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Von der Status-quo-Macht zum Reformmotor

Deutschlands künftige Rolle in der Europäischen Union

SWP-Aktuell 2022/A 07, 27.01.2022, 6 Seiten

doi:10.18449/2022A07

Forschungsgebiete

Es gehört zu den selbstgesteckten Zielen der neuen Bundesregierung, die Priorität der deutschen Europapolitik von einem Fokus auf den Zusammenhalt der Europäischen Union (EU) in Richtung einer Reform der Union und einer Vertiefung des Integrations­stands zu verschieben. Für dieses Vorhaben öffnen sich bereits im Frühjahr 2022 erste Gelegenheitsfenster. Um die angestrebte Reform der EU zu erreichen, muss Deutschland jedoch seine europapolitische Herangehensweise ändern. Und dies in vier zentra­len Punkten: Es muss eine neue Balance zwischen Krisenmodus und Reformagenda finden und sollte die Gemeinschaftsmethode mit der differenzierten Integration verbinden; es sollte eine aktivere innereuropäische Diplomatie betreiben, um eine Reformkoalition zu schmieden, und Antworten erarbeiten zu der Frage, wie der An­spruch auf europäische Souveränität operationalisiert werden kann.

Die neue deutsche Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, die EU zu stärken und zu ver­tiefen. Das Jahr 2022 bietet hierfür ein güns­tiges Gelegenheitsfenster: Zum einen hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron vor, während der Ratspräsidentschaft seines Landes im ersten Halbjahr 2022 wichtige Politikfelder der EU zu reformieren: den Schen­gen-Raum, die Klima-, die Digital- und die Sozialpolitik.

Eng verknüpft ist die französische Ratspräsidentschaft mit der Konferenz zur Zukunft Europas. Hier hat sich Deutschland mit Ver­weis auf die Bundestagswahlen bis Ende 2021 zurückgehalten. Die neue Regierung hat die Zukunftskonferenz aber mit dem Ziel aufgewertet, das Format zu nutzen, um von dort einen starken Anstoß für Refor­men zu geben, bis hin zu der Ambition, aus dem Gremium einen neuen verfassungs­gebenden Konvent werden zu lassen. Über den Abschlussbericht der Konferenz wird bis zum 9. Mai 2022 verhandelt. Die ent­scheidende Phase der Zukunftskonferenz folgt aber im Anschluss daran. Denn nach der Bürgerbeteiligung gilt es auszuloten, wie die EU-Institutionen mit den Vorschlägen umgehen und ob daraus – wie im Koali­tionsvertrag gefordert – ein Impuls zur weitergehenden Vertiefung der EU wer­den kann (siehe SWP-Aktuell 20/2021).

Zudem haben sich die Kräfteverhältnisse zugunsten von mehr Vertiefung verschoben. In Italien fährt Ministerpräsident Mario Draghi einen dezidiert integrationsfördernden Kurs und auch in den Niederlanden zeigt sich die Regierung Rutte IV inzwischen offen für eine stärkere Vertiefung. Die Zahl derjenigen Staaten, die den gegenwärtigen Zustand der EU hin zu mehr Gemeinsamkeit und Integra­tion verändern wollen, ist so groß wie lange nicht mehr.

Gleichzeitig könnte das Jahr 2022 eine Rückkehr der Gemeinschaftsmethode ein­läuten. Im Januar beginnt die zweite Hälfte der Amtszeit der aktuellen Europäischen Kommission unter Ursula von der Leyen. Zwischen Europäischem Parlament (EP), Rat und Kommission müssen dann die großen Legislativprojekte – Green Deal / Fit for 55-Paket und Digitalisierung – ausgehandelt werden. Nach Jahren der Krise, in denen die EU, getrieben von Ereignissen, Antworten außerhalb ihrer regulären Strukturen ge­sucht und gefunden hat, rückt ambitio­nierte Gesetzgebung wieder ins Zentrum ihrer Agenda.

Einer positiven Reformdynamik steht in­des der Streit mit Polen über die Rechtsstaat­lichkeit entgegen. Der Versuch Warschaus, diesen Konflikt auch zu einer Debatte über die Kompetenzen der EU-Institutionen und über die Verbindlichkeit von EU-Recht zu machen, zwingt Brüssel und die Mitgliedstaaten dazu, ihre Haltung zum institutionellen Gefüge der EU offenzulegen.

