Die europäischen Aufnahmeländer türkischer Migranten und Migrantinnen reagieren verstört auf die Diasporapolitik der türkischen Regierung, in einer Zeit, da Ankara in Europa ohnehin nur wenig Vertrauen genießt. Gründe für Letzteres sind die zunehmend autoritäre türkische Innenpolitik, die Durchdringung des öffentlichen Lebens mit islamischen Normen und unterschiedliche bis gegensätzliche Positionierungen der Türkei und der EU in der Außen- und Sicherheitspolitik. Hinzu kommt nun die Sorge, dass ein verstärkter Einfluss Ankaras die Loyalität der türkischen Migranten und ihres Nachwuchses zu den Aufnahmestaaten untergräbt. Angesichts einer generellen Skepsis in Europa gegenüber Migration und dem Islam droht eine ungute Gleichsetzung der berechtigten Forderungen von Migranten mit den Ambitionen der türkischen Regierung. Dabei sind die Möglichkeiten Ankaras, die türkische Diaspora als Ganzes zu lenken, relativ begrenzt. Trotzdem tun die Regierungen der europäischen Aufnahmeländer gut daran, auch weiterhin auf die Unabhängigkeit von Moscheegemeinden und anderer Einwandererorganisationen von der Türkei zu pochen und so das Kräftegleichgewicht in der Diaspora aufrechtzuerhalten.
Seit den 2010er Jahren nutzt die regierende Gerechtigkeits- und Entwicklungspartei (AKP) die Diasporapolitik dazu, ihre innenpolitische Stellung zu stärken und den außenpolitischen Einfluss der Türkei auf globaler Ebene auszubauen. Sie hat ihre diesbezüglichen staatlichen und halbstaatlichen Aktivitäten intensiviert, pflegt einen identitären Diskurs und verstärkt die Polarisierung zwischen der Diaspora und den Gesellschaften der Aufnahmeländer. Der nur knappe Sieg der AKP und ihres Vorsitzenden Recep Tayyip Erdoğan bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen im Mai 2023 und der Erfolg der Opposition bei den Kommunalwahlen im März 2024 ist für die AKP Antrieb, die ohnehin fast unbeschränkte Macht des Präsidenten noch weiter auszubauen und die ideologische Formierung der Bevölkerung weiter zu treiben. Am deutlichsten wird dies in dem unablässigen Drängen der Regierung darauf, dem Land eine neue Verfassung zu geben.
Es ist deshalb damit zu rechnen, dass Ankara seine Aktivitäten in der Diaspora verstärken und die Sorge türkischer Migranten über eine wachsende Diskriminierung und Ablehnung des Islam aufnehmen und gegen die Gesellschaften der Aufnahmeländer richten wird. Im Zentrum dieser Strategie steht die Verankerung einer sittenstrengen, konservativen Moral und traditioneller Geschlechterrollen. Flankiert wird diese Politik von der Behauptung, dass sich fromme türkische und säkulare europäische Identität nicht miteinander vereinbaren lassen. Zu rechnen ist auch mit einer noch engmaschigeren Verfolgung oppositioneller Kräfte in Europa, die der politischen, kulturellen und religiösen Zersetzung der Diaspora beschuldigt wird.
Anhaltende Unterstützung der Wähler in der Diaspora für Präsident Erdoğan und die AKP
Im Unterschied zu anderen türkischen Parteien war sich die AKP früh darüber im Klaren, dass die Stimmen aus der Diaspora die Wahlergebnisse zu ihren Gunsten beeinflussen würden. 2008 und 2012 nahmen AKP-Regierungen die immer wieder geäußerte Forderung der Auslandstürken auf, sich im Land ihres Aufenthalts an den türkischen Wahlen beteiligen zu können. Denn zuvor, ab 1987, als türkische Staatsbürger im Ausland erstmals an Wahlen teilnehmen durften, mussten sie dafür in die Türkei reisen und konnten nur an den Zollstationen wählen.
