Seit dem 25. Juni 2024 verhandeln die 27 Mitgliedstaaten mit der Ukraine und Moldau über deren Aufnahme in die Europäische Union (EU). Die EU will und muss eine strategische Antwort auf die neuen geopolitischen Herausforderungen vor allem infolge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine geben. Zugleich sollen die zähen Verhandlungen mit den Ländern des Westbalkans beschleunigt werden. Darauf zielen neue Vorschläge, wie die Kandidaten und Beitrittsländer schrittweise in die EU-Politikbereiche einbezogen werden können. Im Mittelpunkt von Beitrittsverhandlungen steht regelmäßig die Einbindung in den dicht regulierten europäischen Binnenmarkt – und damit die Übernahme des europäischen Rechtsbestandes (acquis communautaire) in Bezug auf den Austausch von Gütern, Dienstleistungen und Kapital sowie die Personenfreizügigkeit. Ob das Angebot der schrittweisen Integration die erhoffte Zugkraft entfalten kann, hängt davon ab, wie beide Seiten die zu erwartenden Kosten und Nutzen abwägen und ob es gelingt, konkrete Maßnahmen und Fahrpläne der Umsetzung zu entwickeln.
Um die Beitrittsperspektive zu bekräftigen und die Beitrittsverhandlungen zu beschleunigen, hat die Europäische Union den sechs Westbalkanländern (WB-6) sowie der Ukraine, Moldau und Georgien eine schrittweise Integration in ausgewählte Politikbereiche in Aussicht gestellt. Zwei Hauptelemente der 2020 erneuerten Erweiterungsstrategie sollen unvermindert weiter gelten: Erstens sind die 33 Verhandlungskapitel nach wie vor in sechs Clustern gruppiert. Das erste umfasst die fundamentalen politischen Kriterien (fundamentals), die an Anfang und Ende der Verhandlungen stehen und zwingend zu erfüllen sind. Darin spiegelt sich, zweitens, die strikte Konditionalität wider, mit der die EU sicherstellen will, dass das Tempo der Verhandlungen von der nachgewiesenen guten Regierungsführung und Leistungsfähigkeit der Beitrittsländer im Lichte des EU-Acquis abhängt. Diese Prozesse sollen durch den Ansatz der schrittweisen Integration an Fahrt gewinnen. Von den Politikbereichen, die dafür in Frage kommen, listet die Europäische Kommission als ersten den EU-Binnenmarkt auf. So soll es den einzelnen Kandidaten schon vor ihrem Beitritt möglich werden, in den Genuss der Vorteile einer zumindest partiellen Integration in den ökonomischen Kern der EU zu kommen. Zugleich sollen aber auch die Verpflichtungen einer EU-Mitgliedschaft erfahrbar werden, nicht zuletzt in Bezug auf die europäischen Verwaltungsverfahren.
Gerade für die schrittweise Einbindung in den Binnenmarkt ist es unerlässlich, dass die Kandidaten den europäischen Rechtsbestand sowie die Rechte und Pflichten uneingeschränkt übernehmen. Ein Europa à la carte dürfe es auf keinen Fall geben.
Die partielle Integration von Drittstaaten in EU-Regelwerke ist nicht neu und wird stets im Rahmen von Assoziierungsbeziehungen praktiziert. Dennoch gibt es im Kontext der Beitrittsprozesse eine Reihe spezifischer Fragen und Herausforderungen für beide Seiten:
a) Wer am Binnenmarkt teilhaben will, muss die anspruchsvollen Zugangsbedingungen erfüllen. Wie kann die schrittweise Integration so gestaltet werden, dass die Beitrittsländer den Acquis besser und schneller als bisher übernehmen?
b) Die schrittweise Integration soll rasch sichtbare Vorteile für die Beitrittsländer zeitigen. Wie kann die EU sicherstellen, dass dies »auf leistungsorientierte und umkehrbare Weise« geschieht, wie es der Europäische Rat als Erweiterungsvoraussetzung formuliert hat?
c) Bedeutet die schrittweise Integration, dass die politische Konditionalität von Cluster 1-Vorgaben abgeschwächt wird? Oder schafft sie neue Anreize, die Bedingungen umso zügiger zu erfüllen?
d) Wie können schrittweise Integration und Beitrittsverhandlungen so ineinandergreifen, dass sich Letztere beschleunigen?