Und selbstverständlich bleibt die europäi­sche Agenda auch 2022 von Krisen und deren Management geprägt. Der weitere Verlauf der Covid-19-Pandemie setzt die Union nach wie vor unter den Druck, ge­meinsame politische Antworten zu finden. Außen- und sicherheitspolitisch wird die EU an ihrer östlichen Grenze von Russland herausgefordert. Zudem muss sie weiter ihren Kurs im Großmächtekonflikt zwi­schen den USA und China bestimmen.

Um die sich bietenden Chancen zu nut­zen, muss die deutsche Regierung schnell (Mit-)Führung übernehmen. Dazu muss sie gleichwohl die europapolitische Rolle Deutschlands neu definieren.

Abkehr von Deutschland als Status-quo-Macht

Deutschlands Rolle in der Europapolitik entsprach in den vergangenen Jahren der einer Status-quo-Macht. Die Regierungen, die Bundeskanzlerin Angela Merkel zwi­schen 2005 und 2021 angeführt hat, waren gefor­dert, Wege zu finden, die EU durch verschie­dene Krisen zu führen. Dabei verschob sich der Fokus der Europapolitik zu­nehmend von der Regulierung zur Ereignispolitik (Luuk van Middelaar), zu einer permanenten Notfallbewältigung, bei der es darum ging, mit Instrumenten, die zum Teil außerhalb der EU-Verträge liegen, existen­tielle Bedro­hungen der Union einzuhegen. Aus der aufgeklärten Erkenntnis heraus, dass es Deutschland nur gut geht, wenn es Europa gut geht (Angela Merkel), folgte eine Politik der Status-quo-Konservierung, die – nach den Erfahrungen des Scheiterns des Verfas­sungsvertrags und der schwierigen Ratifi­ka­tion des Lissabonner Vertrags – darauf aus­gerichtet war, die EU-27 möglichst zusam­menzuhalten und dabei keine unnötigen Risiken mit Reformen der EU einzugehen, die die Mitgliedstaaten spal­ten könnten.

Diese Politik führte dazu, dass sich die EU im letzten Jahrzehnt zumeist nur dann weiterentwickelt hat, wenn unmittelbare Krisen entschärft werden mussten. Beispiele hierfür sind etwa die unvollendete Banken­union oder die bis heute nicht abgeschlossenen Verhandlungen über die Neugestaltung des gemeinsamen Asylsystems der EU. Nicht-krisengetriebene Reformprozesse wie die »Leaders’ Agenda« des Präsidenten des Europäischen Rates Donald Tusk liefen hin­gegen ins Leere. Während das Krisenmanage­ment die Position wichtiger Mitgliedstaaten – allen voran diejenige Deutschlands – ge­stärkt hat, verringerte sich das Gewicht der EU-Institutionen. Dies zeigt sich etwa daran, dass diese seit 2009 in jeder Legislaturperio­de weniger Gesetzgebung anstoßen konn­ten als zuvor. Einzelne Mit­gliedstaaten konnten Blockaden im politischen System der EU dazu nutzen, ihre nationalen Inter­essen durchzusetzen. Die Bundesregierung etwa hat Initiativen zur Teilung von finan­ziellen Risiken erfolgreich abgewehrt. Schließlich hat die Rücksichtnahme Deutschlands auf Mitgliedstaaten, die den EU-Regelkanon nicht befolgen, nicht dazu geführt, dass sich die gefürchteten Flieh­kräfte reduziert hätten. Diese haben sich vielmehr weiter ausdifferenziert.

Verschiebungen der Ziele und Interessen der deutschen Europapolitik

Die neue Bundesregierung hat sich – eben­so wie ihre Vorgängerin im Koalitions­vertrag von 2018 – vorgenommen, auf eine Stärkung und Vertiefung der EU hin­zuarbeiten. An dem Grundinteresse Berlins an einer handlungsfähigen und demokratischen Union ändert sich nichts. Es ist aber bereits im Koalitionsvertrag deutlich eine Verschiebung von Deutschlands europa­politischem Selbstverständnis erkennbar: weg von einer Status-quo-Macht und hin zu einem Treiber einer weiteren Vertiefung. Das Wort »Zusammenhalt« kommt im Kapi­tel zu »Deutschlands Verantwortung für Europa und die Welt« nicht vor, dafür wird als Zweckbestimmung des Integrations­prozesses ein »föderaler europäischer Bun­desstaat« genannt. Die Regierung betont darüber hinaus ihre Bereitschaft zu Ver­tragsänderungen. Ihr Gestaltungs­anspruch drückt sich auch in den Bekundungen aus, in der Frage der Rechts­staat­lichkeit schnel­ler und klarer Position beziehen und inte­grationspolitisch, wenn nötig, in Gruppen von Staaten voranschreiten zu wollen – beide Politikansätze hat Deutschland seit Mitte der 2010er Jahre vermieden.