Die seit der Wahl von 2014 bestehende Möglichkeit, seine Stimme im Land des Aufenthalts abzugeben, hat denn auch die früher notorisch niedrige Wahlbeteiligung der Auslandstürken von 8,37 Prozent auf 52,04 Prozent in Jahr 2023 erhöht. (Die Zahl steht für die zweite Runde der Präsidentschaftswahl, an der ersten Runde beteiligten sich 49,5 %.) Nicht zufällig war es in den letzten zehn Jahren die AKP, die sich besonders um die Mobilisierung von Wählern in der Diaspora bemühte. Als Regierungspartei standen ihr dafür staatliche Ressourcen reichlich zur Verfügung. Die Konsulate der Türkei spielten bei der Ansprache der potentiellen Wähler und der Erhöhung der Wahlbeteiligung eine zentrale Rolle.
Aus den Präsidentschaftswahlen vom 28. Mai 2023 ging Staatspräsident Erdoğan mit 52,18 Prozent als Sieger hervor. Die Wahlbeteiligung lag insgesamt bei beeindruckenden 84,15 Prozent. Auch bei dieser Wahl setzte sich in der türkischen Diaspora weltweit der seit 2014 zu beobachtende Trend fort: Bei den türkischen Wählern außerhalb der Türkei konnte Erdoğan bei einer niedrigeren Wahlbeteiligung von 52,04 Prozent verhältnismäßig mehr Stimmen – nämlich 59,71 Prozent – auf sich vereinigen. In Deutschland, den Niederlanden, Belgien, Österreich und Frankreich lag Erdoğans Erfolg noch über dem Durchschnitt der türkischen Diaspora weltweit (Tabelle 1).
Ergebnisse der Präsidentschaftswahlen vom 28. Mai 2021 in einzelnen europäischen Ländern
* Inklusive Diaspora. Zusammengestellt von den Autoren auf Basis der Angaben auf der Website der regierungsnahen Tageszeitung Yeni Safak. |
Anders als in der westeuropäischen Diaspora war der Präsidentschaftskandidat der Opposition Kemal Kılıçdaroğlu in den USA mit 82,67 Prozent der Stimmen erfolgreich. Dort prägen Studenten sowie mittlere und höhere Angestellte die Community der Auslandstürken. Auch in der Schweiz lag Kılıçdaroğlu mit 57,04 Prozent vorne und profitierte offenbar von den Stimmen der dort vorherrschenden kurdischen Gemeinschaft. So geben die Wahlergebnisse auch Auskunft über die Zusammensetzung der türkischen Diaspora in verschiedenen Ländern der Welt.
Ergebnisse der Parlamentswahlen vom 28. Mai 2021 in einzelnen europäischen Ländern
Zusammengestellt von den Autoren auf Basis der Angaben auf der Website der regierungsnahen Tageszeitung Yeni Safak. |
Die variierenden Muster türkischer Migration und die damit eng verknüpfte unterschiedliche Komposition der jeweiligen türkischen Diaspora und ihrer politischen Orientierung treten auch in den Ergebnissen der jüngsten Parlamentswahlen hervor. So erreichte die Republikanische Volkspartei (CHP) als Oppositionsführerin in den USA einen Anteil von 60,2 Prozent der Stimmen, während sich die AKP dort mit einem Anteil von 13,1 Prozent zufriedengeben musste. In der Schweiz kam die AKP nur auf 25,1 Prozent. Zweiter wurde dort die kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP), die – eines drohenden Parteiverbots wegen – unter dem Banner Grüne-Links-Partei antreten musste. Ganz anders ist das Bild in den traditionellen Aufnahmeländern türkischer Arbeitsmigration in Westeuropa. Hier erhielt die AKP deutlich mehr Stimmen als die restlichen Parteien (Tabelle 2).
Die Bedeutung der Stimmen aus der Diaspora für die machtpolitische Konsolidierung der AKP
Bei den vorangegangenen Urnengängen hatte die Unterstützung der Diaspora in bemerkenswertem Maße dazu beigetragen, dass Erdoğan seine Macht konsolidieren konnte. So machten beim Verfassungsreferendum über die Einführung eines Präsidialsystems 2017 die 256.000 Ja-Stimmen der Diaspora 19 Prozent der 1,37 Millionen Stimmen aus, die den Ausschlag für die Annahme der Verfassungsänderung im Sinne Erdoğans gaben.
Bei den Präsidentschaftswahlen von 2018 kam Erdoğan in der Türkei auf 50,8 Prozent der Stimmen. Nur die 894.585 Stimmen aus der türkischen Diaspora ermöglichten es ihm damals, mit 52,59 Prozent einen klaren Sieg zu erringen.
