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Deutschlands schwache Führungsrolle bei der europäischen Luftverteidigung

Korrekturbedarf auf allen Ebenen der European Sky Shield Initiative

SWP-Aktuell 2023/A 02, 19.01.2023, 8 Pages

doi:10.18449/2023A02

Research Areas

Mit der European Sky Shield Initiative hat Deutschland seinen Führungsanspruch bei der europäischen Luftverteidigung angemeldet. Verteidigung gemeinsam zu denken ist begrüßenswert, aber schwierig umzusetzen. Wichtige europäische Partner, allen voran Frankreich und Italien, sind derzeit nicht gewillt, Deutschland zu folgen. Die fehlende politische Einigkeit zeigt, dass der deutsche Vorstoß die europäischen Sicher­heitsinteressen nicht genug berücksichtigt, Partner nicht überzeugt und viele Fragen zur strategischen, militärischen, industriellen und ökonomischen Ebene offen lässt. Soll die ESSI Europas Schutz im Bereich Luftverteidigung spürbar ver­bes­sern, muss Berlin Antworten zum strategischen Gleichgewicht, zur Entwicklung der europäischen Rüstungsindustrie und zu militärisch sinnvollen Lösungen geben. Der Aufwuchs ein­zelner militärischer Fähigkeiten wird keinen europäischen Sky Shield ermöglichen.

Bundeskanzler Olaf Scholz hat in seiner Prager Rede vom 29. August 2022 erklärt, dass Deutsch­land stark in seine Fähig­keiten bei der Luftverteidigung investieren will. Er sieht Deutschland dabei in einer Führungsrolle. Alle europäischen Partner seien ein­ge­laden, sich ebenfalls zu engagieren. Sechs Wochen später, am Rande des Nato-Treffens in Brüs­sel, konkretisierte die damalige Ver­teidigungsministerin Christine Lambrecht diese Füh­rungsrolle und unterzeichnete mit 14 Part­nern eine Absichtserklärung mit dem Titel European Sky Shield Initiative (ESSI). Ziel ist es, Europa besser gegen Gefahren aus der Luft zu schützen. Zurzeit besteht in allen euro­päischen Streitkräften eine Fähig­keitslücke bei der Bekämpfung ballistischer Flugkörper, die in der obersten Abfangschicht fliegen und über 1.000 km Reich­weite aufweisen. Deutschlands Versuch, diese Lücke zu schließen, ist zu begrüßen, denn nur gemeinsam lässt sich der Schutz für Europa merklich verbessern. Zwar ist die Idee nicht neu, doch aufgrund der ver­änderten Bedrohungswahrnehmung gegen­über Russland ist nun auch der Wille zum Handeln da. Momentan sind aber nicht alle Partner an einer Mitarbeit interessiert.

Fähigkeiten und die Lücke

Vor dem russischen Überfall auf die Ukra­ine kamen die Bemü­hungen, in Deutschland ein besseres Luftverteidigungssystem aufzubauen, kaum voran. Sie scheiterten an jahrelangen Sparmaßnahmen und am mangelnden Willen, diesem Bereich Vor­rang einzuräumen und dort zu investieren. Rüstungskooperationen bei der Entwicklung des Medium Extended Air Defence System (MEADS) und des darauf aufbauenden Taktischen Luftverteidigungssystems (TLVS) wurden ohne Beschaffungsverein­barungen beendet. Hauptgrund waren die exorbitanten Kosten.

Trotz der genannten Defizite kann die Bundeswehr einiges an Fähigkeiten vor­weisen. Die Luftwaffe schützt rund um die Uhr den deutschen und teils den euro­päi­schen Luft­raum, die Marine besitzt drei Luftverteidigungsfregatten, und zurzeit wird intensiv am Schutz vor kleinen und mitt­le­ren Droh­nen gearbeitet. Bei der Luftverteidigung werden mehrere Abfangschich­ten unterschieden: der Nah- und Nächstbereich (bis 6 km) sowie die mittlere und die obere Ab­fangschicht (bis bzw. über 35 km). Zudem kann zwischen Reichweiten unter und über 100 km differenziert werden.