Auf diese Fragen hat die EU noch keine fertigen Antworten. Sie begibt sich mit der schrittweisen Integration in einen Lernprozess, von dessen Erfolg die Glaubwürdigkeit ihrer Erweiterungspolitik abhängen wird.
Die Anforderungen der Binnenmarkt-Integration
Für die Kandidaten ist die schrittweise und vorgezogene Integration in den europäischen Binnenmarkt eminent wichtig, bildet dieser Markt doch deren Hauptziel. Die Integration in den Binnenmarkt verspricht Zugang zu den europäischen Güter- und Arbeitsmärkten sowie die Einbindung in internationale Lieferketten und damit den leichteren Handel mit Waren und Dienstleistungen. Das lockt zugleich Investoren an und macht es einfacher, ausländische Direktinvestitionen einzuwerben. Allerdings ist die Übernahme des gemeinschaftlichen Rechtsbestandes der europäischen Binnenmarktgesetzgebung die schwierigste Herausforderung in jedem Beitrittsprozess.
Die Öffnung des Binnenmarktes für die Einfuhr von Produkten und Dienstleistungen oder den Zugang von Personen und die Niederlassungsfreiheit von Unternehmen hängt in erster Linie vom Stand der jeweiligen Rechtsangleichung ab. Zunächst müssen die strukturellen und rechtlichen Grundlagen für eine funktionierende Marktwirtschaft geschaffen werden. Das schließt vor allem die Rechtsgrundlagen zum Eigentums-, Vertrags- und Handelsrecht ein. Zur Binnenmarktfähigkeit gehören darüber hinaus zahlreiche administrative und technische Voraussetzungen. Viele dieser Vorgaben resultieren aus der breiten Binnenmarkt-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH).
Dabei sind zwei Prinzipien bestimmend: (a) die gegenseitige Anerkennung von Standards und (b) deren Harmonisierung, um den freien und ungehinderten Austausch von Gütern, Dienstleistungen, Kapital und Personen im gemeinsamen Markt zu ermöglichen, weiterzuentwickeln und dauerhaft zu sichern. Alle Güter, die in einem Teil des Binnenmarktes legal gehandelt werden, müssen auch in dessen anderen Teilen frei zirkulieren dürfen. Den Austausch von Gütern im Binnenmarkt dürfen nur solche nationalen Bestimmungen beeinträchtigen, die erforderlich sind, um den Schutz der öffentlichen Sicherheit (also das Vorgehen gegen Betrügereien und Korruption, den Schutz vor illegalem Handel oder die Bekämpfung organisierter Kriminalität), der öffentlichen Gesundheit, der Verbraucher sowie der Umwelt und des Klimas zu gewährleisten. Die gegenseitige Anerkennung setzt zweierlei voraus: Erstens bedarf es des gegenseitigen Vertrauens aller Mitgliedstaaten in Sorgfalt und Wirksamkeit der nationalen Schutz- und Sicherheitsbestimmungen. Hierzu gehören auch Vorgaben und Regelungen zur Sicherung der Qualität und Sachkunde jener Unternehmen und Betriebe, welche die Waren produzieren oder die Dienstleistungen anbieten. Die nationalen Vorgaben, die von allen anderen Teilnehmern im Binnenmarkt anerkannt werden, müssen die gleichen, hohen Sicherheitsziele verfolgen und ein gleichwertiges Schutzniveau anstreben. Dies gilt auch für die Standards und Rechtsvorschriften von Nicht-EU-Mitgliedstaaten, mit denen die EU etwa eine sogenannte Freihandels- oder Beitrittsassoziierung eingeht.
Die Grundlage dieses gegenseitigen Vertrauens ist also, zweitens, ein weitgehend angeglichenes Verständnis zwischen allen Binnenmarkt-Staaten darüber, welche Produktsicherheit ein Staat für seine Bürgerinnen und Bürger schaffen und gewährleisten muss und auch von seinen europäischen Partnern einfordern kann. Bestehen Zweifel daran, könnte das für Drittstaaten bedeuten, dass ihnen die EU nur einen selektiven Zugang für ihre Produkte gewährt, damit der Binnenmarkt keinen Schaden nimmt.
