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Die schrittweise Integration von Beitrittsländern in den EU-Binnenmarkt

Voraussetzungen, Chancen und Hürden

SWP-Aktuell 2024/A 45, 05.09.2024, 8 Seiten

doi:10.18449/2024A45

Forschungsgebiete

Seit dem 25. Juni 2024 verhandeln die 27 Mitgliedstaaten mit der Ukraine und Moldau über deren Aufnahme in die Europäische Union (EU). Die EU will und muss eine stra­tegische Antwort auf die neuen geopolitischen Herausforderungen vor allem infolge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine geben. Zugleich sollen die zähen Ver­handlungen mit den Ländern des Westbalkans beschleunigt werden. Darauf zielen neue Vorschläge, wie die Kandidaten und Beitrittsländer schrittweise in die EU-Politik­bereiche einbezogen werden können. Im Mittelpunkt von Beitrittsverhandlungen steht regelmäßig die Einbindung in den dicht regulierten europäischen Binnenmarkt – und damit die Übernahme des europäischen Rechtsbestandes (acquis communautaire) in Bezug auf den Austausch von Gütern, Dienstleistungen und Kapital sowie die Per­sonenfreizügigkeit. Ob das Angebot der schrittweisen Integration die erhoffte Zug­kraft entfalten kann, hängt davon ab, wie beide Seiten die zu erwartenden Kosten und Nutzen abwägen und ob es gelingt, konkrete Maßnahmen und Fahrpläne der Umsetzung zu entwickeln.

Um die Beitrittsperspektive zu bekräftigen und die Beitrittsverhandlungen zu beschleu­nigen, hat die Europäische Union den sechs Westbalkanländern (WB-6) sowie der Ukrai­ne, Moldau und Georgien eine schrittweise Integration in ausgewählte Politikbereiche in Aussicht gestellt. Zwei Hauptelemente der 2020 erneuerten Erweiterungsstrategie sollen unvermindert weiter gelten: Erstens sind die 33 Verhandlungskapitel nach wie vor in sechs Clustern gruppiert. Das erste umfasst die fundamentalen politischen Kriterien (fundamentals), die an Anfang und Ende der Verhandlungen stehen und zwin­gend zu erfüllen sind. Darin spiegelt sich, zweitens, die strikte Konditionalität wider, mit der die EU sicherstellen will, dass das Tempo der Verhandlungen von der nach­gewiesenen guten Regierungsführung und Leistungsfähigkeit der Beitrittsländer im Lichte des EU-Acquis abhängt. Diese Pro­zesse sollen durch den Ansatz der schrittweisen Integration an Fahrt gewinnen. Von den Politikbereichen, die dafür in Frage kommen, listet die Europäische Kommission als ersten den EU-Binnenmarkt auf. So soll es den einzelnen Kandidaten schon vor ihrem Beitritt möglich werden, in den Ge­nuss der Vorteile einer zumindest partiellen Integration in den ökonomischen Kern der EU zu kommen. Zugleich sollen aber auch die Verpflichtungen einer EU-Mitglied­schaft erfahrbar werden, nicht zuletzt in Bezug auf die europäischen Verwaltungs­verfahren.

Gerade für die schrittweise Einbindung in den Binnenmarkt ist es unerlässlich, dass die Kandidaten den europäischen Rechts­bestand sowie die Rechte und Pflichten uneingeschränkt übernehmen. Ein Europa à la carte dürfe es auf keinen Fall geben.

Die partielle Integration von Drittstaaten in EU-Regelwerke ist nicht neu und wird stets im Rahmen von Assoziierungsbeziehungen praktiziert. Dennoch gibt es im Kontext der Beitrittsprozesse eine Reihe spezifischer Fragen und Herausforderungen für beide Seiten:

a) Wer am Binnenmarkt teilhaben will, muss die anspruchsvollen Zugangsbedingungen erfüllen. Wie kann die schrittweise Integration so gestaltet werden, dass die Bei­trittsländer den Acquis besser und schneller als bisher übernehmen?

b) Die schrittweise Integration soll rasch sichtbare Vorteile für die Beitrittsländer zei­tigen. Wie kann die EU sicherstellen, dass dies »auf leistungsorientierte und umkehr­bare Weise« geschieht, wie es der Euro­päische Rat als Erweiterungsvoraussetzung formuliert hat?

c) Bedeutet die schrittweise Integration, dass die politische Konditionalität von Clus­ter 1-Vorgaben abgeschwächt wird? Oder schafft sie neue Anreize, die Bedingungen umso zügiger zu erfüllen?

d) Wie können schrittweise Integration und Beitrittsverhandlungen so ineinander­greifen, dass sich Letztere beschleunigen?