Für den Nah- und Nächstbereich setzt die Bundeswehr derzeit noch auf das System Ozelot, das bei Bewegung eigener Truppen den Schutz vor unbemannten Flugsystemen und Hubschraubern sicherstellen soll. Doch Oze­lot ist veraltet und in viel zu geringer Stückzahl vorhanden, als dass es deutsche Streitkräfte im Kriegsfall bei landbasier­ten Operationen ausreichend schützen könnte. Nachfolger soll das Luftverteidigungssystem Nah- und Nächstbereichsschutz werden, das gegenwärtig den Beschaffungsprozess der Bun­deswehr durchläuft.

Mit dem System Mantis lassen sich mili­tärische und zivile Einrichtungen vor Rake­ten-, Artillerie- und Mörserbeschuss schüt­zen. Doch der Aufbau benötigt Zeit, und die Verlegung ist aufwendig. Da nur zwei Syste­me zur Ver­fügung stehen, können nur zwei Objek­te gleichzeitig geschützt werden. Ein mobiler Schutz beweg­lich geführter Opera­tionen ist nicht möglich.

Bei großen Reichweiten bis 100 km kommt das US-System Patriot mit seinen rund 70 km Reichweite zum Ein­satz. Tech­nisch ist es auf einem modernen Stand, doch die Bun­deswehr hat von den ehemals 36 Staffeln nur noch zwölf, von denen eine an die Ukraine gelie­fert werden soll. 1990 um­fassten die Flugabwehrraketen­verbände 10.970 Dienst­posten, heute sind es nur noch rund 2.300. Damit hat sich der deut­sche Beitrag für die gemeinsame Luftverteidigung Euro­pas innerhalb der Nato stark ver­ringert. Die deutschen Fähigkeiten könn­ten nur eine Fläche schützen, die in etwa so groß ist wie das Stadtgebiet Berlins.

Gegenwärtig verfügt Deutschland über teils veraltete und zu wenige Systeme, um ausreichenden Schutz zu gewährleisten. Darüber hinaus gilt es, rasch die Fähigkeitslücke bei beson­ders großen Höhen zu schlie­ßen. Zu diesem Zweck will Deutschland das in Israel hergestellte System Arrow 3 beschaffen. Es weist vielversprechende Leistungsparameter auf, ist anscheinend zuverlässig und auch bereits einsatzreif.

In Europas Armeen sind zurzeit verschie­dene Luftverteidigungssysteme im Einsatz. Kurze bis mittlere Reich­weiten deckt das in Deutschland entwickelte und produ­zierte System IRIS-T SLM ab (Infra Red Imaging System-Tail/Surface Launched Medium Range). Davon hat Deutschland kürzlich einige an die Ukraine geliefert. Für IRIS-T gibt es unterschiedliche Lenkflugkörper (LFK), nämlich die Vari­anten SLS für kurze und SLM für mittlere Reichweiten. Für hohe Reichweiten soll die Variante SLX entwickelt werden.

Polen hat das britische System Common Anti-air Modular Missile (CAMM) bestellt, an dem Italien auch interessiert wäre. CAMM verfügt über vergleichbare Eigenschaften wie IRIS-T SLS.

Was große Reichweiten über 35 km betrifft, nutzen neben Deutschland sechs weitere europäische Verbündete das System Patriot. In einer europäischen Rüstungs­kooperation entwickelten Frankreich und Italien das Sys­tem SAMP/T (Sol-Air Moyenne Portée/Ter­restre, also Boden-Luft-Raketen­system mitt­lerer Reichweite) mit dem Lenk­flugkörper Aster. SAMP/T weist ähnliche Parameter auf wie Patriot und wird derzeit zu SAMP/T NG (New Gen­eration) weiter­entwickelt. Dieses soll mit modernerer Technologie ausgestattet werden: neuer Aster-Rakete, neuem Multifunktions-AESA-Radar (Active Electronically Scanned Array), neuer Software für das C2-Modul (Führung und Steuerung) und neuer, verbesserter Start­vorrichtung für die Lenkflugkörper. Ab 2025 soll es einsatzbereit sein.

