. a.

Platz 7 von 57

Platz 43

Quellen: Weltbank, Ease of Doing Business Index 2020; Weltwirtschaftsforum, GCI 2019; Heritage Foundation, Index of Economic Freedom 2021; Germanwatch, CCPI 2021.

Überdies kann sich Marokko im Bereich der ökologischen Nach­haltigkeit von Tune­sien und Algerien abheben. Im Ranking des Climate Change Performance Index (CCPI) belegt Marokko den siebten Platz von 57 bewerteten Ländern – und liegt damit de facto auf Platz vier, da die deutsche Umwelt­organisation Germanwatch die ersten drei Plätze des CCPI-Rankings demonst­rativ unbesetzt lässt. Das von Erdöl und Erdgas abhängige Alge­rien findet sich dagegen am unteren Ende der Rangliste auf Platz 43 wieder. Auch im Global Green Economy Index (GGEI) der Beratungsfirma Dual Citizen steht Marokko mit Platz 59 von 130 nicht schlecht da.

Deutlich weniger gut bewertet wird das Land allerdings im renommierten Environ­mental Performance Index (EPI) der Yale University, der die ökologische Leis­tungs­bilanz von Staaten und Unternehmen be­trach­tet. Im EPI findet sich Marokko auf Platz 100 von 180 hinter Tunesien (Platz 71) und sogar Algerien (84). Hauptgrund hier­für ist, dass der Index sich ebenso auf die entwicklungsnahe Kategorie »Umweltgesund­heit« bezieht, in der Algerien auf Platz 61 und im Maghreb an erster Stelle steht. Und obwohl Marokko die Wirtschaftsindizes im Maghreb anführt, gibt der BTI zumin­dest einen Hinweis darauf, dass die wirt­schaft­liche Spitzenposition des Königreichs nicht in Stein gemeißelt ist: In der Kompo­nente »wirtschaftliche Transformation« erhält Marokko von der Bertelsmann Stif­tung die Bewertung »eingeschränkt« und landet 17 Plätze hinter Tunesien auf Platz 62.

Schlusslicht Algerien

In der Gesamtübersicht der Rankings und Indizes bildet Algerien mit Abstand das Schlusslicht im Maghreb; in lediglich drei der 35 untersuchten ist das flächenmäßig größte Magh­reb-Land vor Tunesien und Marokko platziert, nämlich im GMI, im Human Capital Index (HCI) und im HDI. Hervor­zuheben sind dabei insbesondere Algeriens gute Bewertungen im HCI, der seit 2018 von der Weltbank veröffentlicht wird und beurteilt, inwiefern Länder in der Lage sind, das wirt­schaftliche Potential ihrer Bürgerinnen und Bürger auszuschöpfen, und im HDI des UNDP. Mit Platz 98 von 174 Ländern ist Algeriens Performance im HCI zwar nicht gerade stark, doch liegt das Land vor den beiden anderen Maghreb-Staa­ten und kann sich vor allem in den Bildungs-Komponenten her­vortun: Algerie­rinnen und Algerier gehen im Schnitt mehr als ein Jahr länger zur Schule als ihre Alters­genos­sen in Tunesien und Marokko.

Tabelle 3

Entwicklung und Militarisierung

Index

Tunesien

Marokko

Algerien

Human Development Index (HDI)

Platz 95

Platz 121

Platz 91 von 189

Human Capital Index (HCI)

Platz 102

Platz 110

Platz 98 von 174

Global Militarisation Index (GMI)

Platz 47

Platz 23

Platz 15 von 151

Quellen: UNDP, HDI 2020; Weltbank, HCI 2020; Bonn International Center for Conversion, GMI 2019.

Wirklich beachtenswert ist Algeriens Einstufung im HDI (siehe Tabelle 3), in dem das Land sogar den dritten Platz in Afrika belegt (nach Mauritius und den Seychellen). Der Index errechnet sich seit 2010 aus den Indikatoren »Lebenserwartung bei Geburt«, »durchschnittliche« und »voraussichtliche Schulbesuchsdauer« sowie »Bruttonationaleinkommen (BNE) pro Einwohner«. Alge­rien erreicht bessere Werte in nahezu allen Ein­zel­indikatoren, triumphiert aber am meis­ten beim BNE pro Kopf. Dies fällt be­sonders ins Gewicht, da der Cost of Living Index Algerien günstigere Lebenshaltungskosten als Marokko attestiert, das laut Numbeo die höchsten im Maghreb zu verzeichnen hat.