Auch die Interessenlage der Bundesrepu­blik muss anders bewertet werden. Die Krisen des vergangenen Jahrzehnts haben die Politik der EU im gesellschaftlichen Be­wusstsein verankert. In zentralen Bereichen des öffent­lichen Lebens hat die EU Ver­antwortung übernommen (auch wenn sich dies nicht in einem Zuwachs an Kompetenzen niedergeschlagen hat). Dazu zählen etwa die Impfstoffbeschaffung oder die Infrastruktur für digitale Impfzertifikate, aber auch die Sicherung der Außengrenzen.

Hinzu kommt die gestiegene Relevanz der bestehenden Unionskompetenzen. Die großen Transformations- und Modernisierungsziele der deutschen Regierung in den Bereichen Klima, Energie, Digitales und Verkehr lassen sich nur im EU-Rahmen ver­wirklichen. Eine Union, die so tiefgreifende Entscheidungen über den Umbau und die Neuaufstellung ihrer Wirtschaft(en) trifft, wird sich weiter politisieren und braucht zwangsläufig eine größere Handlungs­fähig­keit und eine tragfähigere demokratische Legitimation.

Schließlich zeigt sich beinahe täglich, wie die Macht der EU international schwin­det, wenn sie nicht geeint auftritt. Über die Zukunft der europäischen Sicherheit ver­handeln Moskau und Washington über die Köpfe der EU-Europäer hinweg. Im Ringen zwischen China und den USA droht Europa mehr Spielball als Akteur zu sein. Unter diesen Bedingungen vollzieht sich auch für Deutschland eine Veränderung der Risiko­bewertung von der Erhaltung des Status quo zur Vertiefung und Stärkung der EU.

Vier Visionen für die EU

Diese Änderung der europapolitischen Interessen und Ziele Deutschlands trifft auf eine EU, deren Organe und Mitglieder sehr unterschiedliche Zielvorstellungen haben. Vier Visionen für die Weiterentwicklung der Union rivalisieren miteinander:

Seit 2017 tritt Emmanuel Macron für eine umfassende Reform der EU ein. Die Union, so Macron, müsse in der Lage sein, ihre Bür­gerinnen und Bürger besser zu schützen – in der Wirtschaftspolitik ebenso wie in der Sozial-, der Klima- oder auch der Sicherheits- und Verteidigungspolitik. Die Schaf­fung eines souveränen Europas müsse ein­her­gehen mit einem umfassenden politi­schen und insti­tutionellen Neubeginn der Inte­gration.

Im Unterschied dazu setzt Kommissionspräsidentin von der Leyen auf die Bindewirkung großer Transformationsprojekte. Im Zentrum der Agenda ihrer Kommission stehen mit dem Green Deal und der Digital­strategie zwei Großprojekte zur Umstrukturierung der europäischen Wirtschaft. Beide Vorhaben fußen auf dem Binnenmarkt und nutzen das klassische Instrument von In­te­gration durch EU-Gesetzgebung. In der Pan­demie hat die Kommission zudem darauf gedrängt, mit einer gemeinsamen Impfstoffbeschaffung, der Unterstützung bei Kurzarbeitergeldern und nicht zuletzt mit dem Wiederaufbaufonds sichtbare Zeichen europäischer Solidarität und Souveränität auszusenden.