Im Bereich der ballistischen Flugkörperabwehr, also sehr großer Reichweiten über 100 km, betreiben die USA im Rahmen der Nato-Mission Ballistic Missile Defence (BMD) das Aegis-Ashore-System in Rumänien und ab 2023 in Polen. Die Systeme richten sich gegen neue Bedrohungen aus dem Nahen und Mittleren Osten, besonders Iran. Neben dem Aegis-System, ursprünglich für die US Navy entwickelt, setzen die USA das Boden-Luft-System THAAD (Terminal High Altitude Area Defence) ein. Dieses System wurde jedoch von keinem europäischen Land beschafft.

Seit 2019 entwickeln einige EU-Mitglied­staaten im Rahmen der Ständigen Strukturierten Zusammenarbeit (PESCO) unter französischer Führung das Projekt Twister (Timely Warning and Interception with Space-based Theater Surveillance). Ziel ist es, eine europäische Mehrzweckabwehr mit raumgestützter Überwachung zu schaffen, die sich gegen neu auftretende Bedrohungen inklusive Hyperschallraketen richtet und bis 2030 in Betrieb genommen werden soll.

Wirkungsvolle Luftverteidigung

Luftverteidigung muss ganzheitlich gedacht werden. Sie ist technisch sehr anspruchsvoll, weil zahlreiche Faktoren aufeinandertreffen. Um Gefahren zu minimieren, muss deshalb die gesamte Wirkungskette von der Auf­klärung einer Bedrohung mit Radar bzw. Satelliten über eine C2-Struktur mit der Bekämpfungseinheit perfekt verbunden sein. Der Gesamtprozess muss effizient und schnell sein, weil bei der Flugkörperabwehr mit­unter lediglich Minuten zwischen Ab­schuss und Erreichen des Ziels vergehen. Ein Beispiel sind die in Kaliningrad stationier­ten russi­schen Iskander-Raketen. Bis Berlin würden sie nur wenige Minuten brauchen.

Integrierte Luftverteidigung bedeutet, dass sämtliche militärische Dimensionen berück­sichtigt werden, also Land, Luft, See, Cyberraum und Weltraum. Darin werden verschiedene Systeme eingesetzt: Kampfjets, unbemannte Systeme, Bodensysteme, Luft­verteidigungsfregatten, IT-Systeme und Satelliten. All diese Systeme werden so auf­gestellt, dass sich gegenseitig überlagernde Schichten und Bereiche entstehen. Auf diese Weise soll es dem Gegner so schwer wie möglich gemacht werden, die Verteidigung zu überwinden. Um unverzüglich auf eine Gefahr reagieren zu können, muss Luftverteidigung rund um die Uhr darauf vor­bereitet sein, feindliche Flugzeuge, Droh­nen oder Flugkörper unterschiedlich­ster Reichweite und Flughöhe abzuwehren.

Diese Fähigkeiten sollen dem Gegner erfolgreiche Angriffe verwehren, das heißt ihm nicht erlauben, die Abwehrsysteme zu über­fordern – weder technisch noch durch Saturierung, das heißt mengenmäßige Überlegenheit. Vollkommene Sicherheit ist ohnehin nicht zu erzielen, weil kein System der Welt hundertprozentigen Schutz garan­tieren kann. Technische Ausfälle können in der Gesamtwirkungskette ebenso auftreten wie mensch­liches Versagen.

