Mit der European Sky Shield Initiative hat Deutschland seinen Führungsanspruch bei der europäischen Luftverteidigung angemeldet. Verteidigung gemeinsam zu denken ist begrüßenswert, aber schwierig umzusetzen. Wichtige europäische Partner, allen voran Frankreich und Italien, sind derzeit nicht gewillt, Deutschland zu folgen. Die fehlende politische Einigkeit zeigt, dass der deutsche Vorstoß die europäischen Sicherheitsinteressen nicht genug berücksichtigt, Partner nicht überzeugt und viele Fragen zur strategischen, militärischen, industriellen und ökonomischen Ebene offen lässt. Soll die ESSI Europas Schutz im Bereich Luftverteidigung spürbar verbessern, muss Berlin Antworten zum strategischen Gleichgewicht, zur Entwicklung der europäischen Rüstungsindustrie und zu militärisch sinnvollen Lösungen geben. Der Aufwuchs einzelner militärischer Fähigkeiten wird keinen europäischen Sky Shield ermöglichen.
Bundeskanzler Olaf Scholz hat in seiner Prager Rede vom 29. August 2022 erklärt, dass Deutschland stark in seine Fähigkeiten bei der Luftverteidigung investieren will. Er sieht Deutschland dabei in einer Führungsrolle. Alle europäischen Partner seien eingeladen, sich ebenfalls zu engagieren. Sechs Wochen später, am Rande des Nato-Treffens in Brüssel, konkretisierte die damalige Verteidigungsministerin Christine Lambrecht diese Führungsrolle und unterzeichnete mit 14 Partnern eine Absichtserklärung mit dem Titel European Sky Shield Initiative (ESSI). Ziel ist es, Europa besser gegen Gefahren aus der Luft zu schützen. Zurzeit besteht in allen europäischen Streitkräften eine Fähigkeitslücke bei der Bekämpfung ballistischer Flugkörper, die in der obersten Abfangschicht fliegen und über 1.000 km Reichweite aufweisen. Deutschlands Versuch, diese Lücke zu schließen, ist zu begrüßen, denn nur gemeinsam lässt sich der Schutz für Europa merklich verbessern. Zwar ist die Idee nicht neu, doch aufgrund der veränderten Bedrohungswahrnehmung gegenüber Russland ist nun auch der Wille zum Handeln da. Momentan sind aber nicht alle Partner an einer Mitarbeit interessiert.
Fähigkeiten und die Lücke
Vor dem russischen Überfall auf die Ukraine kamen die Bemühungen, in Deutschland ein besseres Luftverteidigungssystem aufzubauen, kaum voran. Sie scheiterten an jahrelangen Sparmaßnahmen und am mangelnden Willen, diesem Bereich Vorrang einzuräumen und dort zu investieren. Rüstungskooperationen bei der Entwicklung des Medium Extended Air Defence System (MEADS) und des darauf aufbauenden Taktischen Luftverteidigungssystems (TLVS) wurden ohne Beschaffungsvereinbarungen beendet. Hauptgrund waren die exorbitanten Kosten.
Trotz der genannten Defizite kann die Bundeswehr einiges an Fähigkeiten vorweisen. Die Luftwaffe schützt rund um die Uhr den deutschen und teils den europäischen Luftraum, die Marine besitzt drei Luftverteidigungsfregatten, und zurzeit wird intensiv am Schutz vor kleinen und mittleren Drohnen gearbeitet. Bei der Luftverteidigung werden mehrere Abfangschichten unterschieden: der Nah- und Nächstbereich (bis 6 km) sowie die mittlere und die obere Abfangschicht (bis bzw. über 35 km). Zudem kann zwischen Reichweiten unter und über 100 km differenziert werden.
Für den Nah- und Nächstbereich setzt die Bundeswehr derzeit noch auf das System Ozelot, das bei Bewegung eigener Truppen den Schutz vor unbemannten Flugsystemen und Hubschraubern sicherstellen soll. Doch Ozelot ist veraltet und in viel zu geringer Stückzahl vorhanden, als dass es deutsche Streitkräfte im Kriegsfall bei landbasierten Operationen ausreichend schützen könnte. Nachfolger soll das Luftverteidigungssystem Nah- und Nächstbereichsschutz werden, das gegenwärtig den Beschaffungsprozess der Bundeswehr durchläuft.