Von Algeriens Erfolgen in den Entwicklungsindizes profitieren Algerierinnen jedoch nicht im gleichen Maße wie Alge­rier. Das Land weist in den zwei Gender-Indizes des UNDP erhebliche Defizite in der Ge­schlechterparität auf. Im Gender Devel­op­ment Index (GDI) erhält das Land die schlecht­möglichste Bewertung und im Gender Inequality Index (GII) liegt es auf Platz 103 von 162. Allerdings stehen Tune­sien und vor allem Marokko in den Gender-Indizes ebenfalls nicht sonderlich gut da.

Algeriens Teilerfolge in Entwicklungs­indizes sollten daher nicht darüber hinwegtäuschen, dass das Land im maghrebinischen Vergleich in mehr als zwei Dritteln der Rankings und Indizes den letzten Platz ein­nimmt. Großer Aufholbedarf lässt sich anhand der Indexbefunde in den Fel­dern identifizieren, in denen sich Tunesien und Marokko am stärksten profilieren konn­ten: Staatlichkeit, Menschen- und Bürgerrechte, Wirt­schaft und technologische Entwicklung. Im DQL Index belegt Algerien den drit­ten Platz unter den Maghreb-Staaten und den vorletzten von 85 begutachteten Län­dern. Ähnliches gilt im Übrigen für den EF English Proficiency Index.

Schließlich entpuppt sich Algerien im Hinblick auf den Bereich Sicherheit und Kon­flikt­potential als Sorgenkind. Laut FSI ist es das fragilste (Platz 71 von 178), laut GPI das am wenigsten friedfertige (117 von 163) und dem GMI zufolge das mit Abstand am meisten militarisierte Land im Maghreb (siehe Tabelle 3).

Die Kehrseiten: Rankings und Indizes im Plausibilitätscheck

Auf den ersten Blick ergeben die Rankings und Indizes ein Profil der einzelnen Magh­reb-Staaten sowie ihrer Aufstellung im inter­nationalen und regionalen Vergleich, das im Wesentlichen plausibel sowie kon­sistent mit qualitativen Einschätzungen zu sein scheint. Bei genauerer Betrachtung indes zeigen sich die Kehrseiten: Sie reichen von der Frage, wie über­einstimmend Rankings und Indizes unter­ein­ander sind und wie konsistent mit den Ergeb­nissen der qualita­tiven Forschung, über methodische Fragen bis hin zu ihrer poten­tiellen Nut­zung und gene­rellen Aussagekraft.

Methodische Fragezeichen

Vergleicht man verschiedene Indizes und Rankings, die ähnliche Erkenntnisinteressen haben, ergeben sich zahlreiche Fragen zu ihrem Design. Beispiel: Thema Entwicklung. Im HDI führt Algerien im Maghreb, was durch die Indikatoren »Gesundheits­versorgung« und »Bildungsdauer« zu erklä­ren ist sowie durch Algeriens Rentierstaat, der auf Erdöl- und Erdgasreichtum basiert. Der HDI spiegelt die Ent­wicklungsrealität vor Ort jedoch kaum getreu wider – und insbesondere nicht die Chancen, die im Zeit­alter der globalen Vernetzung und Digi­ta­lisierung nicht nur mit klassischer Schul­bildung, sondern mit Faktoren wie etwa Eng­lischkenntnissen und Zugang zu schnel­lem Internet zusammenhängen. In diesen Berei­chen haben Marokko und vor allem Tune­sien in Rankings die Nase vorn. Denn ob­wohl Algerien im HDI am besten plat­ziert ist, schneidet Tunesien in fünf (und Ma­rok­ko in vier) anderen für Entwicklungsthemen aussagekräftigen Indizes deutlich besser ab: Neben den beiden Gender-Indizes des UNDP (mit Ausnahme Marokkos im GII) gilt dies für den Global Hunger Index (GHI), den Global Knowledge Index (GKI) und den DQL Index.