Möglichkeiten der ESSI nutzen

Deutschland strebt schon länger an, durch Zusammenarbeit die Fähigkeitslücke bei der Raketenabwehr zu schließen. Erst­mals wurde dies schon 2014 im Konzept der Rah­mennationen (Framework Nations Concept, FNC) formuliert. Anhand dessen soll frei­willige Kooperation zwischen europäischen Natio­nen, und zwar nicht nur EU- oder Nato-Mitgliedern, gefördert werden, um »militä­rische Fähigkeiten gemeinsam und multi­national zu entwickeln«. Dafür stellen die drei Rahmennationen Deutschland, Groß­britannien und Italien bei unterschiedlichen Projekten sämtliche Unterstützungsleistungen wie Logistik, Führungs­einrichtungen und Kon­zepte bereit, damit kleinere Natio­nen kos­tengünstig militärische Fähigkeiten erhal­ten können. Auffällig ist, dass außer der Rahmennation Groß­britannien alle ESSI-Teilnehmer bereits im von Deutsch­land geführ­ten FNC eingebunden sind. Dieses wurde aber bisher nicht umgesetzt, so dass immer noch Ver­besserungsbedarf besteht.

Dieser Bedarf soll nun durch die Euro­pean Sky Shield Initiative gedeckt werden, welche sich an einem kri­tischen Punkt befindet. Einerseits könnte Deutschland weitere europäische Partner einbinden und ein Gesamtkonzept zur europäischen Luft­verteidigung vorlegen, damit die Fähigkeiten gebündelt und bestmöglich eingesetzt werden. Andererseits ist denkbar, dass die ESSI zur reinen Beschaffungsorganisation wird. Diese Option allerdings wäre ein Zeichen für Deutschlands Scheitern als Füh­rungsnation bei der euro­päischen Luftverteidigung. Stattdessen sollte Deutschland seine angestrebte Führungsrolle aktiv aus­gestalten. Konkret hieße dies, die Inter­operabilität der unterschiedlichen Systeme durch gute IT- und Softwarelösungen zu erhöhen, den Aufwuchs von Fähigkeiten sinnvoll zu koordinieren sowie die geplan­ten Systementwicklungen im Rahmen der PESCO voranzutreiben und wirkungsvoll zu integrieren. Nimmt aber Deutschland diese Rolle nicht wahr, wird die ESSI aus­schließ­lich dazu dienen, Geld zu sparen. Das wäre zwar ein kleiner Schritt nach vorn, aber kein Durchbruch im Sinne einer ge­meinsamen europäischen Luftverteidigung. Es würde in geringem Maße helfen, mehr gleich­artige Systeme in Europa verfügbar zu machen, aber das Ziel integrierte euro­päische Luftverteidigung (IELV), wie es die damalige Verteidigungsministerin ausgerufen hat, würde verfehlt. Dagegen wären die Vorteile einer auf allen Ebenen abge­stimmten Luftverteidigung immens. Die Verbindung aller Radarsysteme würde ein überaus hilfreiches Lagebild erzeugen. Mehr und schneller übermittelte Informationen führen auch zu besseren Entscheidungen.

Ein im Bereich der Luftverteidigung ge­eintes Europa könnte zielgerichtete und effektive Rüstungsforschung betreiben und dadurch die europäische Un­abhängigkeit von außereuropäischen Rüs­tungsgütern künftig weiter stärken. Vielversprechende Entwicklungen wie Twister und IRIS-T SLM/ SLS/SLX sind ein gutes Beispiel für europäische Lösungen. Wichtig an dieser Stelle ist, dass die europäischen Systeme gleichwertige oder bessere Leistungsmerkmale auf­weisen und nicht bloß aufgrund von Lobby­ismus und politischer Präferenzen favori­siert werden.

Überdies hätte die Etablierung einer IELV politische Signalwirkung. Damit würde Europa seinen Willen dokumentieren, sich selbst besser zu schützen.

Konfliktpotential auf fünf Ebenen

Eine Initiative wie die ESSI erzeugt Heraus­forderungen auf der politischen, strategischen, militärischen, industriellen und wirt­schaftlichen Ebene. Da diese Herausforderungen aber offenbar nicht ausführlich analysiert wurden, tauchen auf allen fünf Ebenen Schwierigkeiten oder unbeantwortete Fragen auf.