Auf diese Fragen hat die EU noch keine fertigen Antworten. Sie begibt sich mit der schrittweisen Integration in einen Lern­prozess, von dessen Erfolg die Glaubwürdigkeit ihrer Erweiterungspolitik abhängen wird.

Die Anforderungen der Binnenmarkt-Integration

Für die Kandidaten ist die schrittweise und vorgezogene Integration in den europäischen Binnenmarkt eminent wichtig, bildet dieser Markt doch deren Hauptziel. Die Integra­tion in den Binnenmarkt verspricht Zugang zu den europäischen Güter- und Arbeitsmärkten sowie die Einbindung in internatio­nale Lieferketten und damit den leichteren Handel mit Waren und Dienstleistungen. Das lockt zugleich Investoren an und macht es einfacher, aus­ländische Direktinvestitionen einzuwerben. Allerdings ist die Über­nahme des gemeinschaftlichen Rechts­bestandes der europäischen Binnenmarkt­gesetzgebung die schwierigste Herausforde­rung in jedem Beitrittsprozess.

Die Öffnung des Binnenmarktes für die Einfuhr von Produkten und Dienstleistungen oder den Zugang von Personen und die Niederlassungsfreiheit von Unternehmen hängt in erster Linie vom Stand der je­weiligen Rechtsangleichung ab. Zunächst müssen die strukturellen und rechtlichen Grundlagen für eine funktionierende Marktwirtschaft geschaffen werden. Das schließt vor allem die Rechtsgrundlagen zum Eigentums-, Vertrags- und Handelsrecht ein. Zur Binnenmarktfähigkeit ge­hören darüber hinaus zahlreiche adminis­trative und technische Voraussetzungen. Viele dieser Vorgaben resultieren aus der breiten Binnenmarkt-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH).

Dabei sind zwei Prinzipien bestimmend: (a) die gegenseitige Anerkennung von Stan­dards und (b) deren Harmonisierung, um den freien und ungehinderten Austausch von Gütern, Dienstleistungen, Kapital und Personen im gemeinsamen Markt zu ermög­lichen, weiterzuentwickeln und dauer­haft zu sichern. Alle Güter, die in einem Teil des Binnenmarktes legal gehandelt werden, müssen auch in dessen anderen Teilen frei zirkulieren dürfen. Den Austausch von Gütern im Binnenmarkt dürfen nur solche nationalen Bestimmungen beeinträchtigen, die erforderlich sind, um den Schutz der öffentlichen Sicherheit (also das Vorgehen gegen Betrügereien und Korruption, den Schutz vor illegalem Handel oder die Be­kämpfung organisierter Kriminalität), der öffentlichen Gesundheit, der Verbraucher sowie der Umwelt und des Klimas zu ge­währleisten. Die gegenseitige Anerkennung setzt zweierlei voraus: Erstens bedarf es des gegenseitigen Vertrauens aller Mitgliedstaaten in Sorgfalt und Wirksamkeit der natio­nalen Schutz- und Sicherheitsbestimmungen. Hierzu gehören auch Vorgaben und Regelungen zur Sicherung der Qualität und Sachkunde jener Unternehmen und Betriebe, welche die Waren produzieren oder die Dienstleistungen anbieten. Die nationalen Vorgaben, die von allen anderen Teilnehmern im Binnenmarkt anerkannt werden, müssen die gleichen, hohen Sicherheitsziele verfolgen und ein gleichwertiges Schutz­niveau anstreben. Dies gilt auch für die Standards und Rechtsvorschriften von Nicht-EU-Mitgliedstaaten, mit denen die EU etwa eine sogenannte Freihandels- oder Beitrittsasso­ziierung eingeht.