In jenen Bereichen, in denen sich die Mitgliedstaaten auf gemeinsame harmonisierte Standards verständigt haben, bedarf es neben der rechtlichen Umsetzung der Binnenmarktgesetzgebung auch der administrativen Kontrolle der europaweit harmonisierten Standards und strenger Test- und Zertifizierungsanforderungen sowie zum Teil nationaler Marktüberwachungsmaßnahmen in allen Staaten, die am Binnenmarkt teilnehmen. Hierfür müssen sie entsprechende nationale Institutionen zur Aufsicht, Kontrolle und gegebenenfalls Sanktionierung von Herstellern und Händlern schaffen, angemessen ausstatten und betreiben. Das können zum Beispiel Prüflabore, technische Institute oder sachkundige Aufsichtsorgane für Finanzdienstleistungen oder des Arbeits- und Gesundheitsschutzes sein.
Mit Blick auf den Austausch von Gütern wird zwischen produktbezogenen Vorgaben und produktionsbezogenen Kriterien unterschieden. Um ein Produkt frei im Binnenmarkt austauschen zu können, muss es den gleichen europäischen Sicherheits- und Schutzstandards entsprechen. Die Öffnung des gemeinsamen Marktes für neue Marktteilnehmer darf nicht zur Folge haben, dass das Schutz- und Sicherheitsniveau für Konsumenten und Verbraucher im Binnenmarkt sinkt. Darüber hinaus muss sichergestellt sein, dass die Produktion des jeweiligen Handelsgutes keine Wettbewerbsverzerrungen nach sich zieht. Hierfür müssen gleiche Wettbewerbsbedingungen (level playing field) und deren Überwachung garantiert sein. Zum Beispiel müssen die Standards zur Herstellung eines Produktes unter den Bedingungen des Arbeits- oder des Umweltschutzes angeglichen sein. Andernfalls könnte ein Unternehmen potentiell zu deutlich geringeren Kosten produzieren und das gleiche Erzeugnis auf dem gemeinsamen Markt zu günstigeren Preisen anbieten. Demzufolge müssen produktionsbezogene Vorgaben, wie zum Umwelt-, Arbeits- und Verbraucherschutz oder sozialpolitische Vorgaben, für die Marktteilnehmer angeglichen werden. Zugleich müssen auch in diesen Bereichen öffentliche Institutionen zur Aufsicht und Kontrolle eingerichtet und administrative Verfahren vorgegeben werden. Steuerliche Grundlagen sowie unternehmens- und kapitalrechtliche Voraussetzungen sind ebenfalls anzugleichen.
Neben der Übernahme des Sekundärrechts erfordert die Integration in den gemeinsamen Binnenmarkt also zugleich die Schaffung geeigneter Strukturen und effektiver Institutionen sowie deren angemessene personelle und finanzielle Ausstattung. Dabei spielt die richtige Prioritätensetzung eine ebenso wichtige Rolle wie die geeignete Schrittfolge – sowohl für die Kandidaten als auch für die EU selbst.
Binnenmarkt: Zugang und Teilhabe ohne EU-Mitgliedschaft
Je nach ihren eigenen ökonomischen und politischen Interessen und denen des jeweiligen Drittstaates vereinbart die EU in Handels- und Assoziierungsabkommen auf unterschiedliche Weise Umfang und Formen des Zugangs zu ihrem Binnenmarkt. In jedem Fall muss der Drittstaat die von der EU definierten Voraussetzungen für Zugang oder Teilhabe erfüllen und diesen Anforderungen dauerhaft genügen können. Da die betreffenden Staaten keine oder noch keine EU-Mitglieder sind, besteht angesichts der Komplexität des Binnenmarktes hoher vertraglicher Regelungsbedarf.
