Dem Ruf nach Stärkung des Europäischen Zentrums für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten müssen nun Taten folgen. Die Harmonisierung von Gesundheitsdaten ist dabei entscheidend für eine bessere Koordinierung in Europa, meinen Isabell Kump und Susan Bergner.
Als sich Covid-19 in Europa zu verbreiten begann, verboten Frankreich und Deutschland den Export von Atemschutzmasken, während Italien vergeblich um Zulieferungen von Schutzausrüstung im Rahmen des EU-Katastrophenschutzverfahrens bat. Weder das Europäische Zentrum für die Prävention und die Kontrolle von Krankheiten (ECDC) noch die Mitgliedstaaten selbst hatten einen Überblick über die verfügbaren Kapazitäten der europäischen Gesundheitssysteme. Allen Beteiligten wurde durch Covid-19 schmerzhaft bewusst: Es fehlt an europäischer Koordination.
Aktuell wird daher vielfach die Stärkung des ECDC gefordert, das als EU-Agentur die Mitgliedstaaten durch das Sammeln, Aufbereiten und Analysieren von Daten zu Krankheitsausbrüchen und bei der Überwachung und Früherkennung von Gesundheitsrisiken unterstützt. Auch die Krankheitsprävention gehört laut Mandat zu den Aufgaben der Agentur; Kapazitäten in diesem Bereich werden zurzeit aufgebaut. Im Idealfall würde das ECDC die Mitgliedstaaten bei der Erfassung verlässlicher Gesundheitsdaten unterstützen und ihnen zugleich Wissen über die Situation bei den europäischen Nachbarn bereitstellen. So wäre etwa bekannt, wie viel Schutzausrüstung und Gesundheitspersonal in den jeweiligen Mitgliedstaaten vorhanden ist und angesichts der Krankheitsentwicklung mutmaßlich benötigt wird. Die EU und ihre Mitgliedstaaten würden von einem besseren Überblick über Kapazitäten und die Verteilung von Krankheitslasten in Europa profitieren, solidarisches Handeln in der Krise wäre auf der Grundlage einer gemeinsamen Datenbasis möglich. Neben dieser Stärkung nach innen würde die EU auch handlungsfähiger als Partner weltweit: Im Austausch mit dem Regionalbüro der Weltgesundheitsorganisation (WHO) für Europa könnte das ECDC verlässliche und standardisierte Daten liefern und so zur globalen Eindämmung von Pandemien beitragen.
Dieser Idealfall ist bisher nicht in Sicht: Das ECDC wird insbesondere für seine mangelnde Sichtbarkeit, Unterstützungsleistung und Fehlinterpretationen kritisiert. So habe das vom ECDC betriebene Frühwarn- und Reaktionssystem (EWRS) nicht funktioniert, wodurch das Infektionsrisiko durch Covid-19 noch Ende Februar als »gering bis moderat« bewertet wurde. Ferner seien die Laborkapazitäten zur Diagnose des Virus in den Ländern falsch eingeschätzt worden. Bei all dieser Kritik wird jedoch vergessen, dass das ECDC die Situation nur dann akkurat einschätzen kann, wenn die Mitgliedstaaten ihre Daten übermitteln.
Allerdings hat die Agentur bislang keinerlei regulatorische Kompetenzen und kann daher die Länder nicht verbindlich verpflichten, die nötigen Daten zu erfassen und zu übertragen. Zudem ist das ECDC für eine ernsthafte Koordinierung und Harmonisierung von Gesundheitsdaten weder personell noch finanziell ausreichend ausgestattet. Zur Einordnung: Während die US-Behörde CDC 2018 10 796 Beschäftigte und ein Budget von $8.25 Milliarden zählte, standen dem ECDC im selben Jahr nur 271 Beschäftigte und rund €58 Millionen zur Verfügung. Der Covid-19-Ausbruch legt den Finger in eine längst bekannte Wunde: Die Mitgliedstaaten haben das ECDC für die Erfüllung seines Mandats nicht angemessen mit Kompetenzen und Ressourcen ausgestattet. Das muss sich ändern.
Künftig sollte das ECDC dafür sorgen können, dass die Mitgliedstaaten qualitativ hochwertige und zuverlässige Daten an die Agentur übermitteln. Dafür muss es zunächst mandatiert werden. Die Agentur sollte sich dann darauf konzentrieren, Monitoring-Mechanismen zu entwickeln, mit denen sie für verlässliche, einheitliche Daten sorgt. Diese müssen zeitnah und nahtlos an die WHO weitergegeben werden können. Die digitale Infrastruktur muss daher mit der WHO-Datenerfassung kompatibel sein.
Dabei sollte die Datensammlung neben den übertragbaren Krankheiten auch nicht-übertragbare Krankheiten wie Krebs sowie Fälle antimikrobieller Resistenzen mit einschließen. Dies würde nicht nur die gesundheitspolitischen Schwerpunkte der Europäischen Kommission widerspiegeln, sondern auch Wechselwirkungen zwischen übertragbaren Krankheiten wie Covid-19 und nichtübertragbaren Vorerkrankungen bzw. Resistenzen in Europa besser sichtbar machen.
Neben den Krankheitsdaten, die bereits zentral erfasst werden und in der Covid-19-Krise eine besondere Bedeutung haben, sollte das ECDC zusätzlich Daten über die Kapazitäten der nationalen Gesundheitssysteme stärker im Blick haben. Damit könnte es seinem Mandat zur Krankheitsprävention besser gerecht werden und die Widerstandsfähigkeit europäischer Gesundheitssysteme fördern – ein Interesse, das zurzeit wohl alle Mitgliedstaaten teilen.
Die Stärkung des ECDC in diesen Bereichen muss mit einer Aufstockung von Ressourcen einhergehen. Personal wird auf drei Ebenen benötigt: Erstens muss auf Seiten der nationalen Public-Health-Institute, wie dem deutschen Robert-Koch-Institut, die hinreichende Ausstattung der für die Kommunikation mit dem ECDC zuständigen Kontaktstellen sichergestellt werden. Zweitens ist eine Vergrößerung der Kernbelegschaft des ECDC essentiell, damit die Agentur auf der Grundlage eigener Expertise gemeinsam mit dem europäischen WHO-Regionalbüro Normen und Standards zur Datensammlung setzen kann. Schließlich braucht es im ECDC Mittler für die Kommunikation mit den einzelnen Mitgliedstaaten, die dafür sorgen, dass diese ihre Verpflichtungen erfüllen.
Finanzielle Stärkung braucht es für den Ausbau der Datensysteme und den Kompetenzaufbau bei der Krankheitsprävention. Mit dem überarbeiteten EU-Haushaltsplan für 2020 wurden dem ECDC zur Bewältigung von Covid-19 weitere 3,6 Millionen Euro zugesprochen. Aber auch im Rahmen des neuen EU-Haushalts sollte das ECDC mehr Geld erhalten, nicht nur für die akute Krisenbewältigung, sondern auch für die Krankheitsprävention und die Stärkung der Gesundheitssysteme.
Eine Aufwertung des ECDC zur zentralen Informationsstelle für Gesundheit in der EU bildet die Grundlage für eine gemeinsame europäische Gesundheitspolitik. Deutschland sollte die kommende EU-Ratspräsidentschaft nutzen, um eine tiefere Integration im Gesundheitsbereich und eine Stärkung des ECDC auf den Weg zu bringen. Der Vorstoß von Gesundheitsminister Jens Spahn für einen europäischen Gesundheitsdatenraum setzt bereits einen richtigen Akzent.
Eine Agenda für die deutsche Ratspräsidentschaft
doi:10.18449/2020A15