Die Grundlage dieses gegenseitigen Ver­trauens ist also, zweitens, ein weitgehend angeglichenes Verständnis zwischen allen Binnenmarkt-Staaten darüber, welche Pro­duktsicherheit ein Staat für seine Bürgerinnen und Bürger schaffen und gewährleisten muss und auch von seinen europäischen Partnern einfordern kann. Bestehen Zweifel daran, könnte das für Drittstaaten bedeuten, dass ihnen die EU nur einen selektiven Zugang für ihre Produkte gewährt, damit der Binnenmarkt keinen Schaden nimmt.

In jenen Bereichen, in denen sich die Mitgliedstaaten auf gemeinsame harmonisierte Standards verständigt haben, bedarf es neben der rechtlichen Umsetzung der Binnenmarktgesetzgebung auch der admi­nistrativen Kontrolle der europaweit har­monisierten Standards und strenger Test- und Zertifizierungsanforderungen sowie zum Teil nationaler Marktüberwachungsmaßnahmen in allen Staaten, die am Bin­nenmarkt teilnehmen. Hierfür müssen sie entsprechende nationale Institutionen zur Aufsicht, Kontrolle und gegebenenfalls Sanktionierung von Herstellern und Händ­lern schaffen, angemessen ausstatten und betreiben. Das können zum Beispiel Prüf­labore, technische Institute oder sachkundige Aufsichtsorgane für Finanzdienst­leistungen oder des Arbeits- und Gesundheitsschutzes sein.

Mit Blick auf den Austausch von Gütern wird zwischen produktbezogenen Vorgaben und produktionsbezogenen Kriterien unter­schieden. Um ein Produkt frei im Binnenmarkt austauschen zu können, muss es den gleichen europäischen Sicherheits- und Schutzstandards entsprechen. Die Öffnung des gemeinsamen Marktes für neue Markt­teilnehmer darf nicht zur Folge haben, dass das Schutz- und Sicherheitsniveau für Kon­sumenten und Verbraucher im Binnenmarkt sinkt. Darüber hinaus muss sicher­gestellt sein, dass die Produktion des jewei­ligen Handelsgutes keine Wettbewerbs­ver­zerrungen nach sich zieht. Hierfür müs­sen gleiche Wettbewerbsbedingungen (level playing field) und deren Überwachung garan­tiert sein. Zum Beispiel müssen die Stan­dards zur Herstellung eines Produktes unter den Bedingungen des Arbeits- oder des Um­weltschutzes angeglichen sein. Andernfalls könnte ein Unternehmen potentiell zu deut­lich geringeren Kosten produzieren und das gleiche Erzeugnis auf dem gemeinsamen Markt zu günstigeren Preisen anbieten. Dem­zufolge müssen produktionsbezogene Vorgaben, wie zum Umwelt-, Arbeits- und Verbraucherschutz oder sozialpolitische Vorgaben, für die Marktteilnehmer ange­glichen werden. Zugleich müssen auch in diesen Bereichen öffentliche Institutionen zur Aufsicht und Kontrolle eingerichtet und administrative Verfahren vorgegeben wer­den. Steuerliche Grundlagen sowie unter­nehmens- und kapitalrechtliche Voraus­setzungen sind ebenfalls anzugleichen.

Neben der Übernahme des Sekundärrechts erfordert die Integration in den gemeinsamen Binnenmarkt also zugleich die Schaffung geeigneter Strukturen und effektiver Institutionen sowie deren an­gemessene personelle und finanzielle Aus­stattung. Dabei spielt die richtige Priori­tätensetzung eine ebenso wichtige Rolle wie die geeignete Schrittfolge – sowohl für die Kandidaten als auch für die EU selbst.

Binnenmarkt: Zugang und Teil­habe ohne EU-Mitgliedschaft

Je nach ihren eigenen ökonomischen und politischen Interessen und denen des je­weiligen Drittstaates vereinbart die EU in Handels- und Assoziierungsabkommen auf unterschiedliche Weise Umfang und For­men des Zugangs zu ihrem Binnenmarkt. In jedem Fall muss der Drittstaat die von der EU definierten Voraussetzungen für Zugang oder Teilhabe erfüllen und diesen Anforderungen dauerhaft genügen können. Da die betreffenden Staaten keine oder noch keine EU-Mitglieder sind, besteht an­gesichts der Komplexität des Binnenmarktes hoher vertraglicher Regelungsbedarf.