Die politische Ebene

Wichtige europäische Partner wollen sich teils aus unterschiedlichen Motiven nicht an der ESSI beteiligen. Daraus lässt sich folgern, dass Deutschlands Zugkraft für eine europäische Führungsnation allein nicht ausreicht. In einem Kontext, in dem Berlin von vielen Seiten Alleingänge vor­geworfen werden, hegen etliche Partner große Vorbehalte gegen Deutschlands Idee.

Frankreich und Italien kritisieren die Wahl der Systeme und die fehlende Berück­sichtigung der europäischen Alternativen, vor allem des SAMP/T. Beide fürchten auch, dass die ESSI das PESCO-Projekt Twister bedroht. Als Koordinator dieses Projekts legt Frankreich großen Wert darauf, dass es ein Erfolg wird.

Andere Staaten bevorzugen bilaterales Handeln. So entwickelt Polen gegenwärtig bilaterale Luftverteidigungsprogramme mit den USA (mittlere bis lange Reichweite) und Großbritannien (kurze Reichweite). Für die Modernisierung oder Beschaffung von Patriot-Systemen scheinen Spanien und Griechenland ebenfalls einen bila­teralen Rah­men mit den USA zu präfe­rieren.

Die Türkei würde der ESSI gern beitreten, soll aber nicht eingeladen worden sein, ver­mutlich weil sie russische S‑400-Systeme gekauft hat. Augenscheinlich hat dies eine konstruktive Zusammenarbeit unmöglich gemacht.

Es ist Deutschland (noch) nicht gelungen, die Bedenken wichtiger Partner im Hinblick auf seine Führungsrolle zu zerstreuen. Der politische Rahmen der Initiative ist bisher nicht klar genug definiert. Das ist aber nötig, wenn alle europäischen Nationen die Ab­sicht verstehen und geschlossen die Luftver­teidigung mitgestalten sollen. Die ESSI ist außerhalb der EU und der Nato angesiedelt, soll aber alle Europäer schützen und mit Nato-Systemen und ‑Prozeduren interopera­bel bzw. kompatibel sein. Auch sollen alle Systeme in die Nato-Kommandostruktur integriert werden. An der ESSI beteiligt sind der­zeit Staaten mit unterschiedlichem poli­tischem Hintergrund. Großbritannien und Norwegen etwa sind in der Nato, aber nicht in der EU. Finnland ist Mitgliedstaat der EU, aber noch nicht ratifiziertes Mitglied der Nato. Letzteres gilt auch für Schweden, das Anfang Januar 2023 erklärt hat, der Initia­tive beitreten zu wollen. Die berechtigten Wünsche nach Berücksichtigung der spezi­fischen Interessen erschweren die Führungsarbeit für Deutschland ungemein.

Die strategische Ebene

Obwohl es sich um eine multinationale Ad-hoc-Initiative handelt, will Deutschland die ESSI in der Integrated Air and Missile Defence (IAMD) der Nato verankern. Die IAMD ist ein wichtiger Bestandteil der Deter­rence-and-Defence-Strategie des Bünd­nisses. Im Kommuniqué des Brüsseler Gipfels 2021 wurde die IAMD als Mission beschrieben, die »in einem 360-Grad-Ansatz durchgeführt« wird und darauf zugeschnitten ist, »alle Luft- und Raketenbedrohungen aus allen strategischen Richtungen zu be­kämp­fen«. Bedrohungen aus Russland sind impli-zit inbegriffen. Dennoch sind bislang nur wenige Fähigkeiten tatsächlich dieser Auf­gabe gewidmet. Die Einbindung des Arrow-3‑Systems wäre nicht nur eine Kapazitätsentwicklung, sondern auch eine Erweiterung des Fähigkeitsspektrums in Bezug auf die Reichweite und würde daher ein starkes Sig­nal senden. Moskau könnte dies als weiteren Versuch des Westens deuten, das russische Abschreckungspotential zu redu­zieren.