Mit dem System Mantis lassen sich militärische und zivile Einrichtungen vor Raketen-, Artillerie- und Mörserbeschuss schützen. Doch der Aufbau benötigt Zeit, und die Verlegung ist aufwendig. Da nur zwei Systeme zur Verfügung stehen, können nur zwei Objekte gleichzeitig geschützt werden. Ein mobiler Schutz beweglich geführter Operationen ist nicht möglich.
Bei großen Reichweiten bis 100 km kommt das US-System Patriot mit seinen rund 70 km Reichweite zum Einsatz. Technisch ist es auf einem modernen Stand, doch die Bundeswehr hat von den ehemals 36 Staffeln nur noch zwölf, von denen eine an die Ukraine geliefert werden soll. 1990 umfassten die Flugabwehrraketenverbände 10.970 Dienstposten, heute sind es nur noch rund 2.300. Damit hat sich der deutsche Beitrag für die gemeinsame Luftverteidigung Europas innerhalb der Nato stark verringert. Die deutschen Fähigkeiten könnten nur eine Fläche schützen, die in etwa so groß ist wie das Stadtgebiet Berlins.
Gegenwärtig verfügt Deutschland über teils veraltete und zu wenige Systeme, um ausreichenden Schutz zu gewährleisten. Darüber hinaus gilt es, rasch die Fähigkeitslücke bei besonders großen Höhen zu schließen. Zu diesem Zweck will Deutschland das in Israel hergestellte System Arrow 3 beschaffen. Es weist vielversprechende Leistungsparameter auf, ist anscheinend zuverlässig und auch bereits einsatzreif.
In Europas Armeen sind zurzeit verschiedene Luftverteidigungssysteme im Einsatz. Kurze bis mittlere Reichweiten deckt das in Deutschland entwickelte und produzierte System IRIS-T SLM ab (Infra Red Imaging System-Tail/Surface Launched Medium Range). Davon hat Deutschland kürzlich einige an die Ukraine geliefert. Für IRIS-T gibt es unterschiedliche Lenkflugkörper (LFK), nämlich die Varianten SLS für kurze und SLM für mittlere Reichweiten. Für hohe Reichweiten soll die Variante SLX entwickelt werden.
Polen hat das britische System Common Anti-air Modular Missile (CAMM) bestellt, an dem Italien auch interessiert wäre. CAMM verfügt über vergleichbare Eigenschaften wie IRIS-T SLS.
Was große Reichweiten über 35 km betrifft, nutzen neben Deutschland sechs weitere europäische Verbündete das System Patriot. In einer europäischen Rüstungskooperation entwickelten Frankreich und Italien das System SAMP/T (Sol-Air Moyenne Portée/Terrestre, also Boden-Luft-Raketensystem mittlerer Reichweite) mit dem Lenkflugkörper Aster. SAMP/T weist ähnliche Parameter auf wie Patriot und wird derzeit zu SAMP/T NG (New Generation) weiterentwickelt. Dieses soll mit modernerer Technologie ausgestattet werden: neuer Aster-Rakete, neuem Multifunktions-AESA-Radar (Active Electronically Scanned Array), neuer Software für das C2-Modul (Führung und Steuerung) und neuer, verbesserter Startvorrichtung für die Lenkflugkörper. Ab 2025 soll es einsatzbereit sein.
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Im Bereich der ballistischen Flugkörperabwehr, also sehr großer Reichweiten über 100 km, betreiben die USA im Rahmen der Nato-Mission Ballistic Missile Defence (BMD) das Aegis-Ashore-System in Rumänien und ab 2023 in Polen. Die Systeme richten sich gegen neue Bedrohungen aus dem Nahen und Mittleren Osten, besonders Iran. Neben dem Aegis-System, ursprünglich für die US Navy entwickelt, setzen die USA das Boden-Luft-System THAAD (Terminal High Altitude Area Defence) ein. Dieses System wurde jedoch von keinem europäischen Land beschafft.
Seit 2019 entwickeln einige EU-Mitgliedstaaten im Rahmen der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) unter französischer Führung das Projekt Twister (Timely Warning and Interception with Space-based Theater Surveillance). Ziel ist es, eine europäische Mehrzweckabwehr mit raumgestützter Überwachung zu schaffen, die sich gegen neu auftretende Bedrohungen inklusive Hyperschallraketen richtet und bis 2030 in Betrieb genommen werden soll.