Um vollständige Teilhabe am Binnenmarkt handelt es sich im Fall der drei EFTA-Länder Norwegen, Island und Liechtenstein. Sie bilden zusammen mit der EU den Euro­päischen Wirtschaftsraum (EWR), in dem der Binnenmarkt-Acquis der EU in toto An­wendung findet. Damit sind die drei Länder Teil des Binnenmarktes, ohne dass sie der EU beigetreten sind. Da die Binnenmarkt­gesetzgebung laufend voranschreitet, sieht der EWR einen Mechanismus für die quasi­automatische Übernahme der neuen Rechts­akte durch die drei EFTA-Länder vor. Sie werden bei Gesetzesvorhaben vorab kon­sultiert und sitzen in Durchführungs­ausschüssen des Rats. Sie sind aber nicht an der Gesetzgebung von Rat und Euro­päischem Parlament beteiligt.

Mit dem EFTA-Mitglied Schweiz hat die EU separat eine Vielzahl sektorieller Einzel­abkommen über den partiellen Zugang zum Binnenmarkt geschlossen. Das betrachtet die EU indes nicht als Modell für andere assoziierte Drittstaaten. Diese Praxis mit der Schweiz ist extrem aufwendig, weil die frei­willige Harmonisierung mit dem relevanten EU-Sekundärrecht (autonomer Nachvollzug) nicht effizient ist und keine lückenlose und zügige Übernahme der aktuellen Binnenmarktgesetzgebung gewährleistet.

Die Wirtschaftspartnerschaft der EU mit dem Vereinigten Königreich (VK) sieht zwar den zoll- und quotenfreien Zugang für bri­tische Produkte zum Binnenmarkt vor. Das Land ist aber weder Teil der EU-Zollunion, noch übernimmt es automatisch oder regel­mäßig die neue EU-Gesetzgebung oder Regeln für den Binnenmarkt, etwa Produkt­standards. Daher dürften die Unterschiede zwischen britischen und europäischen Standards wachsen und eher mehr als weni­ger Grenzkontrollen im bilateralen Waren­handel nötig sein. Ein freier Kapital-, Dienst­leistungs- und Personenverkehr ist ohnehin nicht vereinbart.

Die vier EFTA-Länder und das VK streben keine Mitgliedschaft in der EU an. Allerdings macht es für die EU einen Unterschied, wenn das betreffende Land der EU beitreten will. Das gilt für die Bedingungen zur Ausgestaltung der Assoziierungsbeziehungen und die Definition des Zugangs zum Binnenmarkt. Vor allem dann, wenn die Binnenmarktreife noch nicht gegeben ist, haben Assoziierungsabkommen einen expliziten Vorbereitungscharakter für potentielle Beitrittsländer. Sie enthalten Klauseln zur Weiterentwicklung der Bezie­hungen einschließlich der wirtschaftlichen Kooperation und Integration. Durch die Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen (SAA) verfügen die WB-6 seit vielen Jahren über die Aussicht, mit finanzieller und technisch-administrativer Unterstützung der EU an den Binnenmarkt-Acquis herangeführt zu werden. Das erste SAA – mit (Nord-)Mazedonien – trat schon 2004 in Kraft. Die SAA könnten durchaus als Zwischenschritt zur vollen Teilhabe am Bin­nenmarkt genutzt werden, doch das war in der Vergangenheit kaum der Fall. Zwar ist die EU für die WB-6 der wichtigste Handels­partner, aber das ist noch kein Ausweis für deren Binnenmarktreife.

Mit der Ukraine, Moldau und Georgien hat die EU zu einer Zeit Assoziierungs- sowie vertiefte und umfassende Freihandelsabkommen (DCFTA) geschlossen, als sie den dreien keine Beitrittsperspektive ein­räumen wollte. Quasi als Kompensation dafür und der Formel »alles außer Institu­tionen« folgend, enthalten die DCFTA Bestimmungen zur Integration in den Bin­nenmarkt und Handelsbedingungen, die weiter gehen und vorteilhafter sind als die der SAA. Sowohl sachlich als auch wegen der paritätisch besetzten Institutionen – auf den Ebenen der Minister und Parlamentarier sowie der Hohen Beamten – wären die DCFTA und SAA ein geeigneter Ansatz­punkt, um länderspezifisch Prioritäten für die schrittweise Integration zu setzen.