Die im Rahmen der IAMD angesiedelte Nato-BMD wurde offiziell darauf ausgelegt, Bedrohungen von »außerhalb des euro-atlantischen Raums« (Iran) zu bekämpfen. Um eine Eskalation zu vermeiden, richte sie sich aber ausdrücklich »nicht gegen Russ­land« und werde »die strategische Ab­schreckung Russlands nicht untergraben«. Zweifellos aber wendet sich die ESSI gegen eine Bedrohung aus Russland. Selbst wenn dies nicht gegen das politische Ziel der IAMD verstößt, stellt sich die Frage nach Kohärenz und Kompatibilität der Initiative mit der Nato-BMD. Die ESSI könnte also die Anstren­gungen der Allianz konterkarieren, das strategische Gleichgewicht zu wahren. Das könnte eine Eskalation begünstigen. Es scheint, als habe man auf deutscher Seite eine solche Wirkung entweder nicht ana­lysiert und antizipiert oder nehme sie schlichtweg in Kauf.

Die militärische Ebene

Zwischen Bundeskanzler Scholz’ Rede in Prag am 29. August und der Unterzeichnung der Absichtserklärung am 13. Oktober lagen nur sechs Wochen. Dieser Zeitraum war zu kurz, um mit Partnern und Verbündeten eine vertiefte Debatte über die Bedrohungs­analyse und mögliche Lösungen zu führen. Der operative Bedarf – also die Antwort auf die Frage, welche offensiven Waffen Europa bedrohen und welche defensiven Waffen am besten dagegen eingesetzt wer­den können – konnte nicht genau defi­niert werden. Anscheinend hat man sich daher übereilt auf bestimmte Systeme fest­gelegt, da sie am Markt verfügbar waren, statt sich am operativen Bedarf und ande­ren relevanten Faktoren zu orientieren.

Eine weitere Herausforderung liegt in der Interoperabilität von Arrow 3 mit den Nato-Systemen und in seinem potentiellen An­schluss an die Nato-Kommandostruktur. Das System muss vom Interoperability Board der Nato, in dem jeder Verbündete vertreten ist, genehmigt werden. Das ist kein Selbstläufer. So könnte die Türkei die Ge­neh­migung mit Verweis darauf blockieren, dass die Nato mit Ankaras Kauf russischer S‑400-Systeme nicht einverstanden war.

Grafik 2

Wird Arrow 3 genehmigt, wäre es eine Herausforderung, die Software den Bedürf­nissen der europäischen Streitkräfte anzu­passen und das System in die bisherigen Luft­verteidigungsstrukturen Europas und der Nato einzubinden.

Die industrielle Ebene

Die Auswahl der Systeme, die auch eine wichtige politische Dimension enthält, wirft die Frage europäischer Souveränität auf. Patriot und Arrow 3, die beiden teuer­sten Systeme, die ge­meinsam beschafft werden sollen, stammen nicht aus Europa. Die Ab­lehnung europäischer Alternativen steht im Widerspruch zum Ziel, Europas industrielle und tech­nologische Verteidigungsbasis zu stärken. Dabei wurde dieses Ziel sowohl im Stra­tegischen Kompass der EU als auch in deut­schen strategischen Dokumenten, etwa im Weißbuch 2016, nachdrücklich bekräf­tigt. Die Wahl der Systeme ist daher ent­scheidend und wird langfristige Folgen für Europas industrielle und technologische Verteidigungsbasis haben. Es geht um Er­halt oder Abbau von Arbeitsplätzen und Kompetenzen sowie um mehr oder weniger Abhängig­keiten in Schlüsselbereichen.