Konservative Moral und traditionelle Geschlechterrollen: die Betonung der Differenz zur Mehrheitsgesellschaft
Jahre der Mobilisierung durch die AKP haben zur Entstehung eines harten Kerns begeisterter Parteigänger in der Diaspora geführt. Nach dem Sieg Erdoğans in der Stichwahl für das Staatspräsidentenamt 2023 kam es in einigen deutschen Städten zu raumgreifenden Demonstrationen seiner Anhänger. Die Vorfälle zeigten – nach Ansicht kritischer Stimmen aus der Mehrheitsgesellschaft – dass sich ein großer Teil der türkischen Einwanderer und ihres Nachwuchses eher einem fremden Staat als Deutschland zugehörig fühle. Angesichts der türkischen Diasporapolitik der letzten zwei Jahrzehnte, die immer wieder eine ganz eigene Identität der Türken betont und eine polarisierende und oft auch reißerische Rhetorik verwendet, ist diese Sorge zumindest teilweise verständlich. Schließlich hat Erdoğan 2008 in Köln Assimilation als »Menschheitsverbrechen» bezeichnet und seine Landsleute und ihre im Ausland geborenen Kinder aufgerufen, an ihrer Religion und Sprache festzuhalten, als Zeichen ihrer Zugehörigkeit zum türkischen Heimatland.
Teil dieses Narrativs ist die Behauptung, dass sich die Türken (und Muslime) der Diaspora mit ihren Werten, ihrer Moral, ihrer Identität, ihrer Kultur und damit ihrem Wesen nach in unüberbrückbarer Weise von der Mehrheitsgesellschaft unterscheiden. Im Einklang damit stellt die AKP sich selbst und ihren Vorsitzenden als die Repräsentanten und Beschützer eines »post-kolonialen neuen (politischen) Subjekts« dar, das seinerseits durch die Schaffung einer »neuen Türkei« hervorgebracht worden ist. Letzteren Begriff hat Erdoğan im Vorfeld der Präsidentschaftswahl von 2014 selbst geprägt. Es geht um die Formierung einer neuen Nation, die ihre Stärke aus authentischen Werten und eigenen, unverfälschten Überzeugungen bezieht, nach Unabhängigkeit (vom Westen) strebt und selbstbewusst in die Zukunft blickt. Symbolisiert wird die Geburt der neue Türkei durch die Aufhebung des früher geltenden Kopftuch-Verbots durch die AKP. Die Reform steht modellhaft für die politische Ermächtigung der konservativen Frau und der ehemals politisch an den Rand gedrängten frommen Bevölkerung.
Vertreter der türkischen Regierung vergleichen gern die von ihnen behauptete Widerstandskraft eines aufrechten und integren muslimischen Volkes mit der »westlichen Schwäche«, die Produkt eines weit verbreiteten Nihilismus sei. Die tatsächliche politische Stabilität und der wirtschaftliche Wohlstand des Westen bleiben dabei außen vor. Beispielhaft für eine solche Einschätzung sind die Ausführungen des heutigen Geheimdienstchefs und früheren Sprechers des Präsidentenamts Ibrahim Kalın auf dem World Forum 2018, einer vom türkischen Staatsfernsehen organisierten Diskussionsveranstaltung. Kalın unterstellte den westlichen Gesellschaften eine tief verwurzelte Zukunftsangst, die sie langfristig weniger resilient mache.
Ein wichtiges Element der AKP-Ideologie ist die Gleichsetzung der eigenen Partei mit der türkischen Nation. In der Diasporapolitik schlägt sich diese Gleichsetzung darin nieder, dass die Auslandstürken umstandslos als fromme Muslime angesprochen und behandelt werden. So wird von den Frauen in der türkischen Diaspora generell erwartet, Hüterin von Frömmigkeit zu sein.
Die darin zum Ausdruck kommende konservative Moral mit der Familie als Kern der Gesellschaft und den dazugehörigen traditionellen Geschlechterrollen gilt als Antidot gegen die vermeintliche Untergrabung der türkischen Identität durch den europäischen Lebensstil. In dieses Horn bläst auch die Diyanet, das staatliche Präsidium für Religiöse Angelegenheiten. Doch nicht nur sie. In den letzten zwei Jahrzehnten hat die AKP-Führung ein Patronagenetzwerk errichtet, in dem alte und neu gegründete Diasporaorganisationen ihren Platz haben. Das Handeln dieser Institutionen ist darauf gerichtet, die türkeistämmigen Gemeinschaften im Ausland nach dem politischen und kulturellen Selbstbild der Regierungspartei zu formen, den Zugriff der Partei auf die Stimmen der Diaspora zu sichern und auf diese Weise dazu beizutragen, die politische Hegemonie der AKP in der Türkei zu sichern.