Einen anderen Schwerpunkt setzen die Vertreter der Maxime des »Guten Regierens« (Good Governance). Zu ihnen zählen mehrere nordische Mitgliedstaaten, wie Dänemark, Schweden, Finnland, und seit eh und je auch die Nieder­lande. Ihnen zufolge soll sich die EU darauf konzentrieren, die strate­gische Agenda des Europäischen Rates um­zusetzen und die praktischen Probleme der Bürgerinnen und Bürger zu adressieren. Weitergehenden Vertiefungsschritten oder institutionellen Grundsatzdiskussionen, wie sie im Rahmen der Konferenz zur Zukunft Europas geführt werden, stehen diese Staa­ten jedoch weitgehend ablehnend gegen­über. Ihrer Ansicht nach sollten sich sowohl die EU als auch ihre Mitgliedstaaten viel­mehr durch gute Regierungsführung, Spar­samkeit und Output-Legitimation stärken.

Ganz andere Interessen haben die Regierungen Polens und Ungarns. Sie fordern eine Rückkehr zum Intergouvernementalis­mus und eine Rück­besinnung auf die wirt­schaftliche Zusammenarbeit. Sie erhalten Unterstützung von EU-skeptischen Parteien in anderen Staaten, die durchaus Aussicht auf Regierungsbeteiligung haben, etwa in Italien oder Nordeuropa. Aus deren Sicht reichen die EU-Kompetenzen bereits heute zu weit. Diese Kräfte wollen das Prinzip der Mehrheitsentscheidung abschaffen, die Kompetenzen Brüssels zurückschneiden und den Vorrang des EU-Rechts vor natio­nalem Verfassungsrecht beseitigen. Sie ver­treten die Position, die EU solle sich auf die wirt­schaftliche Zusammenarbeit konzen­trieren und wertebasierte Grundsatz­entschei­dun­gen ihren Mitgliedstaaten überlassen.

Anforderungen an die neue deutsche Europapolitik

Während sich die deutsche EU-Politik bisher darauf konzentriert hat, eine Balance zwi­schen diesen unterschiedlichen Bestrebungen herzustellen, scheint sich die Ampel-Koalition europapolitisch zwischen den Re­form­initiativen von Emmanuel Macron und der gemeinschaftlichen Vertiefungsagenda der Kommission verorten zu wollen. Um sich als europapolitische Avantgarde zu etablie­ren, muss Deutschland seine Strategie in die­sem Bereich jedoch auf vier Feldern ändern:

Neue Balance zwischen Krisenmanagement und Reformen

Erstens muss die Bundesregierung eine neue Balance zwischen Krisenmanagement und langfristigen Reformen finden. Damit Deutsch­land und die gesamte EU nicht er­neut von der Bewältigung von Krisen absor­biert werden, sollte sie alsbald einen europa­politischen Reformkompass erarbeiten und eine eigene dezidierte Zukunftsagenda für die EU formulieren, die –aufbauend auf den Zielen des Koalitionsvertrags – weiter­führende Akzente in der Klima-, Digital- und Sozialpolitik setzen könnte. Diese Anstöße wiederum könnten nicht nur wichtig für die legislativen Vorhaben der Union sein, son­dern als Bausteine zur Transformation der europäischen Wirtschaft auch zur Ver­tie­fung der Union beitragen. Eine solche Agen­da bedürfte darüber hinaus konkreter Ideen, etwa zu der Frage, wie die demokratische Legitimation für diese tiefgreifenden Ent­scheidungen der EU gestärkt werden kann.

Als Vorreiterin einer integrationspolitischen Avantgarde würde die deutsche Re­gierung den Weg der Konsensorientierung und der Pfadabhängigkeit verlassen. In der Vergangenheit hat es mit Blick auf die Wah­rung des Zu­sammenhalts und der Absicherung deutscher nationaler Interessen oft aus­gereicht, Blockademinderheiten aufzubauen oder im Krisenmoment in »kontrollierter Panik« auf die existentielle Bedrohung zu verweisen, um Instrumente wie den Euro­päischen Stabilitätsmechanismus (ESM) durchzusetzen. Eine Reformpolitik ohne akute Drohkulisse bedingt dagegen inten­sive Verhandlungen zum Ausgleich von Interessen, Souveränitätstransfers sowie poli­tische und finanzielle Lastenteilung. Das setzt nicht zuletzt in Deutschland eine sehr viel aktivere europapolitische Kommuni­kation über Ziele, Kosten und Vorteile der EU‑Vertiefung voraus.