Die kommenden Beschaffungen und späteren Entwicklungen im Rahmen der ESSI sollten auch mit den Bemühungen der EU-Kommission und der europäischen Ver­teidigungsagentur vereinbar sein. Diese arbeiten eifrig an der Einführung zweier Finanzinstrumente: Der European Defence Industry Reinforcement through Common Procurement Act (EDIRPA) soll die Basis dafür bilden, kurzfristig die gemeinsame Beschaffung der dringendsten kritischen Verteidigungsgüter zu finanzieren. Das European Defence Investment Programme (EDIP) soll längerfristig »als Dreh- und Angel­punkt für künftige gemeinsame Entwicklungs- und Beschaffungsprojekte von hohem gemeinsamem Interesse« dienen.

Zu achten ist jedoch darauf, dass die Ent­wicklung künftiger europäischer Fähigkeiten nicht gefährdet wird. Kurzfristige Kauf­entscheidungen werden langfristige Folgen für Eigenentwicklungen haben, denn Geld, das für die Beschaffung außereuropäischer Waffensysteme ausgegeben wird, fehlt für europäische Forschung und Entwicklung. Daher muss der Mehrwert europäischer Produkte bewiesen werden. Sie werden nur dann gekauft, wenn sie konkurrenz­fähig oder besser sind als ver­gleichbare nicht­europäi­sche Systeme.

Die wirtschaftliche Ebene

Um die weiteren ESSI-Mitglieder von der Wahl der Systeme, nicht nur von Arrow 3, zu überzeugen, müssen auch finanzielle Aspekte eine zentrale Rolle spielen. Markt­verfügbare Systeme lassen sich zwar zu einem günstigeren Preis beschaffen, wenn mehrere Interessenten gemeinsam als Käufer auftreten. Es handelt sich jedoch um sehr teure Systeme, vor allem für lange Reich­weiten.

Ein zu hoher Preis für die Beschaffung der Systeme und der zugehörigen Raketen kann demotivierend wirken. Selbst wenn alle europäischen Länder ihre Verteidigungs­ausgaben erhöhen, sind viele nach wie vor nicht in der Lage, sich an Beschaffungen komplexer und teurer Waffen­systeme zu beteiligen. Nach der Beschaffung sind weitere beträcht­liche Kosten für Aus­bildung, Instandhaltung und eventuell längerfristige Modernisierung einzurechnen. Die Vertei­di­gung im Bereich Luft- und Raketenabwehr ist weitaus kostspieliger als die Angriffs­fähigkeiten. All dies muss in voller Trans­parenz auch in der Gesamtrechnung zu Buche schlagen.

Aufgabe der Bundesregierung ist es, ein passendes Gleichgewicht zwischen den fünf Ebenen zu finden und gegebenenfalls eine Hierarchie unter ihnen zu erstellen.

Fazit

Damit die ESSI ein Erfolg wird, sollte die Bundesregierung schnell ein umsetzbares Konzept für die europäische Luftverteidigung vorlegen und glaubhaft verdeutlichen, wie sie dies politisch verwirklichen will. Zuerst sollte eine umfassende kritische Bestandsaufnahme der europäischen Fähig­keiten erstellt werden. Größtmögliche An­strengung ist nötig, um die zuvor beschriebene Fähigkeitslücke zu schließen. Um neue und alte Systeme besser zu integrieren, sind intelli­gente Softwarelösungen in Absprache mit der Industrie ein prakti­kabler erster Ansatz. Vorstellbar wäre auch ein eigenes Softwareentwicklungs­labor der Bundeswehr, welches eng mit den Ingenieuren der Industrie zusammenarbeitet.