Wirkungsvolle Luftverteidigung
Luftverteidigung muss ganzheitlich gedacht werden. Sie ist technisch sehr anspruchsvoll, weil zahlreiche Faktoren aufeinandertreffen. Um Gefahren zu minimieren, muss deshalb die gesamte Wirkungskette von der Aufklärung einer Bedrohung mit Radar bzw. Satelliten über eine C2-Struktur mit der Bekämpfungseinheit perfekt verbunden sein. Der Gesamtprozess muss effizient und schnell sein, weil bei der Flugkörperabwehr mitunter lediglich Minuten zwischen Abschuss und Erreichen des Ziels vergehen. Ein Beispiel sind die in Kaliningrad stationierten russischen Iskander-Raketen. Bis Berlin würden sie nur wenige Minuten brauchen.
Integrierte Luftverteidigung bedeutet, dass sämtliche militärische Dimensionen berücksichtigt werden, also Land, Luft, See, Cyberraum und Weltraum. Darin werden verschiedene Systeme eingesetzt: Kampfjets, unbemannte Systeme, Bodensysteme, Luftverteidigungsfregatten, IT-Systeme und Satelliten. All diese Systeme werden so aufgestellt, dass sich gegenseitig überlagernde Schichten und Bereiche entstehen. Auf diese Weise soll es dem Gegner so schwer wie möglich gemacht werden, die Verteidigung zu überwinden. Um unverzüglich auf eine Gefahr reagieren zu können, muss Luftverteidigung rund um die Uhr darauf vorbereitet sein, feindliche Flugzeuge, Drohnen oder Flugkörper unterschiedlichster Reichweite und Flughöhe abzuwehren.
Diese Fähigkeiten sollen dem Gegner erfolgreiche Angriffe verwehren, das heißt ihm nicht erlauben, die Abwehrsysteme zu überfordern – weder technisch noch durch Saturierung, das heißt mengenmäßige Überlegenheit. Vollkommene Sicherheit ist ohnehin nicht zu erzielen, weil kein System der Welt hundertprozentigen Schutz garantieren kann. Technische Ausfälle können in der Gesamtwirkungskette ebenso auftreten wie menschliches Versagen.
Möglichkeiten der ESSI nutzen
Deutschland strebt schon länger an, durch Zusammenarbeit die Fähigkeitslücke bei der Raketenabwehr zu schließen. Erstmals wurde dies schon 2014 im Konzept der Rahmennationen (Framework Nations Concept, FNC) formuliert. Anhand dessen soll freiwillige Kooperation zwischen europäischen Nationen, und zwar nicht nur EU- oder Nato-Mitgliedern, gefördert werden, um »militärische Fähigkeiten gemeinsam und multinational zu entwickeln«. Dafür stellen die drei Rahmennationen Deutschland, Großbritannien und Italien bei unterschiedlichen Projekten sämtliche Unterstützungsleistungen wie Logistik, Führungseinrichtungen und Konzepte bereit, damit kleinere Nationen kostengünstig militärische Fähigkeiten erhalten können. Auffällig ist, dass außer der Rahmennation Großbritannien alle ESSI-Teilnehmer bereits im von Deutschland geführten FNC eingebunden sind. Dieses wurde aber bisher nicht umgesetzt, so dass immer noch Verbesserungsbedarf besteht.
Dieser Bedarf soll nun durch die European Sky Shield Initiative gedeckt werden, welche sich an einem kritischen Punkt befindet. Einerseits könnte Deutschland weitere europäische Partner einbinden und ein Gesamtkonzept zur europäischen Luftverteidigung vorlegen, damit die Fähigkeiten gebündelt und bestmöglich eingesetzt werden. Andererseits ist denkbar, dass die ESSI zur reinen Beschaffungsorganisation wird. Diese Option allerdings wäre ein Zeichen für Deutschlands Scheitern als Führungsnation bei der europäischen Luftverteidigung. Stattdessen sollte Deutschland seine angestrebte Führungsrolle aktiv ausgestalten. Konkret hieße dies, die Interoperabilität der unterschiedlichen Systeme durch gute IT- und Softwarelösungen zu erhöhen, den Aufwuchs von Fähigkeiten sinnvoll zu koordinieren sowie die geplanten Systementwicklungen im Rahmen der PESCO voranzutreiben und wirkungsvoll zu integrieren. Nimmt aber Deutschland diese Rolle nicht wahr, wird die ESSI ausschließlich dazu dienen, Geld zu sparen. Das wäre zwar ein kleiner Schritt nach vorn, aber kein Durchbruch im Sinne einer gemeinsamen europäischen Luftverteidigung. Es würde in geringem Maße helfen, mehr gleichartige Systeme in Europa verfügbar zu machen, aber das Ziel integrierte europäische Luftverteidigung (IELV), wie es die damalige Verteidigungsministerin ausgerufen hat, würde verfehlt. Dagegen wären die Vorteile einer auf allen Ebenen abgestimmten Luftverteidigung immens. Die Verbindung aller Radarsysteme würde ein überaus hilfreiches Lagebild erzeugen. Mehr und schneller übermittelte Informationen führen auch zu besseren Entscheidungen.