Defizitäre Binnenmarktreife

Sichtbare Fortschritte bei der Erfüllung der fundamentals in Cluster 1 der Erweiterungskapitel sind eine Vorbedingung für die schrittweise Integration in den Binnenmarkt. Es hat politische wie sachliche Gründe, dass die EU nur Länder aufnehmen will, die eine funktionierende Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit sowie den Aufbau einer leistungsfähigen öffentlichen Verwaltung und die Bekämpfung der Korruption nach­weisen können. Gerade dort liegen jedoch die größten Problemzonen aller Beitrittskandidaten. Wer am Binnenmarkt teil­haben will, muss administrative Strukturen und Institutionen zur Marktüberwachung etabliert haben. Mit Blick auf die Reform der öffentlichen Verwaltung und die insti­tutionellen Voraussetzungen konstatierte die Europäische Kommission aber in ihrer jüngsten Mitteilung über die Erweiterungspolitik 2023 ein schlechtes Ergebnis: »Der­zeit sind die meisten Reformen eher kosme­tischer als inhaltlicher Natur.« Und die Qua­lität der Verwaltungen der neun Erweite­rungsländer hätten »bestenfalls einen etwa mittleren Stand erreicht«. Die Grundlage für das wirtschaftliche Kriterium der Bei­trittsreife, nämlich eine funktionierende Marktwirtschaft und die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck im Binnenmarkt stand­zuhalten, ist also nicht vollständig gegeben.

Das Cluster »Binnenmarkt« umfasst neun Verhandlungskapitel, darunter freier Kapitalverkehr, Freizügigkeit für Arbeitnehmer, Niederlassungsrecht und freier Dienstleistungsverkehr sowie die Wett­bewerbspolitik. Was die vier Freiheiten anbelangt, stellt die Kommission in ihren Länderberichten vom November 2023 fest, dass keines der neun Länder gemessen am Soll über einen mittleren Stand hinauskommt. Auch waren die Fortschritte 2023 durchgängig gering oder begrenzt.

Montenegro ist jenes Westbalkanland, mit dem die EU am längsten, nämlich seit 2012, Beitrittsverhandlungen führt. Alle neun Kapitel des Binnenmarkt-Clusters sind ge­öffnet, aber noch keines ist vorläufig geschlossen. Die EU-Kommission attestiert dem Land nur eine mittlere Vorbereitung auf eine Integration in den EU-Binnen­markt für Waren und empfiehlt in ihrem letzten Länderbericht, Montenegro möge sich nun auf die Rechtsangleichung zur Standardisierung und Stärkung einzelner Agenturen konzentrieren. Moldau, neben der Ukraine jüngster Beitrittskandidat, verzeichnet laut Analyse der Kommission nur begrenzte Fortschritte bei der Annäherung an den europäischen Binnenmarkt-Rechtsbestand und bleibt überwiegend in einem als »gewissen Stand« bezeichneten und damit unzureichenden Stadium. Kein Beitrittskandidat auf dem Westbalkan er­füllt derzeit das Kriterium einer funk­tionierenden Marktwirtschaft. Moldau und die Ukraine sieht die Kommission in der Anfangsphase der Vorbereitung. Daher erscheint eine partielle Integration in den Binnenmarkt verfrüht – sowohl für die Aspiranten als auch für die EU, die ihren Integrationskern gefährden würde.

Schrittweise Integration: Angebot und Mehrwert

Auch im Rahmen einer schrittweisen Inte­gration gibt es keine Abstriche hinsichtlich der Angleichung an den EU-Rechtsbestand und die Schaffung der notwendigen Struk­turen und Institutionen. Aber die EU er­öffnet die Möglichkeit, dass die damit ver­bundenen Anpassungskosten durch früh­zeitige schrittweise und partielle Öffnung des Binnenmarktes verringert werden. Die Anpassungsanstrengungen sollen zügig und vor dem Aufnahmetermin mit effektiven wirtschaftlichen und finanziellen Vorteilen belohnt werden.