Noch eklatantere Widersprüche zeigen sich zwischen unterschiedlichen Rankings zu politischen Freiheiten und der Einordnung politischer Systeme. So stuft der BTI in seiner Komponente »politische Transformation«, die den Demokratiestatus eines Landes zu bestimmen versucht, Alge­rien als »gemäßigte Autokratie« erheblich besser ein als die »harte Autokratie« Marokko. Der Democracy Index der EIU dagegen taxiert Marokko als »hybrides Regime«, Alge­rien als »autoritäres Regime«. Auch der FWI schätzt Marokko (»teilweise frei«) als viel »freier« ein als Algerien (»nicht frei«). Eine nahe­liegende Erklärung für diese Divergenz wäre, dass den Diagnosen unterschiedliche Demo­kra­tie­verständnisse zugrunde liegen. Doch so­wohl die Bertelsmann Stiftung als auch die EIU berufen sich auf fünf Kriterien, die weitest­gehend kongruent sind.

Daraus lässt sich schließen, dass selbst geringe Abweichungen in einzelnen Krite­rien, ihrer jeweiligen Operationalisierung, Normierung und Gewichtung zu fundamental unterschiedlichen bzw. sogar zu kon­trären Einstufungen führen können. Die Konsequenz daraus lautet: Europäische und andere externe Kooperationspartner der Maghreb-Staaten entscheiden mit der Wahl des Indexes letztlich darüber, wie sie einen Staat beurteilen. Mit Blick auf kon­krete Kooperationen, ob politökonomischer oder entwicklungs­politischer Natur, macht es durchaus einen Unterschied, ob ein Staat als »autoritäres Regime« oder als »gemäßigte Autokratie« (Beispiel Algerien) gilt. Hin­sicht­lich Marokkos ist die Spannbreite beson­ders groß und Kooperationspartner können zwischen »hybrides Regime« und »harte Autokratie« wählen – und auf Grundlage dessen entsprechende Politiken entwickeln, Entscheidungen treffen und diese wunschgemäß begründen. Dies illust­riert die Ge­fah­ren der quantitativen Instru­mente: Sie insinuieren ein umfassendes, objektives, messbares und akkurates Bild. Dabei wird vergessen, dass die Sub­jektivität der Ran­kings schon bei denjenigen beginnt, die sie designen und bereits mit der Zusam­men­setzung der Indizes Urteile fällen.

Werden Kennzahlen zusätzlich noch selek­tiv genutzt bzw. instrumentalisiert, folgen daraus häufig vereinfachte und ver­zerrte Bilder einer deutlich komplexeren Realität – und im schlechtesten Fall Poli­ti­ken, die auf fal­schen Annahmen basie­ren. Die Tatsache etwa, dass im vergangenen Jahrzehnt neben Tunesien auch Marokko ein »Darling« internationaler Geber und Inves­toren gewesen ist und wenig Kritik erfahren hat, dürfte nicht zuletzt an seinen Ver­besserungen in Rankings liegen. Dies birgt die Gefahr, dass Regierungen Refor­men eher darauf ausrichten, ihren Index­wert zu optimieren, als ihre tatsächliche Performance zu steigern. Vergleiche über längere Zeit sind zudem mit Vorsicht zu genießen, da Verbesserungen in Rankings nicht zwangsläufig auf Fortschritte im untersuchten Land zurückzuführen sind. Vielmehr können sie auch schlicht auf Verschlechterungen in anderen Ländern hinweisen – und umgekehrt.

Hinzu kommt, dass die Datenerhebung gerade in autoritären Staaten schwierig ist. Und schließlich liegen einigen Indizes ver­altete Datensätze oder Schätzungen zu­grunde, etwa dem Multidimensional Pov­erty Index (MPI) und dem Gender Social Norms Index (GSNI) des UNDP.