Ein im Bereich der Luftverteidigung geeintes Europa könnte zielgerichtete und effektive Rüstungsforschung betreiben und dadurch die europäische Unabhängigkeit von außereuropäischen Rüstungsgütern künftig weiter stärken. Vielversprechende Entwicklungen wie Twister und IRIS-T SLM/ SLS/SLX sind ein gutes Beispiel für europäische Lösungen. Wichtig an dieser Stelle ist, dass die europäischen Systeme gleichwertige oder bessere Leistungsmerkmale aufweisen und nicht bloß aufgrund von Lobbyismus und politischer Präferenzen favorisiert werden.
Überdies hätte die Etablierung einer IELV politische Signalwirkung. Damit würde Europa seinen Willen dokumentieren, sich selbst besser zu schützen.
Konfliktpotential auf fünf Ebenen
Eine Initiative wie die ESSI erzeugt Herausforderungen auf der politischen, strategischen, militärischen, industriellen und wirtschaftlichen Ebene. Da diese Herausforderungen aber offenbar nicht ausführlich analysiert wurden, tauchen auf allen fünf Ebenen Schwierigkeiten oder unbeantwortete Fragen auf.
Die politische Ebene
Wichtige europäische Partner wollen sich teils aus unterschiedlichen Motiven nicht an der ESSI beteiligen. Daraus lässt sich folgern, dass Deutschlands Zugkraft für eine europäische Führungsnation allein nicht ausreicht. In einem Kontext, in dem Berlin von vielen Seiten Alleingänge vorgeworfen werden, hegen etliche Partner große Vorbehalte gegen Deutschlands Idee.
Frankreich und Italien kritisieren die Wahl der Systeme und die fehlende Berücksichtigung der europäischen Alternativen, vor allem des SAMP/T. Beide fürchten auch, dass die ESSI das PESCO-Projekt Twister bedroht. Als Koordinator dieses Projekts legt Frankreich großen Wert darauf, dass es ein Erfolg wird.
Andere Staaten bevorzugen bilaterales Handeln. So entwickelt Polen gegenwärtig bilaterale Luftverteidigungsprogramme mit den USA (mittlere bis lange Reichweite) und Großbritannien (kurze Reichweite). Für die Modernisierung oder Beschaffung von Patriot-Systemen scheinen Spanien und Griechenland ebenfalls einen bilateralen Rahmen mit den USA zu präferieren.
Die Türkei würde der ESSI gern beitreten, soll aber nicht eingeladen worden sein, vermutlich weil sie russische S‑400-Systeme gekauft hat. Augenscheinlich hat dies eine konstruktive Zusammenarbeit unmöglich gemacht.
Es ist Deutschland (noch) nicht gelungen, die Bedenken wichtiger Partner im Hinblick auf seine Führungsrolle zu zerstreuen. Der politische Rahmen der Initiative ist bisher nicht klar genug definiert. Das ist aber nötig, wenn alle europäischen Nationen die Absicht verstehen und geschlossen die Luftverteidigung mitgestalten sollen. Die ESSI ist außerhalb der EU und der Nato angesiedelt, soll aber alle Europäer schützen und mit Nato-Systemen und ‑Prozeduren interoperabel bzw. kompatibel sein. Auch sollen alle Systeme in die Nato-Kommandostruktur integriert werden. An der ESSI beteiligt sind derzeit Staaten mit unterschiedlichem politischem Hintergrund. Großbritannien und Norwegen etwa sind in der Nato, aber nicht in der EU. Finnland ist Mitgliedstaat der EU, aber noch nicht ratifiziertes Mitglied der Nato. Letzteres gilt auch für Schweden, das Anfang Januar 2023 erklärt hat, der Initiative beitreten zu wollen. Die berechtigten Wünsche nach Berücksichtigung der spezifischen Interessen erschweren die Führungsarbeit für Deutschland ungemein.