Um vollständige Teilhabe am Binnenmarkt handelt es sich im Fall der drei EFTA-Länder Norwegen, Island und Liechtenstein. Sie bilden zusammen mit der EU den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR), in dem der Binnenmarkt-Acquis der EU in toto Anwendung findet. Damit sind die drei Länder Teil des Binnenmarktes, ohne dass sie der EU beigetreten sind. Da die Binnenmarktgesetzgebung laufend voranschreitet, sieht der EWR einen Mechanismus für die quasiautomatische Übernahme der neuen Rechtsakte durch die drei EFTA-Länder vor. Sie werden bei Gesetzesvorhaben vorab konsultiert und sitzen in Durchführungsausschüssen des Rats. Sie sind aber nicht an der Gesetzgebung von Rat und Europäischem Parlament beteiligt.
Mit dem EFTA-Mitglied Schweiz hat die EU separat eine Vielzahl sektorieller Einzelabkommen über den partiellen Zugang zum Binnenmarkt geschlossen. Das betrachtet die EU indes nicht als Modell für andere assoziierte Drittstaaten. Diese Praxis mit der Schweiz ist extrem aufwendig, weil die freiwillige Harmonisierung mit dem relevanten EU-Sekundärrecht (autonomer Nachvollzug) nicht effizient ist und keine lückenlose und zügige Übernahme der aktuellen Binnenmarktgesetzgebung gewährleistet.
Die Wirtschaftspartnerschaft der EU mit dem Vereinigten Königreich (VK) sieht zwar den zoll- und quotenfreien Zugang für britische Produkte zum Binnenmarkt vor. Das Land ist aber weder Teil der EU-Zollunion, noch übernimmt es automatisch oder regelmäßig die neue EU-Gesetzgebung oder Regeln für den Binnenmarkt, etwa Produktstandards. Daher dürften die Unterschiede zwischen britischen und europäischen Standards wachsen und eher mehr als weniger Grenzkontrollen im bilateralen Warenhandel nötig sein. Ein freier Kapital-, Dienstleistungs- und Personenverkehr ist ohnehin nicht vereinbart.
Die vier EFTA-Länder und das VK streben keine Mitgliedschaft in der EU an. Allerdings macht es für die EU einen Unterschied, wenn das betreffende Land der EU beitreten will. Das gilt für die Bedingungen zur Ausgestaltung der Assoziierungsbeziehungen und die Definition des Zugangs zum Binnenmarkt. Vor allem dann, wenn die Binnenmarktreife noch nicht gegeben ist, haben Assoziierungsabkommen einen expliziten Vorbereitungscharakter für potentielle Beitrittsländer. Sie enthalten Klauseln zur Weiterentwicklung der Beziehungen einschließlich der wirtschaftlichen Kooperation und Integration. Durch die Stabilisierungs- und Assoziierungsabkommen (SAA) verfügen die WB-6 seit vielen Jahren über die Aussicht, mit finanzieller und technisch-administrativer Unterstützung der EU an den Binnenmarkt-Acquis herangeführt zu werden. Das erste SAA – mit (Nord-)Mazedonien – trat schon 2004 in Kraft. Die SAA könnten durchaus als Zwischenschritt zur vollen Teilhabe am Binnenmarkt genutzt werden, doch das war in der Vergangenheit kaum der Fall. Zwar ist die EU für die WB-6 der wichtigste Handelspartner, aber das ist noch kein Ausweis für deren Binnenmarktreife.
Mit der Ukraine, Moldau und Georgien hat die EU zu einer Zeit Assoziierungs- sowie vertiefte und umfassende Freihandelsabkommen (DCFTA) geschlossen, als sie den dreien keine Beitrittsperspektive einräumen wollte. Quasi als Kompensation dafür und der Formel »alles außer Institutionen« folgend, enthalten die DCFTA Bestimmungen zur Integration in den Binnenmarkt und Handelsbedingungen, die weiter gehen und vorteilhafter sind als die der SAA. Sowohl sachlich als auch wegen der paritätisch besetzten Institutionen – auf den Ebenen der Minister und Parlamentarier sowie der Hohen Beamten – wären die DCFTA und SAA ein geeigneter Ansatzpunkt, um länderspezifisch Prioritäten für die schrittweise Integration zu setzen.