Sterile Bilder und blinde Flecken

Der Abgleich mit der qualitativen Literatur weist überdies auf problematische Leer­stellen in Rankings hin. So verschleiern Indizes zu politischen Freiheiten die Natur von Systemen. An den Beispielen Marokko und Algerien zeigt sich die Schwierigkeit, zwei Länder mit so unterschiedlichen poli­tischen Systemen gegeneinander zu gewich­ten und auf ein und derselben Skala zu ver­orten. Im einen Fall regiert ein Monarch mit harter Hand und in der Verfassung ver­ankerten nahezu absoluten Entscheidungsbefugnissen. Im anderen Fall handelt es sich um ein hoch undurchsichtiges System, in dem konkurrierende Schlüsselakteure, die vorwiegend dem Militär angehören, mittels Klientelnetzwerken willkürlich aus dem Hintergrund regieren.

Für politische Aktivistinnen und Aktivisten sind beide Systeme gleichermaßen prob­lematisch. Das algerische möglicherweise in höherem Maße, da der Zugang von inter­nationalen Menschenrechtsorganisatio­nen nicht gesichert ist und folglich Infor­ma­tions­defizite entstehen, etwa zu Folter. Dar­über, welches System nun die Kategorisierung »autoritär« verdient, lässt sich also streiten. Für die maghrebinischen Regierungen indes sind solche Bewertungen von großer Bedeutung, weil sie erhebliche Fol­gen haben mit Blick auf inter­nationale Ko­operationen und Abkommen. In den bereits genannten Analysen und Berichten, die der Bundes­regierung und der EU-Kommission als Entscheidungsgrundlage dienen, wird dies nicht problematisiert.

Die Vergleichbarkeit von strukturell sehr unterschiedlichen Volks­wirtschaften ist eben­falls nur sehr bedingt gegeben. Eine Rentierwirtschaft wie Algerien kann man kaum sinn­voll mit diversifizierten Volkswirtschaften wie Tune­sien oder Marokko vergleichen. Marokkos Wirtschaft wird stark durch das Königshaus reguliert bzw. domi­niert und mag für aus­ländische Inves­toren attraktiv sein, allen voran aus Europa. Der übrige heimische Privat­sektor hingegen lei­det nicht nur unter dem Wirtschafts­mono­pol der Königsfamilie, sondern ebenso unter der Korruption in der öffentlichen Verwal­tung. Marokkos gutes Abschneiden im Ease of Doing Business In­dex ist damit aus loka­ler Perspektive durch­aus fragwürdig. Dies unterstreicht der Ab­gleich mit anderen Wirtschaftsindizes: In der BTI-Komponente »wirtschaftliche Trans­forma­tion«, die anders als der Weltbank-Index auch Kriterien wie sozialen Ausgleich, Chan­cengleichheit und Nachhaltigkeit be­inhaltet, bleibt Marokko weit hinter Tune­sien zurück.

Zieht man allein Rankings heran, läuft man Gefahr, ein steriles Bild der einzelnen Maghreb-Staaten zu erhalten, da zahlreiche profunde Probleme der Systeme quantitativ nicht oder nur schwer erfassbar sind. Infor­malität und politische Parallelstrukturen (»Deep State«) etwa werden in den einzelnen Indikatoren, die den Indizes zugrunde liegen, nicht berücksichtigt. Dergleichen können quantitative Erfassungen letztlich auch nicht (gewähr)leisten. Selbst wenn der CPI einen Versuch in diese Richtung unter­nimmt, handelt es sich bei den Kennzahlen um zum Teil von Wirtschaftseliten wahr­genommene und nicht um tatsächliche Korruption. Ferner sagen die Zahlen wenig aus über die Qualität der Korruption und ihre Strukturen. Folglich kann auf der Basis der Rankings und Indizes, wenn überhaupt, nur bedingt ermittelt werden, welche Refor­men angebracht wären. Gleiches lässt sich mit Blick auf den GMI festhalten. Er misst die Militarisierung eines Landes, sagt aber noch nichts über ihre intendierte Nutzung und ebenso wenig über das Verhältnis zwi­schen Militär und Politik aus: Militarisiert sich ein Land, weil der Monarch es so will, wie in Marokko, oder agiert das Militär längst autark von der Politik oder kontrolliert sie sogar, wie in Algerien? Über Akteure kann insgesamt anhand von Indizes kaum eine Aussage getroffen werden, da sie sich wegen ihrer qualitativen Natur quantitativen Analysen weitestgehend entziehen.