Die strategische Ebene
Obwohl es sich um eine multinationale Ad-hoc-Initiative handelt, will Deutschland die ESSI in der Integrated Air and Missile Defence (IAMD) der Nato verankern. Die IAMD ist ein wichtiger Bestandteil der Deterrence-and-Defence-Strategie des Bündnisses. Im Kommuniqué des Brüsseler Gipfels 2021 wurde die IAMD als Mission beschrieben, die »in einem 360-Grad-Ansatz durchgeführt« wird und darauf zugeschnitten ist, »alle Luft- und Raketenbedrohungen aus allen strategischen Richtungen zu bekämpfen«. Bedrohungen aus Russland sind impli-zit inbegriffen. Dennoch sind bislang nur wenige Fähigkeiten tatsächlich dieser Aufgabe gewidmet. Die Einbindung des Arrow-3‑Systems wäre nicht nur eine Kapazitätsentwicklung, sondern auch eine Erweiterung des Fähigkeitsspektrums in Bezug auf die Reichweite und würde daher ein starkes Signal senden. Moskau könnte dies als weiteren Versuch des Westens deuten, das russische Abschreckungspotential zu reduzieren.
Die im Rahmen der IAMD angesiedelte Nato-BMD wurde offiziell darauf ausgelegt, Bedrohungen von »außerhalb des euro-atlantischen Raums« (Iran) zu bekämpfen. Um eine Eskalation zu vermeiden, richte sie sich aber ausdrücklich »nicht gegen Russland« und werde »die strategische Abschreckung Russlands nicht untergraben«. Zweifellos aber wendet sich die ESSI gegen eine Bedrohung aus Russland. Selbst wenn dies nicht gegen das politische Ziel der IAMD verstößt, stellt sich die Frage nach Kohärenz und Kompatibilität der Initiative mit der Nato-BMD. Die ESSI könnte also die Anstrengungen der Allianz konterkarieren, das strategische Gleichgewicht zu wahren. Das könnte eine Eskalation begünstigen. Es scheint, als habe man auf deutscher Seite eine solche Wirkung entweder nicht analysiert und antizipiert oder nehme sie schlichtweg in Kauf.
Die militärische Ebene
Zwischen Bundeskanzler Scholz’ Rede in Prag am 29. August und der Unterzeichnung der Absichtserklärung am 13. Oktober lagen nur sechs Wochen. Dieser Zeitraum war zu kurz, um mit Partnern und Verbündeten eine vertiefte Debatte über die Bedrohungsanalyse und mögliche Lösungen zu führen. Der operative Bedarf – also die Antwort auf die Frage, welche offensiven Waffen Europa bedrohen und welche defensiven Waffen am besten dagegen eingesetzt werden können – konnte nicht genau definiert werden. Anscheinend hat man sich daher übereilt auf bestimmte Systeme festgelegt, da sie am Markt verfügbar waren, statt sich am operativen Bedarf und anderen relevanten Faktoren zu orientieren.
Eine weitere Herausforderung liegt in der Interoperabilität von Arrow 3 mit den Nato-Systemen und in seinem potentiellen Anschluss an die Nato-Kommandostruktur. Das System muss vom Interoperability Board der Nato, in dem jeder Verbündete vertreten ist, genehmigt werden. Das ist kein Selbstläufer. So könnte die Türkei die Genehmigung mit Verweis darauf blockieren, dass die Nato mit Ankaras Kauf russischer S‑400-Systeme nicht einverstanden war.
Wird Arrow 3 genehmigt, wäre es eine Herausforderung, die Software den Bedürfnissen der europäischen Streitkräfte anzupassen und das System in die bisherigen Luftverteidigungsstrukturen Europas und der Nato einzubinden.