Defizitäre Binnenmarktreife
Sichtbare Fortschritte bei der Erfüllung der fundamentals in Cluster 1 der Erweiterungskapitel sind eine Vorbedingung für die schrittweise Integration in den Binnenmarkt. Es hat politische wie sachliche Gründe, dass die EU nur Länder aufnehmen will, die eine funktionierende Gewaltenteilung und Rechtsstaatlichkeit sowie den Aufbau einer leistungsfähigen öffentlichen Verwaltung und die Bekämpfung der Korruption nachweisen können. Gerade dort liegen jedoch die größten Problemzonen aller Beitrittskandidaten. Wer am Binnenmarkt teilhaben will, muss administrative Strukturen und Institutionen zur Marktüberwachung etabliert haben. Mit Blick auf die Reform der öffentlichen Verwaltung und die institutionellen Voraussetzungen konstatierte die Europäische Kommission aber in ihrer jüngsten Mitteilung über die Erweiterungspolitik 2023 ein schlechtes Ergebnis: »Derzeit sind die meisten Reformen eher kosmetischer als inhaltlicher Natur.« Und die Qualität der Verwaltungen der neun Erweiterungsländer hätten »bestenfalls einen etwa mittleren Stand erreicht«. Die Grundlage für das wirtschaftliche Kriterium der Beitrittsreife, nämlich eine funktionierende Marktwirtschaft und die Fähigkeit, dem Wettbewerbsdruck im Binnenmarkt standzuhalten, ist also nicht vollständig gegeben.
Das Cluster »Binnenmarkt« umfasst neun Verhandlungskapitel, darunter freier Kapitalverkehr, Freizügigkeit für Arbeitnehmer, Niederlassungsrecht und freier Dienstleistungsverkehr sowie die Wettbewerbspolitik. Was die vier Freiheiten anbelangt, stellt die Kommission in ihren Länderberichten vom November 2023 fest, dass keines der neun Länder gemessen am Soll über einen mittleren Stand hinauskommt. Auch waren die Fortschritte 2023 durchgängig gering oder begrenzt.
Montenegro ist jenes Westbalkanland, mit dem die EU am längsten, nämlich seit 2012, Beitrittsverhandlungen führt. Alle neun Kapitel des Binnenmarkt-Clusters sind geöffnet, aber noch keines ist vorläufig geschlossen. Die EU-Kommission attestiert dem Land nur eine mittlere Vorbereitung auf eine Integration in den EU-Binnenmarkt für Waren und empfiehlt in ihrem letzten Länderbericht, Montenegro möge sich nun auf die Rechtsangleichung zur Standardisierung und Stärkung einzelner Agenturen konzentrieren. Moldau, neben der Ukraine jüngster Beitrittskandidat, verzeichnet laut Analyse der Kommission nur begrenzte Fortschritte bei der Annäherung an den europäischen Binnenmarkt-Rechtsbestand und bleibt überwiegend in einem als »gewissen Stand« bezeichneten und damit unzureichenden Stadium. Kein Beitrittskandidat auf dem Westbalkan erfüllt derzeit das Kriterium einer funktionierenden Marktwirtschaft. Moldau und die Ukraine sieht die Kommission in der Anfangsphase der Vorbereitung. Daher erscheint eine partielle Integration in den Binnenmarkt verfrüht – sowohl für die Aspiranten als auch für die EU, die ihren Integrationskern gefährden würde.
Schrittweise Integration: Angebot und Mehrwert
Auch im Rahmen einer schrittweisen Integration gibt es keine Abstriche hinsichtlich der Angleichung an den EU-Rechtsbestand und die Schaffung der notwendigen Strukturen und Institutionen. Aber die EU eröffnet die Möglichkeit, dass die damit verbundenen Anpassungskosten durch frühzeitige schrittweise und partielle Öffnung des Binnenmarktes verringert werden. Die Anpassungsanstrengungen sollen zügig und vor dem Aufnahmetermin mit effektiven wirtschaftlichen und finanziellen Vorteilen belohnt werden.
Ein zentrales Problem kann auch mit dieser modifizierten Strategie nicht gelöst werden: Die Anpassungskosten entstehen weitgehend bei den Beitrittsländern, denen die EU allenfalls befristete Übergangsregelungen, aber keine dauerhaften Ausnahmen zugesteht. Diese Lasten kann die EU in der Vorbeitrittsphase nur mit finanziellen und technisch-administrativen Hilfszusagen abmildern. In zurückliegenden Erweiterungsrunden lautete das Kalkül der Kandidaten, dass die Mühen und Kosten der Anpassung von den späteren Integrationsgewinnen als Mitglied übertroffen werden. Das machte diese einseitige Lastenverteilung auch politisch akzeptabel.