Eine politisch aktive türkische Diaspora steht im Einklang mit der Weltanschauung der AKP
Doch das Interesse der AKP an der türkischen Diaspora geht weit über deren Rolle für die eigene Machterhaltung hinaus. Die Partei ermuntert die Auslandstürken, sich in ihren Aufenthaltsländern politisch zu betätigen und eigene Parteien zu gründen, die fortan (und anstelle der etablierten Parteien) die Vertretung der Türken und (anderen) Muslime in den nationalen Parlamenten und im Europaparlament übernehmen sollen. Diese neuen Parteien sollen sich insbesondere den Forderungen und Belangen der (konservativen) Türken und Muslime annehmen.
Ein sprechendes Beispiel ist die Partei DENK (auf Türkisch: »gleich« oder »ausgeglichen«) in den Niederlanden. Gegründet haben die Partei zwei türkeistämmige Abgeordnete des niederländischen Parlaments (Zweite Kammer), die vorher von der Partij van de Arbeid (PvdA) ausgeschlossen worden waren. In ihrem Parteiprogramm setzt sich DENK für eine tolerante Gesellschaft und für globale Gerechtigkeit ein, die durch die Reform internationaler Institutionen erreicht werden soll. Die Partei fordert die Einrichtung einer Dokumentationsstelle für rassistische Vorfälle, die Einführung von Islamunterricht im Rahmen des regulären Schulbesuchs, eine Imam-Ausbildung ohne Mitsprache der niederländischen Regierung und die Beschäftigung von Imamen in Krankenhäusern, Gefängnissen und beim Militär. Zurzeit ist DENK mit drei Abgeordneten im niederländischen Parlament vertreten. 2019 gelang es ihr nicht, einen Kandidaten ins Europaparlament zu entsenden. An den EP-Wahlen von 2024 nahm die Partei nicht teil.
Ein weiteres Beispiel ist DAVA (Demokratische Allianz für Vielfalt und Aufbruch). Die von vier türkeistämmigen Bundesbürgern vollzogene Parteigründung erregte großes Aufsehen. Dazu beigetragen hat ihr Name, steht arabisch »Da’wa« doch für die Einladung von Nichtmuslimen zum Islam und wird der Begriff doch auch in der islamistischen Bewegung der Türkei häufig verwendet.
Einer der Parteigründer war bis 2011 Mitglied der SPD, zwei andere waren in der Union Internationaler Demokraten (UID) aktiv, eine Lobby-Organisation der AKP zur Wahlmobilisierung türkischer Migranten. Ganz ähnlich wie für DENK hat auch für DAVA der Kampf gegen Islamophobie Priorität, und die Partei fordert die Anerkennung muslimischer Verbände als Körperschaften des Öffentlichen Rechts. Die Festigung traditioneller Geschlechterrollen ist ein weiteres zentrales Anliegen.
Ausweitung des Einflusses der Türkei auf internationaler Ebene
Das Diaspora-Engagement der AKP-Regierung ist auch Teil ihrer Außenpolitik. So wie sich die Türkei heute in Europa als Anwältin der frommen Türken präsentiert, so stellt sie sich im globalen Rahmen als Unterstützerin der Muslime und darüber hinaus als Schutzpatronin der Entrechteten und Machtlosen dieser Welt dar.
Für die leitenden Kader der AKP gilt, dass die Ermächtigung des konservativen Teils der türkischen Bevölkerung und ihrer frommen Gemeinschaften unter Führung Erdoğans nur das Vorspiel für die Bemühungen der Türkei zur Befreiung und Ermächtigung der Entrechteten auf internationaler Ebene ist. Unvermeidbar nehmen auch in diesem Narrativ Muslime und der Islam einen prominenten Platz ein. In den letzten zehn Jahren pflegte Ankara einen Diskurs, der die Türkei in vier zentralen Punkten auf globaler Ebene als Vorkämpferin für die Rechte der Unterdrückten darstellt. So ist die Türkei eine, wenn nicht die Speerspitze
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bei der Verteidigung von Palästina und der Rechte der Palästinenser;
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beim Kampf gegen Islamophobie (nahezu ausschließlich) in den USA und in Europa;
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bei der Kritik der kolonialen Vergangenheit des Westens. (Hier macht die türkische Regierung sich postkoloniale Narrative zu eigen und stärkt ehemaligen Kolonien bei ihren Beschwerden gegen westliche Staaten den Rücken);
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bei den Forderungen nach einer Reform des internationalen politischen Systems. Hier präsentiert sich die Türkei als ein Akteur, der für mehr Inklusivität und Gleichheit streitet.