Ein zentrales Problem kann auch mit dieser modifizierten Strategie nicht gelöst werden: Die Anpassungskosten entstehen weitgehend bei den Beitrittsländern, denen die EU allenfalls befristete Übergangs­regelungen, aber keine dauerhaften Aus­nahmen zugesteht. Diese Lasten kann die EU in der Vorbeitrittsphase nur mit finan­ziellen und technisch-administrativen Hilfszusagen abmildern. In zurückliegenden Erweiterungsrunden lautete das Kalkül der Kandi­daten, dass die Mühen und Kosten der Anpassung von den späteren Integra­tionsgewinnen als Mitglied übertroffen werden. Das machte diese einseitige Lasten­verteilung auch politisch akzeptabel.

Die EU verfolgt mit der schrittweisen Integration in erster Linie das Ziel, neuen Schwung in die zähen Beitrittsprozesse mit den WB-6 zu bringen. Das Haupthindernis sind noch immer die massiven Demokratie- und Governance-Defizite. Diese müssen auch für den schnelleren Zugang zum Bin­nenmarkt, ob für einzelne Produkte, Bran­chen oder Sektoren, behoben werden. Grei­fen hier die systemischen Reformen, soll sich dies noch vor dem Beitritt auszahlen. Zudem bietet die EU finanzielle Hilfen zur Erfüllung der Binnenmarktvoraussetzungen an. Ob diese Hebelwirkung funktioniert, wird davon abhängen, wie die Regierungen der Beitrittsländer die potentiellen (und in der Regel sich später einstellenden) Vorteile einer partiellen Binnenmarkt-Integration gegenüber den politischen und finanziellen Kosten tiefgreifender Strukturreformen abwägen.

Die Option der schrittweisen Integration ist in den jüngsten Verhandlungsrahmen verankert, in denen die 27 EU-Staaten die Grundsätze für die Beitrittsverhandlungen niederlegen. Es gibt allerdings keine un­mittelbare Verbindung zwischen dem, was im Zuge der schrittweisen Integration ver­einbart wird, und den Verhandlungen, die formell als Regierungskonferenzen statt­finden. In den Beitrittsverhandlungen ab­gehakt werden könnten jene Teilbereiche des Binnenmarktes, in die die Beitritts­kandidaten bereits nach Bewertung durch die Europäische Kommission erfolgreich integriert werden konnten und damit die Binnenmarktreife vor der eigentlichen EU-Mitgliedschaft nachgewiesen haben. Diese Integrationsleistungen könnten herangezogen werden, wenn die Erfüllung von bench­marks geprüft wird, um Verhandlungs­kapitel schließen zu können. Das könnte die eigentlichen Beitrittsverhandlungen vereinfachen und beschleunigen – voraus­gesetzt, alle 27 Mitgliedstaaten akzeptieren diese Bewertung. Sie könnten sich dabei auf den Beschluss der Kommission stützen, die Finanzhilfen an Beitrittsländer im Rahmen der schrittweisen Integration nur dann be­willigt, wenn die jeweiligen Anforderungen zur Anwendung des Binnenmarkt-Acquis erfüllt sind. Die Maßnahmen im Zuge der schrittweisen Integration könnten aber auch von den Assoziierungsinstitutionen verabschiedet und damit rechtlich verbind­lich geregelt werden. Offen ist, was das für die eigentlichen Beitrittsverhandlungen bedeutet. Welchen Verhandlungsrahmen die EU für die Bewertung der partiellen Bin­nenmarktreife wählen wird, könnte also Tempo und Dynamik der Beitrittsverhandlungen beeinflussen.

Konkrete Umsetzung gefragt

Eine Schwachstelle der neuen Erweiterungsstrategie liegt darin, dass die schrittweise Integration in den EU-Binnenmarkt bislang nicht für die einzelnen Beitrittskandidaten spezifiziert und auf den jeweiligen Einzel­fall zugeschnitten wurde. Die Ausgangs­voraussetzungen für die neuen osteuro­päischen Beitrittskandidaten Moldau und Ukraine unterscheiden sich erheblich von den Bedingungen für die WB-6. Kaum kon­kretisiert wird bisher allerdings, wie eine schrittweise Binnenmarkt-Integration mög­lich werden könnte, welche politischen Voraussetzungen sowie rechtlichen und institutionellen Maßnahmen in welcher Reihenfolge erforderlich wären. Um dieses neue Element der Erweiterungsstrategie nutzbar machen zu können, wird die EU möglichst schnell und detailliert ihre Vor­stellungen und Angebote für eine partielle Integration jedes Beitrittskandidaten in den Binnenmarkt ausführen müssen.