Die EU verfolgt mit der schrittweisen Integration in erster Linie das Ziel, neuen Schwung in die zähen Beitrittsprozesse mit den WB-6 zu bringen. Das Haupthindernis sind noch immer die massiven Demokratie- und Governance-Defizite. Diese müssen auch für den schnelleren Zugang zum Binnenmarkt, ob für einzelne Produkte, Branchen oder Sektoren, behoben werden. Greifen hier die systemischen Reformen, soll sich dies noch vor dem Beitritt auszahlen. Zudem bietet die EU finanzielle Hilfen zur Erfüllung der Binnenmarktvoraussetzungen an. Ob diese Hebelwirkung funktioniert, wird davon abhängen, wie die Regierungen der Beitrittsländer die potentiellen (und in der Regel sich später einstellenden) Vorteile einer partiellen Binnenmarkt-Integration gegenüber den politischen und finanziellen Kosten tiefgreifender Strukturreformen abwägen.
Die Option der schrittweisen Integration ist in den jüngsten Verhandlungsrahmen verankert, in denen die 27 EU-Staaten die Grundsätze für die Beitrittsverhandlungen niederlegen. Es gibt allerdings keine unmittelbare Verbindung zwischen dem, was im Zuge der schrittweisen Integration vereinbart wird, und den Verhandlungen, die formell als Regierungskonferenzen stattfinden. In den Beitrittsverhandlungen abgehakt werden könnten jene Teilbereiche des Binnenmarktes, in die die Beitrittskandidaten bereits nach Bewertung durch die Europäische Kommission erfolgreich integriert werden konnten und damit die Binnenmarktreife vor der eigentlichen EU-Mitgliedschaft nachgewiesen haben. Diese Integrationsleistungen könnten herangezogen werden, wenn die Erfüllung von benchmarks geprüft wird, um Verhandlungskapitel schließen zu können. Das könnte die eigentlichen Beitrittsverhandlungen vereinfachen und beschleunigen – vorausgesetzt, alle 27 Mitgliedstaaten akzeptieren diese Bewertung. Sie könnten sich dabei auf den Beschluss der Kommission stützen, die Finanzhilfen an Beitrittsländer im Rahmen der schrittweisen Integration nur dann bewilligt, wenn die jeweiligen Anforderungen zur Anwendung des Binnenmarkt-Acquis erfüllt sind. Die Maßnahmen im Zuge der schrittweisen Integration könnten aber auch von den Assoziierungsinstitutionen verabschiedet und damit rechtlich verbindlich geregelt werden. Offen ist, was das für die eigentlichen Beitrittsverhandlungen bedeutet. Welchen Verhandlungsrahmen die EU für die Bewertung der partiellen Binnenmarktreife wählen wird, könnte also Tempo und Dynamik der Beitrittsverhandlungen beeinflussen.
Konkrete Umsetzung gefragt
Eine Schwachstelle der neuen Erweiterungsstrategie liegt darin, dass die schrittweise Integration in den EU-Binnenmarkt bislang nicht für die einzelnen Beitrittskandidaten spezifiziert und auf den jeweiligen Einzelfall zugeschnitten wurde. Die Ausgangsvoraussetzungen für die neuen osteuropäischen Beitrittskandidaten Moldau und Ukraine unterscheiden sich erheblich von den Bedingungen für die WB-6. Kaum konkretisiert wird bisher allerdings, wie eine schrittweise Binnenmarkt-Integration möglich werden könnte, welche politischen Voraussetzungen sowie rechtlichen und institutionellen Maßnahmen in welcher Reihenfolge erforderlich wären. Um dieses neue Element der Erweiterungsstrategie nutzbar machen zu können, wird die EU möglichst schnell und detailliert ihre Vorstellungen und Angebote für eine partielle Integration jedes Beitrittskandidaten in den Binnenmarkt ausführen müssen.