All diese Punkte finden Anklang bei türkischen und muslimischen Gemeinschaften in Europa, nehmen sie doch das weit verbreitete Unbehagen dieser Gruppen über Ausgrenzung und Diskriminierung auf. Die Migranten sehen sich in den letzten Jahren in den Aufnahmegesellschaften einer zunehmend stärkeren Betonung einer besonderen europäischen oder jeweils nationalen Zivilisation gegenüber, die es vor Einwanderung zu schützen gelte. Dieser Diskurs schafft einen perfekten Resonanzraum für das identitäre Narrativ der AKP. Einerseits sind die Programme von Parteien wie DENK und DAVA Spiegelbilder der Ideologie der AKP. Doch adressieren sie andererseits reale Ängste der Diaspora vor Diskriminierung und Islamfeindlichkeit. So wirkt die AKP-Rhetorik zumindest auf Teile der Migranten überzeugend. Doch nicht für alle.
Polarisierung innerhalb der türkischen Diaspora
Denn für die AKP und ihre Führungskader gehören nicht alle Teile der Diaspora in gleichem Maße zur türkischen Nation, wie man sie sich in Ankara vorstellt. Konservative Frömmigkeit ist ein Kriterium. Genauso wichtig ist jedoch Loyalität zu Erdoğan und zu seiner Partei.
So wie ihre Bevölkerung war auch die Einwanderung aus der Türkei stets vielfältig: sprachlich, religiös, ethnisch und auch politisch und deshalb nie frei von internen Konflikten. Neu sind die Hegemonie der AKP und der stärkere Impetus der staatlichen Diasporapolitik, welche die Spannungen in den türkeistämmigen Gemeinschaften im Ausland erhöhen. Heute ist selbst das konservative Lager der Diaspora geteilt zwischen Befürwortern und Gegnern Erdoğans. Zu den Letzteren zählen Anhänger der rechtsnationalen Guten Partei (İyiP) und Sympathisanten der liberal-konservativen Parteien Gelecek und DEVA, beides Abspaltungen von der AKP. Im Mai 2023 kam es während der Doppelwahlen zum Parlament und zum Präsidentenamt in der Türkei in Belgien, in den Niederlanden und in Frankreich vereinzelt erstmals zu gewaltsamen Auseinandersetzungen.
Ein weiter Grund für Spannungen in der türkischen Diaspora ist das Verbot des Fethullah-Gülen-Netzwerks in der Türkei nach dem fehlgeschlagenen Putschversuch von 2016 und der Versuch der türkischen Regierung, das Netzwerk auch im Ausland zu zerschlagen.
Grenzüberschreitende Verfolgung
Tatsächlich hat die AKP-Regierung, besonders seitdem sie zu einem offenen Kampf gegen die Gülenisten übergegangen ist, ihre Aktivitäten zur Unterdrückung von politischer Opposition auch außerhalb der Türkei verstärkt. So wurde 2017 bekannt, dass deutsche Behörden Ermittlungen gegen Imame und andere Angehörige der »Türkisch-Islamischen Union der Diyanet« (DITIB), den deutschen Ableger der türkischen Religionsbehörde, aufgenommen hatten. Die Funktionäre wurden beschuldigt, geheimdienstlich relevante Informationen über türkische Staatsangehörige in Deutschland gesammelt und weitergeleitet zu haben, von denen in Ankara angenommen wurde, dass sie Verbindungen zum Gülen-Netzwerk haben. Presseberichten zufolge waren in den Niederlanden, Österreich, der Schweiz und Belgien auch die Religionsattachés von türkischen diplomatischen Vertretungen in dieser Richtung tätig. Im Rahmen ihrer globalen Verfolgung von Gülenisten hat Ankara, so Freedom House in einem ausführlichen Bericht, neben Verhaftungen und der Überwachung von Reisetätigkeit auch Auslieferungen von türkischen Staatsbürgern durchgesetzt, die das jeweilige nationale Recht verletzten (illegal rendition).