Deutschland als Koordinator der ESSI muss bei der Finanzierung der Luftverteidigung Europas mit gutem Beispiel voran­gehen. Mit rund 5 Milliarden Euro aus dem Sondervermögen ist dafür ein erster Schritt getan. Darüber hinaus werden regelmäßig Mittel aus dem regulären Verteidigungsetat in Forschung und Entwicklung, die techni­sche Ver­besserung bestehender Systeme sowie Neuanschaffungen fließen müssen. Letztere werden zudem hohe Kosten für Betrieb, Übungen und Erhalt verursachen. Dies ist in der Finanzplanung der Bundeswehr noch nicht berücksichtigt. Auch wird die Bundeswehr weitere Dienst­posten für die Luftverteidigung schaffen müssen, denn nur mit gut ausgebildetem Personal lassen sich die ambitionierten Pläne langfristig durch­haltefähig umsetzen. Hilfreich wäre auch, den politischen und strategischen Rahmen der Initiative klarer zu definieren.

Um Partner vom ökonomischen Mehrwert der ESSI zu überzeugen, wird Deutsch­land seinem Konzept für die europäische Luftverteidigung ein vollständiges Kostenmodell hinzufügen müssen. Hier müssen Inflation, Preissteigerungen bei Rüstungsgütern von rund 5% jährlich und weitere Faktoren realistisch eingerechnet werden.

Schließlich ist das tatsächliche militärische Leistungsvermögen der neuen Fähig­keiten und Maß­nahmen unter Beweis zu stellen. Diese könnten im Rahmen einer jährlichen Nato-Zertifizierungsübung über­prüft wer­den. Hier kommt es vor allem darauf an, mit sich selbst kritisch umzugehen, Unzu­läng­lichkeiten und Abstimmungsprobleme nicht hinzunehmen und mit allem Ehrgeiz an der Verbesserung der eigenen Fähigkeiten zu arbeiten.

Die zu lösende Gesamtgleichung lautet: Die Fähigkeitslücke ist schnellstmöglich zu schließen, ohne die europäischen Entwicklungsprogramme zu schwächen oder gar zu gefährden; und das Gleichgewicht zwischen der politischen, strategischen, industriellen, militärischen und wirtschaftlichen Anforderung muss sorgfältig aus­tariert werden. Darüber hinaus ist die Teil­nahme Frankreichs und Italiens für den Erfolg der Initiative unverzichtbar. Die feh­lende Absprache zwischen Berlin und Paris hat für heftige Irritation in Frankreich gesorgt und zur kurzfristigen Verschiebung des Deutsch-Französischen Ministerrats beigetragen. Dabei handelt es sich nur um das jüngste Beispiel für mangelnde Einbin­dung des jeweiligen Partners. Präsident Macrons Vorstoß für eine Europäische Poli­tische Gemeinschaft wurde in Berlin als Alleingang betrachtet. Paris wiederum rich­tete denselben Vorwurf an die Bundes­regierung wegen der ESSI sowie der Gas- und Strompreisbremse. Diese Praxis sollte schleunigst korrigiert werden, um die im Aachener Vertrag 2019 eingegangenen Verpflichtungen einzuhalten, die da lauten, »einander [zu] konsultieren mit dem Ziel, gemeinsame Standpunkte bei allen wichti­gen Entscheidungen festzulegen, die ihre gemeinsamen Interessen berühren, und, wann immer möglich, gemeinsam zu han­deln«. Jenseits dieser deutsch-französischen Misshelligkeiten aufgrund der beidseits eigenmächtigen Verfahrensweise gibt es in Paris und Rom fundamentale Bedenken, die Deutschland beherzigen sollte. Es muss ein Kompromiss gefunden werden, der sowohl die Kerninteressen Deutschlands, also die schnelle Umsetzung der ESSI, berücksichtigt, als auch jene Frankreichs und Italiens, nämlich die europäische Souveränität und den Erhalt des strategischen Gleichgewichts. Der erste deutsche Schritt zu einem solchen Kompromiss könnte darin bestehen, die europäische Industrie stärker in die ESSI einzubinden und auf höchstem politischem Niveau die Ambition zu bekräftigen, das Projekt Twister erfolgreich abzuschließen. Gelegenheit dazu bietet der Deutsch-Französische Ministerrat am 22. Januar 2023.

Sven Arnold und Major i.G. Torben Arnold sind Gastwissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik.

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