In den länderspezifischen Verhandlungsrahmen haben die 27 festgelegt, dass es nur wenige und kurze Übergangszeiten im Zusammenhang mit der Ausweitung des Binnenmarktes geben soll. Bei der schrittweisen Integration sollen Schwerpunkte auf Bereichen liegen, »in denen das Bewerberland bereits über Kapazitäten und Fachwissen für Ausfuhren in die EU verfügt, und auf Bereichen von beiderseitigem Interesse, in denen das Bewerberland zwar über eine erhebliche Produktion verfügt, aber die Normen und Standards der EU erfüllen muss … sowie auf Bereichen, in denen großes ungenutztes Potenzial vorhanden ist …«. Diese Bestimmung aus dem Verhandlungsrahmen mit Albanien unterstreicht beispielhaft, wie sehr die EU auf gleiche Bedingungen (level playing field) und die Integrität des Binnenmarktes bedacht ist.
In einer künftigen Konkretisierung müsste die EU die erforderlichen institutionellen, administrativen und technischen Strukturen und Instrumente benennen, die je nach Binnenmarktsektor und dem Entwicklungsstand des Kandidaten stark voneinander abweichen können. Sinnvoll wären auch Empfehlungen der EU für die beste Schrittfolge sowie einen präzisen Zeit- und Umsetzungsplan für die notwendigen Reformen.
Die Europäische Kommission hat zwar im November 2023 einen Vorschlag unterbreitet, wie ein Wachstumsplan für den Westbalkan sowie eine Reform- und Wachstumsfazilität für dessen Finanzierung aussehen könnte. Darin konkretisiert sie ihre Vorstellungen für eine schrittweise Integration der WB-6 in den EU-Binnenmarkt und pocht zugleich auf eine ergebnisorientierte Reformpolitik der WB-6. Die vorgeschlagenen Bereiche der partiellen Binnenmarkt-Integration (etwa die Teilnahme am SEPA-Lastschriftverfahren, eine freiwillige Roaming-Vereinbarung oder die Anerkennung von Berufsqualifikationen) sind allerdings eher punktuell, und es wird keine umfassende Öffnung des Binnenmarktes für eine ganze Branche oder einen Sektor verfolgt. Eher außerhalb des Binnenmarktes liegen jene Bereiche, in denen eine partielle Integration am leichtesten und schnellsten möglich erscheint. Die Kommission nennt in diesem Zusammenhang die Anbindung an die europäischen Verkehrs- und Energienetze, die Klima- und Umweltpolitik, die Einbindung in die Verbraucherschutzpolitik im Bereich der Lebensmittelerzeugung, die europäische Kohäsionspolitik und die wirtschaftspolitische Koordinierung im Rahmen des Europäischen Semesters sowie das Migrations- und Grenzmanagement.
Ohnehin liegt der Ball bei den WB-6, die die EU-Kommission auffordert, selbst Vorschläge zu machen. Ein solcher bottom-up-Prozess würde die WB-6 zu mehr ownership und zur Klärung ihrer Interessen und Reformpläne zwingen. Ein Ort für die Konkretisierung und den Abgleich der jeweiligen nationalen Pläne wären wohl die bestehenden bilateralen Assoziierungsgremien.
Die Europäische Kommission selbst hat ihr innovatives Angebot gleich mit einigen Bedenken flankiert. Bei einer umfassenderen Öffnung des Binnenmarktes, vielleicht sogar ganzer Güter- oder Dienstleistungsmärkte, stünde die EU zweifellos vor der Frage, wie sie gewährleisten kann, dass die EU-Vorgaben in den Nicht-EU-Mitgliedstaaten auch zum Schutz der eigenen Bürger und Unternehmen nachvollziehbar angewendet und durchgesetzt werden. Bei fehlender Harmonisierung von EU-Vorgaben durch EU-Gesetzgebung und lediglich nationalen technischen Vorschriften muss gesichert sein, dass diese auch von den Behörden in den Beitrittsländern EU-konform ausgelegt werden. Dazu zählt die Beachtung der Auslegung von Vorgaben durch den EuGH, dessen Urteile jedoch für die Beitrittsländer noch nicht bindend sind. Die Vorschläge der EU-Kommission zur Konkretisierung der schrittweisen Integration in den Binnenmarkt erscheinen insofern auch vorsichtig und zurückhaltend. Der vielleicht zweckmäßigste Vorschlag ist die Einrichtung einer Binnenmarktakademie, mit der den WB-6 eine Anlaufstelle zur konkreten Hilfe für den Aufbau von Strukturen und Kapazitäten in den Schwerpunktbereichen Standards, Zertifizierung und Konformitätsbewertung angeboten werden soll. Dies wäre aber gewiss nicht die von den Beitrittskandidaten erhoffte und erwartete Marktöffnung, die sie dazu bewegen dürfte, Belastungen und Nutzen der EU-Mitgliedschaft neu zu kalkulieren und somit ihre Reformanstrengungen zu verstärken und zu beschleunigen.