Nicht minder problematisch ist, dass lokale Unterschiede verloren gehen. Blinde Flecken ergeben sich bei der Betrach­tung innerstaatlicher Armuts- und Arbeitslosigkeitsgefälle, etwa in Marokko zwischen den Wirtschaftszentren Casablanca und Rabat und der strukturschwachen Rif-Region, oder in Tunesien zwischen der wohlhabenden Vorstadt von Tunis, La Marsa, und ab­gehängten Landesteilen wie Tataouine und Jendouba. Dabei stellt sich die Frage, ob es insbesondere hinsichtlich der Identifizierung von Reformbedarf nicht gewinnbringender wäre, detaillierte Daten zu einzelnen Landesteilen und Akteuren zu erheben, etwa zur Performance von Parteien, Minis­terien und politischen Ämtern wie Staats­oberhäuptern – anstatt ganze Länder über einen Kamm zu scheren.

Darüber hinaus bleibt außer beim CPI bei so gut wie allen Einstufungen unklar, ob die Bürgerinnen und Bürger ihr Land ähnlich taxieren. Laut Umfragen von 2020 genießen die auto­ritären Regime Marokkos und Algeriens weit mehr Ver­trauen als die demo­kratisch gewählte Regierung Tunesiens.

Mehrwert und Empfehlungen

Die am Beispiel der Maghreb-Staaten auf­gezeigten Widersprüche und Unstimmigkeiten in Rankings und Indizes veranschaulichen, dass sie ein ambivalentes Instrument sind; werden sie un­reflektiert genutzt, kann das folgenschwere Entscheidungen über Kooperationen sowie problematische Evalu­ie­rungen von Prozessen nach sich ziehen. Gleich­zeitig können Rankings und Indizes dazu beitragen, Reformbedarf zu erkennen und Missstände zu beheben; sowohl die Maghreb-Staaten selbst als auch externe Ko­operationspartner, allen voran die EU und ihre Mitgliedstaaten, können davon profi­tieren. Umso wich­tiger ist es, dass die Bun­des­regierung und die EU-Kommission sich der Schwächen von Rankings und Indizes bewusst sind, wenn sie sich ihrer bedienen – ansonsten besteht das Risiko dessen, was Alexander Cooley und Jack Snyder »dumb down global governance« genannt haben, sprich, dass komplexe Sachverhalte grob vereinfacht und unzulängliche Politiken entwickelt werden.

Um dies zu verhindern, sollten folgende Punkte berücksichtigt werden: Nur durch die ganzheitliche und umsichtige Betrachtung unterschiedlicher Rankings und In­di­zes – inklusive ihrer Widersprüche – gibt es die Chance, ein umfassendes Bild zu er­halten. Doch selbst wenn man sie auf diese Weise nutzt, ersetzt das keineswegs pro­funde Kenntnisse des jeweiligen lokalen Kon­textes. Einzig wenn Letztere eingebunden werden, sind Leerstellen und Verzerrungen in Rankings und Indizes erkennbar, lassen sich fal­sche Kausal­schlüsse vermei­den und die Ur­sachen von Missständen identifizieren.

Auch muss hinterfragt werden, inwieweit Staaten vergleichbar sind, die funda­mental unterschiedliche Voraussetzungen aufweisen. Um Schlüsse über die Aussagekraft von Ran­kings und Indizes zu ziehen, muss zudem ihre Genese und Zusammen­setzung mitbedacht werden. Dazu zäh­len die ausgewählten Kriterien, ihre Opera­tio­nalisierung und Gewichtung, die Quellen der Daten und die Art ihrer Erhebung. Nicht zuletzt lohnt sich ein Blick auf die Finanzierung, die Interessen und die Welt­anschau­ung der messenden Institutionen.

Aljoscha Albrecht ist Forschungsassistent in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten.
Dr. Isabelle Werenfels ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Afrika und Mittlerer Osten.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2021

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