In den länderspezifischen Verhandlungsrahmen haben die 27 festgelegt, dass es nur wenige und kurze Übergangszeiten im Zusammenhang mit der Ausweitung des Binnenmarktes geben soll. Bei der schrittweisen Integration sollen Schwerpunkte auf Bereichen liegen, »in denen das Bewerberland bereits über Kapazitäten und Fachwissen für Ausfuhren in die EU verfügt, und auf Bereichen von beiderseitigem Interesse, in denen das Bewerberland zwar über eine erhebliche Produktion verfügt, aber die Nor­men und Standards der EU erfüllen muss … sowie auf Bereichen, in denen großes un­genutztes Potenzial vorhanden ist …«. Diese Bestimmung aus dem Verhandlungsrahmen mit Albanien unterstreicht beispielhaft, wie sehr die EU auf gleiche Bedingungen (level playing field) und die Integrität des Binnenmarktes bedacht ist.

In einer künftigen Konkretisierung müss­te die EU die erforderlichen institutionellen, administrativen und technischen Strukturen und Instrumente benennen, die je nach Binnenmarktsektor und dem Entwicklungsstand des Kandidaten stark voneinander abweichen können. Sinnvoll wären auch Empfehlungen der EU für die beste Schritt­folge sowie einen präzisen Zeit- und Umset­zungsplan für die notwendigen Reformen.

Die Europäische Kommission hat zwar im November 2023 einen Vorschlag unter­breitet, wie ein Wachstumsplan für den Westbalkan sowie eine Reform- und Wachs­tumsfazilität für dessen Finanzierung aus­sehen könnte. Darin konkretisiert sie ihre Vorstellungen für eine schrittweise Integra­tion der WB-6 in den EU-Binnenmarkt und pocht zugleich auf eine ergebnisorientierte Reformpolitik der WB-6. Die vorgeschlagenen Bereiche der partiellen Binnenmarkt-Integration (etwa die Teilnahme am SEPA-Lastschriftverfahren, eine freiwillige Roaming-Vereinbarung oder die Anerkennung von Berufsqualifikationen) sind aller­dings eher punktuell, und es wird keine umfassende Öffnung des Binnenmarktes für eine ganze Branche oder einen Sektor verfolgt. Eher außerhalb des Binnenmarktes liegen jene Bereiche, in denen eine partielle Integration am leichtesten und schnellsten möglich erscheint. Die Kom­mission nennt in diesem Zusammenhang die Anbindung an die europäischen Ver­kehrs- und Energienetze, die Klima- und Umweltpolitik, die Einbindung in die Verbraucherschutzpolitik im Bereich der Lebensmittelerzeugung, die europäische Kohäsionspolitik und die wirtschaftspoliti­sche Koordinierung im Rahmen des Euro­päischen Semesters sowie das Migrations- und Grenzmanagement.

Ohnehin liegt der Ball bei den WB-6, die die EU-Kommission auffordert, selbst Vor­schläge zu machen. Ein solcher bottom-up-Prozess würde die WB-6 zu mehr ownership und zur Klärung ihrer Interessen und Reformpläne zwingen. Ein Ort für die Kon­kretisierung und den Abgleich der jewei­ligen nationalen Pläne wären wohl die bestehenden bilateralen Assoziierungs­gremien.

Die Europäische Kommission selbst hat ihr innovatives Angebot gleich mit einigen Bedenken flankiert. Bei einer umfassenderen Öffnung des Binnenmarktes, vielleicht sogar ganzer Güter- oder Dienstleistungsmärkte, stünde die EU zweifellos vor der Frage, wie sie gewährleisten kann, dass die EU-Vorgaben in den Nicht-EU-Mitgliedstaa­ten auch zum Schutz der eigenen Bürger und Unternehmen nachvollziehbar ange­wendet und durchgesetzt werden. Bei feh­lender Harmonisierung von EU-Vorgaben durch EU-Gesetzgebung und lediglich natio­nalen technischen Vorschriften muss ge­sichert sein, dass diese auch von den Behör­den in den Beitrittsländern EU-konform ausgelegt werden. Dazu zählt die Beachtung der Auslegung von Vorgaben durch den EuGH, dessen Urteile jedoch für die Beitrittsländer noch nicht bindend sind. Die Vorschläge der EU-Kommission zur Konkre­tisierung der schrittweisen Integration in den Binnenmarkt erscheinen insofern auch vorsichtig und zurückhaltend. Der viel­leicht zweckmäßigste Vorschlag ist die Ein­richtung einer Binnenmarktakademie, mit der den WB-6 eine Anlaufstelle zur konkre­ten Hilfe für den Aufbau von Strukturen und Kapazitäten in den Schwerpunkt­bereichen Standards, Zertifizierung und Konformitätsbewertung angeboten werden soll. Dies wäre aber gewiss nicht die von den Beitrittskandidaten erhoffte und er­wartete Marktöffnung, die sie dazu bewe­gen dürfte, Belastungen und Nutzen der EU-Mitgliedschaft neu zu kalkulieren und somit ihre Reformanstrengungen zu ver­stärken und zu beschleunigen.