Doch Gülenisten sind keineswegs die Einzigen, die sich im Fadenkreuz Ankaras befinden. Seit 2016 richtet die AKP-Regierung die genannten Methoden auch gegen andere Gruppen. So hat sie gegenüber Schweden die Auslieferung von Personen, die sie als Gülenisten oder als Unterstützer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und der syrisch-kurdischen PYD ansieht, zur Bedingung für ihr »Ja« zum Nato-Beitritt des skandinavischen Landes gemacht. Die PKK ist in der EU und den USA als Terrororganisation gelistet, nicht jedoch die mit ihr affiliierten Kurden in Nordsyrien. In seiner Rede vom 16. Januar 2014 hat Außenminister Hakan Fidan, der früher den Nationalen Geheimdienst geleitet hat, bekannt gegeben, dass die Türkei Maßnahmen ergriffen habe, um die Finanzquellen der PKK auszutrocknen, die der Organisation von »Anti-Türkei-Kreisen« gewährt würden. Ende März 2024 ist es in Belgien nach langer Zeit wieder zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Türken und Kurden gekommen.
Ausblick
In Anbetracht der politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse in der Türkei ist es sehr wahrscheinlich, dass Ankara in den kommenden Jahren damit fortfahren wird,
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die Sorgen und Nöte besonders von muslimischen Migranten und ihren Nachkommen für seine Politik auszunutzen,
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gegebene Unterschiede zwischen der Diaspora und der Mehrheitsgesellschaft als unüberbrückbar darzustellen,
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die Polarisierung innerhalb der türkischen Diaspora voranzutreiben und
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der türkischen Opposition auch außerhalb der Türkei nachzustellen.
Die Selbstinszenierung der türkischen Regierung als stete Verteidigerin der Muslime und des Islam steht im Einklang mit der von der AKP betriebenen Politik einer umfassenden Islamisierung des Alltagslebens, was sich besonders in der Familien- und Bildungspolitik niederschlägt. Die Bruchlinien innerhalb der türkischen Diaspora werden ebenfalls nicht verschwinden. Dagegen spricht schon die anhaltende Zuwanderung aus der Türkei. Schließlich war 2023 das Jahr mit der bislang höchsten Zahl von Asylanträgen türkischer Staatsbürger in der EU.
Doch einiges deutet darauf hin, dass die Zustimmung zur AKP und ihrer Führung innerhalb der türkeistämmigen Gemeinschaften einen Scheitelpunkt erreicht hat. So ist zwar seit 2014 die Wahlbeteiligung in der Diaspora stetig gestiegen, doch die Zuwachsraten flachen ab. Die jüngste Steigerung von 50,1 Prozent im Jahr 2018 auf 52,04 Prozent im Jahr 2023 ist wohl größtenteils auf die stärkere Mobilisierung der Opposition zurückzuführen. Zum Zweiten arbeiten die Regierungen der europäischen Aufnahmeländer daran, den Einfluss Ankaras auf die Diaspora zu minimieren. Seit 2018 besteht für türkische Parteien ein Verbot, in EU-Mitgliedstaaten Wahlkampf zu betreiben. Zwar haben türkische Politiker über Moscheegemeinden und andere Migrantenorganisationen noch immer Zugang zu potentiellen Wählern in der Diaspora, doch die Reichweite dieser Kanäle ist begrenzt.