Die industrielle Ebene
Die Auswahl der Systeme, die auch eine wichtige politische Dimension enthält, wirft die Frage europäischer Souveränität auf. Patriot und Arrow 3, die beiden teuersten Systeme, die gemeinsam beschafft werden sollen, stammen nicht aus Europa. Die Ablehnung europäischer Alternativen steht im Widerspruch zum Ziel, Europas industrielle und technologische Verteidigungsbasis zu stärken. Dabei wurde dieses Ziel sowohl im Strategischen Kompass der EU als auch in deutschen strategischen Dokumenten, etwa im Weißbuch 2016, nachdrücklich bekräftigt. Die Wahl der Systeme ist daher entscheidend und wird langfristige Folgen für Europas industrielle und technologische Verteidigungsbasis haben. Es geht um Erhalt oder Abbau von Arbeitsplätzen und Kompetenzen sowie um mehr oder weniger Abhängigkeiten in Schlüsselbereichen.
Die kommenden Beschaffungen und späteren Entwicklungen im Rahmen der ESSI sollten auch mit den Bemühungen der EU-Kommission und der europäischen Verteidigungsagentur vereinbar sein. Diese arbeiten eifrig an der Einführung zweier Finanzinstrumente: Der European Defence Industry Reinforcement through Common Procurement Act (EDIRPA) soll die Basis dafür bilden, kurzfristig die gemeinsame Beschaffung der dringendsten kritischen Verteidigungsgüter zu finanzieren. Das European Defence Investment Programme (EDIP) soll längerfristig »als Dreh- und Angelpunkt für künftige gemeinsame Entwicklungs- und Beschaffungsprojekte von hohem gemeinsamem Interesse« dienen.
Zu achten ist jedoch darauf, dass die Entwicklung künftiger europäischer Fähigkeiten nicht gefährdet wird. Kurzfristige Kaufentscheidungen werden langfristige Folgen für Eigenentwicklungen haben, denn Geld, das für die Beschaffung außereuropäischer Waffensysteme ausgegeben wird, fehlt für europäische Forschung und Entwicklung. Daher muss der Mehrwert europäischer Produkte bewiesen werden. Sie werden nur dann gekauft, wenn sie konkurrenzfähig oder besser sind als vergleichbare nichteuropäische Systeme.
Die wirtschaftliche Ebene
Um die weiteren ESSI-Mitglieder von der Wahl der Systeme, nicht nur von Arrow 3, zu überzeugen, müssen auch finanzielle Aspekte eine zentrale Rolle spielen. Marktverfügbare Systeme lassen sich zwar zu einem günstigeren Preis beschaffen, wenn mehrere Interessenten gemeinsam als Käufer auftreten. Es handelt sich jedoch um sehr teure Systeme, vor allem für lange Reichweiten.
Ein zu hoher Preis für die Beschaffung der Systeme und der zugehörigen Raketen kann demotivierend wirken. Selbst wenn alle europäischen Länder ihre Verteidigungsausgaben erhöhen, sind viele nach wie vor nicht in der Lage, sich an Beschaffungen komplexer und teurer Waffensysteme zu beteiligen. Nach der Beschaffung sind weitere beträchtliche Kosten für Ausbildung, Instandhaltung und eventuell längerfristige Modernisierung einzurechnen. Die Verteidigung im Bereich Luft- und Raketenabwehr ist weitaus kostspieliger als die Angriffsfähigkeiten. All dies muss in voller Transparenz auch in der Gesamtrechnung zu Buche schlagen.
Aufgabe der Bundesregierung ist es, ein passendes Gleichgewicht zwischen den fünf Ebenen zu finden und gegebenenfalls eine Hierarchie unter ihnen zu erstellen.
Fazit
Damit die ESSI ein Erfolg wird, sollte die Bundesregierung schnell ein umsetzbares Konzept für die europäische Luftverteidigung vorlegen und glaubhaft verdeutlichen, wie sie dies politisch verwirklichen will. Zuerst sollte eine umfassende kritische Bestandsaufnahme der europäischen Fähigkeiten erstellt werden. Größtmögliche Anstrengung ist nötig, um die zuvor beschriebene Fähigkeitslücke zu schließen. Um neue und alte Systeme besser zu integrieren, sind intelligente Softwarelösungen in Absprache mit der Industrie ein praktikabler erster Ansatz. Vorstellbar wäre auch ein eigenes Softwareentwicklungslabor der Bundeswehr, welches eng mit den Ingenieuren der Industrie zusammenarbeitet.