Fazit: Hürden bleiben hoch

Auf den ersten Blick scheint das Angebot einer schrittweisen Integration der Beitritts­kandidaten in den Binnenmarkt sinnvoll und hilfreich für die angestrebte (und geo­politisch auch notwendige) Dynamisierung der Erweiterungsprozesse zu sein. Das gilt vor allem für die WB-6. Auf den zweiten Blick sind jedoch konzeptionelle und viele praktische Fragen seitens der EU und der Zielländer unbeantwortet. Die Anforderungen für die Binnenmarktreife bleiben un­verändert, und die Kriterien können auch nicht aufgeweicht werden. Die Lasten der Übernahme in Form von Reformen zur Rechtsangleichung sowie der Aufbau stabi­ler administrativer Strukturen können den Beitrittskandidaten nur zum Teil mit EU-Förderprogrammen erleichtert werden. Die Zusagen der EU für mehr finanzielle Unter­stützung liegen bereits sehr nahe an einer möglichen Förderung aus den EU-Struktur­fonds, die nur im Falle einer Vollmitgliedschaft gewährt wird. Insofern hat die EU ihr Instrumentarium weitgehend ausgeschöpft. Sie kann (und darf) den Beitrittskandidaten keine dauerhaften Ausnahmen vom Binnen­markt-Acquis gestatten, will sie nicht ihren Integrationskern selbst in Frage stellen sowie den Zusammenhalt der EU und die Stabilität ihres politischen Systems gefähr­den. Offen ist, ob die EU gegenüber den politischen Eliten der Erweiterungsländer die politischen Konditionen durchsetzen kann, an die die schrittweise Integration geknüpft ist. Sie muss den Zusammenhang zwischen besserer Regierungsführung und einer professionellen öffentlichen Verwaltung einerseits und dem Zugang zum Binnenmarkt und seinen wirtschaftlichen Vorteilen andererseits ins Zentrum der Beitrittsverhandlungen und Assoziierungsbeziehungen rücken. Das heißt auch, die Vorteile werden nur gewährt, wenn die Bedingungen erfüllt sind, und Erstere wer­den zurückgenommen, wenn Letztere nicht dauerhaft eingehalten werden. Sind die Eliten in den Beitrittsländern nicht bereit, das politische, ökonomische und soziale Modell der EU zu übernehmen, steht ihnen ein Zugang zum EU-Binnenmarkt ohne for­melle EU-Mitgliedschaft offen. Dann müss­ten sie zwar die rechtlichen Verpflichtungen, aber nicht zugleich die politisch-normativen Konditionalitäten umfassend erfüllen. Wahrscheinlich fiele dann aller­dings die finanzielle Unterstützung deut­lich geringer aus.

Die Aufwertung, wenn nicht gar Dominanz der geopolitischen (und geoökonomischen) Gründe für eine Erweiterung darf indes keinesfalls dazu führen, dass sich der Erweiterungs- und Verhandlungsprozess nicht mehr an Leistung und objektiven Parametern orientiert. Die Politisierung des Erweiterungsprozesses sollte nicht dazu ver­leiten, die Bedeutung eines funktionierenden Binnenmarktes und flankierender Poli­tiken für Zusammenhalt und Wohlstand der (erweiterten) EU zu unterschätzen.

Dr. Peter Becker ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe EU / Europa. Dr. Barbara Lippert ist die Forschungsdirektorin der SWP und Mitglied der Institutsleitung.

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