Gleichzeitig bemühen sich die europäischen Regierungen, der Auslandsfinanzierung von Moscheegemeinden einen Riegel vorzuschieben. So hat es Österreich 2020 im Rahmen seiner Anti-Terror-Gesetzgebung Religionsgemeinschaften untersagt, vom Ausland Gelder anzunehmen. Und auch andere Länder sehen mittlerweile bei der Ausbildung von Imamen genauer hin. In Deutschland hat das Innenministerium 2023 angekündigt, die Zulassung von Imamen aus der Türkei – eine jahrzehntelang geübte Praxis – schrittweise zu beenden. Ende 2023 wurden in Frankreich ähnliche Schritte unternommen. Bereits 2020 verbot Paris die »Grauen Wölfe«, eine rechtsextreme Jugendorganisation, die eng mit der ihrerseits ganz am rechten Rand zu verortenden »Partei der nationalistischen Bewegung« (MHP) verbunden ist. Die MHP macht seit 2018 mit der AKP in der sogenannten »Volksallianz« gemeinsam Wahlkampf. Bereits 2019 wurde das Kennzeichen der »Grauen Wölfe« in Österreich als Symbol einer extremen Organisation verboten. Auch die Parlamente Deutschlands und der Niederlande haben bereits über ein Verbot der »Grauen Wölfe« beraten, und in Deutschland hat die Organisation einen festen Platz in den Verfassungsschutzberichten des Bundes und der Länder. All diese Maßnahmen bezeugen das Bemühen der Aufnahmeländer, den ausländischen Einfluss auf die politischen Dynamiken in der Diaspora zu minimieren.
Abschließend muss man sich vor Augen halten, dass weder die türkischen Migranten noch ihr Nachwuchs den Aktivitäten Ankaras nur passiv gegenüberstehen. Ein Beispiel dafür war 2018 der Rücktritt des gesamten Vorstands von DITIB-Niedersachsen als Reaktion auf die Intervention der Kölner DITIB-Zentrale und ihres Religionsattachés in die Arbeit der Organisation. Auch ist, wenn im Sinne der AKP gehandelt wird, nicht immer Ideologie im Spiel. Oft geben Pragmatismus und Nützlichkeitserwägungen den Ausschlag. Und eine ganz andere Frage ist, wie überzeugend die von der AKP propagierte konservative Sittlichkeit für Angehörige der jungen Generation ist.
Empfehlungen
Die Regierungen der europäischen Aufnahmeländer türkischer Migration aber auch die politischen Parteien und zivilgesellschaftliche Akteure in Europa sollten
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die Politik der AKP-Regierung nicht mit den Sorgen und Nöten und mit den daraus resultierenden Forderungen der türkischen und muslimischen Diaspora gleichsetzen. Dem Erstarken rechtsextremer Stimmen und Bewegungen zum Trotz bleibt es unverändert wichtig, den Einwanderern durch Wort und Tat zu signalisieren, dass sie in den Gesellschaften ihrer Aufenthaltsländer gleichberechtigt und gleichwertig sind. Nur eine solche Politik begrenzt die Möglichkeiten Ankaras, aus dem Ressentiment, das sich in der Diaspora gegen die Mehrheitsgesellschaft zu bilden droht, politisches Kapital zu schlagen;
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in ihrer Kritik an der derzeitigen türkischen Diasporapolitik klar zwischen der türkischen Regierung und den sie tragenden Parteien auf der einen Seite und »der Türkei« und »den Türken« auf der anderen Seite differenzieren;
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neue und effektive Wege für die politische Partizipation von Migranten und ihren Nachkommen etablieren;
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unter Berücksichtigung der jeweiligen nationalen gesetzlichen und institutionellen Gegebenheiten den Islam als legitimen Bestandteil ihrer Gesellschaften akzeptieren, religiösen Organisationen der Muslime einen vergleichbaren Status wie christlichen und jüdischen religiösen Organisationen gewähren, ihnen dieselben Rechte zusprechen und von ihnen die Übernahme derselben Pflichten fordern;
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jedwede administrative Befehlskette zwischen staatlichen religiösen Institutionen anderer Länder und religiösen Organisationen der Diaspora auflösen;
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auf diese Weise auf die Unabhängigkeit und Selbständigkeit der Diasporagemeinden von der Türkei hinarbeiten und dadurch auch zu mehr Inklusivität innerhalb der Diaspora beitragen.
Dr. Sinem Adar und Dr. Yaşar Aydın sind Wissenschaftler im Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) in der SWP, Dr. Cengiz Günay ist Direktor des Österreichischen Instituts für Internationale Politik (OIIP) und lehrt in den Abteilungen Politische Wissenschaften, Nahost-Studien und Internationale Entwicklungen der Universität Wien, Dr. Günter Seufert war Gründungsdirektor des CATS.
Das Centrum für angewandte Türkeistudien (CATS) wird gefördert durch die Stiftung Mercator und das Auswärtige Amt.
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ISSN (Online) 2747-5018
DOI: 10.18449/2024A31
(Deutsche Übersetzung von SWP Comment 20/2024)