Deutschland als Koordinator der ESSI muss bei der Finanzierung der Luftverteidigung Europas mit gutem Beispiel vorangehen. Mit rund 5 Milliarden Euro aus dem Sondervermögen ist dafür ein erster Schritt getan. Darüber hinaus werden regelmäßig Mittel aus dem regulären Verteidigungsetat in Forschung und Entwicklung, die technische Verbesserung bestehender Systeme sowie Neuanschaffungen fließen müssen. Letztere werden zudem hohe Kosten für Betrieb, Übungen und Erhalt verursachen. Dies ist in der Finanzplanung der Bundeswehr noch nicht berücksichtigt. Auch wird die Bundeswehr weitere Dienstposten für die Luftverteidigung schaffen müssen, denn nur mit gut ausgebildetem Personal lassen sich die ambitionierten Pläne langfristig durchhaltefähig umsetzen. Hilfreich wäre auch, den politischen und strategischen Rahmen der Initiative klarer zu definieren.
Um Partner vom ökonomischen Mehrwert der ESSI zu überzeugen, wird Deutschland seinem Konzept für die europäische Luftverteidigung ein vollständiges Kostenmodell hinzufügen müssen. Hier müssen Inflation, Preissteigerungen bei Rüstungsgütern von rund 5% jährlich und weitere Faktoren realistisch eingerechnet werden.
Schließlich ist das tatsächliche militärische Leistungsvermögen der neuen Fähigkeiten und Maßnahmen unter Beweis zu stellen. Diese könnten im Rahmen einer jährlichen Nato-Zertifizierungsübung überprüft werden. Hier kommt es vor allem darauf an, mit sich selbst kritisch umzugehen, Unzulänglichkeiten und Abstimmungsprobleme nicht hinzunehmen und mit allem Ehrgeiz an der Verbesserung der eigenen Fähigkeiten zu arbeiten.
Die zu lösende Gesamtgleichung lautet: Die Fähigkeitslücke ist schnellstmöglich zu schließen, ohne die europäischen Entwicklungsprogramme zu schwächen oder gar zu gefährden; und das Gleichgewicht zwischen der politischen, strategischen, industriellen, militärischen und wirtschaftlichen Anforderung muss sorgfältig austariert werden. Darüber hinaus ist die Teilnahme Frankreichs und Italiens für den Erfolg der Initiative unverzichtbar. Die fehlende Absprache zwischen Berlin und Paris hat für heftige Irritation in Frankreich gesorgt und zur kurzfristigen Verschiebung des Deutsch-Französischen Ministerrats beigetragen. Dabei handelt es sich nur um das jüngste Beispiel für mangelnde Einbindung des jeweiligen Partners. Präsident Macrons Vorstoß für eine Europäische Politische Gemeinschaft wurde in Berlin als Alleingang betrachtet. Paris wiederum richtete denselben Vorwurf an die Bundesregierung wegen der ESSI sowie der Gas- und Strompreisbremse. Diese Praxis sollte schleunigst korrigiert werden, um die im Aachener Vertrag 2019 eingegangenen Verpflichtungen einzuhalten, die da lauten, »einander [zu] konsultieren mit dem Ziel, gemeinsame Standpunkte bei allen wichtigen Entscheidungen festzulegen, die ihre gemeinsamen Interessen berühren, und, wann immer möglich, gemeinsam zu handeln«. Jenseits dieser deutsch-französischen Misshelligkeiten aufgrund der beidseits eigenmächtigen Verfahrensweise gibt es in Paris und Rom fundamentale Bedenken, die Deutschland beherzigen sollte. Es muss ein Kompromiss gefunden werden, der sowohl die Kerninteressen Deutschlands, also die schnelle Umsetzung der ESSI, berücksichtigt, als auch jene Frankreichs und Italiens, nämlich die europäische Souveränität und den Erhalt des strategischen Gleichgewichts. Der erste deutsche Schritt zu einem solchen Kompromiss könnte darin bestehen, die europäische Industrie stärker in die ESSI einzubinden und auf höchstem politischem Niveau die Ambition zu bekräftigen, das Projekt Twister erfolgreich abzuschließen. Gelegenheit dazu bietet der Deutsch-Französische Ministerrat am 22. Januar 2023.
Sven Arnold und Major i.G. Torben Arnold sind Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.
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DOI: 10.18449/2023A02