Fazit: Hürden bleiben hoch
Auf den ersten Blick scheint das Angebot einer schrittweisen Integration der Beitrittskandidaten in den Binnenmarkt sinnvoll und hilfreich für die angestrebte (und geopolitisch auch notwendige) Dynamisierung der Erweiterungsprozesse zu sein. Das gilt vor allem für die WB-6. Auf den zweiten Blick sind jedoch konzeptionelle und viele praktische Fragen seitens der EU und der Zielländer unbeantwortet. Die Anforderungen für die Binnenmarktreife bleiben unverändert, und die Kriterien können auch nicht aufgeweicht werden. Die Lasten der Übernahme in Form von Reformen zur Rechtsangleichung sowie der Aufbau stabiler administrativer Strukturen können den Beitrittskandidaten nur zum Teil mit EU-Förderprogrammen erleichtert werden. Die Zusagen der EU für mehr finanzielle Unterstützung liegen bereits sehr nahe an einer möglichen Förderung aus den EU-Strukturfonds, die nur im Falle einer Vollmitgliedschaft gewährt wird. Insofern hat die EU ihr Instrumentarium weitgehend ausgeschöpft. Sie kann (und darf) den Beitrittskandidaten keine dauerhaften Ausnahmen vom Binnenmarkt-Acquis gestatten, will sie nicht ihren Integrationskern selbst in Frage stellen sowie den Zusammenhalt der EU und die Stabilität ihres politischen Systems gefährden. Offen ist, ob die EU gegenüber den politischen Eliten der Erweiterungsländer die politischen Konditionen durchsetzen kann, an die die schrittweise Integration geknüpft ist. Sie muss den Zusammenhang zwischen besserer Regierungsführung und einer professionellen öffentlichen Verwaltung einerseits und dem Zugang zum Binnenmarkt und seinen wirtschaftlichen Vorteilen andererseits ins Zentrum der Beitrittsverhandlungen und Assoziierungsbeziehungen rücken. Das heißt auch, die Vorteile werden nur gewährt, wenn die Bedingungen erfüllt sind, und Erstere werden zurückgenommen, wenn Letztere nicht dauerhaft eingehalten werden. Sind die Eliten in den Beitrittsländern nicht bereit, das politische, ökonomische und soziale Modell der EU zu übernehmen, steht ihnen ein Zugang zum EU-Binnenmarkt ohne formelle EU-Mitgliedschaft offen. Dann müssten sie zwar die rechtlichen Verpflichtungen, aber nicht zugleich die politisch-normativen Konditionalitäten umfassend erfüllen. Wahrscheinlich fiele dann allerdings die finanzielle Unterstützung deutlich geringer aus.
Die Aufwertung, wenn nicht gar Dominanz der geopolitischen (und geoökonomischen) Gründe für eine Erweiterung darf indes keinesfalls dazu führen, dass sich der Erweiterungs- und Verhandlungsprozess nicht mehr an Leistung und objektiven Parametern orientiert. Die Politisierung des Erweiterungsprozesses sollte nicht dazu verleiten, die Bedeutung eines funktionierenden Binnenmarktes und flankierender Politiken für Zusammenhalt und Wohlstand der (erweiterten) EU zu unterschätzen.
Dr. Peter Becker ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe EU / Europa. Dr. Barbara Lippert ist die Forschungsdirektorin der SWP und Mitglied der Institutsleitung.
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ISSN (Online) 2747-5018
DOI: 10.18449/2024A45