Gemeinschaftsmethode und Differenzierung vereinen

Um diese Zukunftsagenda umsetzen zu kön­nen, sollte Deutschland seinen Partnern zweitens einen Maßnahmen-Mix anbieten: Es sollte ihnen vorschlagen, Instrumente zu stärken, die unterhalb der Schwelle der Ver­trags­änderung angesiedelt sind und mit denen sich auf lange Sicht das Tabu von Primärrechtsreformen durchbrechen lässt. Die Bundesregierung sollte sich für ein Vor­gehen entscheiden, das dazu beiträgt, die EU-Institutionen maßgeblich aufzuwerten: Eine enge Zusammenarbeit mit der Kom­mis­sion und robuste Auseinandersetzungen im Rat und mit dem EP bei den anstehenden Verhandlungen zum Green Deal, zur Digitalstrategie und zu den Vorhaben in der Sozialpolitik und im Binnenmarkt sind da­zu besser geeignet als eine Verlagerung der Aushandlungsprozesse in den Europäischen Rat. Auch mit expliziter deutscher Unter­stützung ist der Weg dahin lang, steinig und mit vielen Risiken verbunden. Das Einmün­den in einen verfassungsgebenden Konvent, den die Regierung im Koalitionsvertrag mit dem Ziel eines europäischen Bundesstaats anstrebt, wird zunächst ein Fernziel bleiben. Eine aktivere Gestaltung der EU, in der ein Zusammenwachsen über eine gemeinsame Transformation der Wirtschaft und damit auch über eine öffentliche Debatte in Europa erreicht wird, kann dagegen die Vor­aus­setzung dafür schaffen, dass mittel­fristig Unterstützung für Vertragsänderun­gen entsteht.

Das Risiko von Primärrechtsänderungen sollte aber da, wo Reformen ohne sie nicht möglich wären, kein alleiniger Hindernisgrund mehr sein. Dabei dürfte es gleichwohl auch der deutschen Regierung nicht gelin­gen, alle 26 EU-Partner für weitere Vertie­fungsschritte zu gewinnen. Ein ernsthafter Integrationsschub wird nur in Gruppen von Mitgliedstaaten zu erreichen sein. Das muss aber nicht im Widerspruch zur Gemeinschaftsmethode stehen. Denn der EU-Ver­trag hält mit der Möglichkeit zur verstärkten Zusammenarbeit in den Binnenpolitiken sowie der Ständigen Strukturierten Zu­sammenarbeit in der Sicherheits- und Ver­teidigungspolitik genug Mittel bereit, die es Gruppen von Mitgliedstaaten erlauben, unter Nutzung der Gemeinschaftsinstitutio­nen voranzuschreiten und diese Differen­zierung so auszugestalten, dass andere nach­folgen können.

Aktive europäische Diplomatie

Drittens braucht Deutschland für seine Reformagenda Partner. Berlin sollte daher den Dialog mit verschiedenen Staaten und Staatengruppen intensivieren und die inner­europäischen diplomatischen Beziehungen auf bi- und minilateraler Ebene weiter aus­bauen. Angesichts seiner wirtschaftlichen und politischen Bedeutung liegt Deutschland bereits im Zentrum der europäischen Diplomatie. Als sie ganz der Maxime des Zusammenhalts folgte, hat die Bundesrepu­blik diese Rolle mit zwei Zielen verbunden: Auf der einen Seite ist sie als Brückenbauerin aufgetreten, die gerade in akuten Krisen Kompromisse zwischen verschiedenen Lagern in der EU herbeiführte. So ist Deutschland (mit Ausnahme des Weimarer Dreiecks) kein Mitglied in den minilateralen Netzwerken wie der Visegrád-Gruppe, der »neuen Hanse« oder den »Frugalen Vier«. Dies hat der Bun­desrepublik auf der ande­ren Seite geholfen, die Position ihrer eigenen nationalen Interessen in EU-Verhandlungen als »moderat« zu inszenieren und beispiels­weise mit Hilfe der »Frugalen Vier« bei den EU-Haushaltsverhandlungen eher als Ver­mittler denn als Demandeur aufzutreten.

Als reformorientierte Macht wird Berlin hingegen gefordert sein, aktiv Koalitionen zu schmieden. Frankreich bleibt hier der wichtigste Ansprechpartner, etwa wenn es darum geht, Ergebnisse der Zukunftskonferenz in Integrationsimpulse zu verwandeln, oder darum, die strategische Souveränität auszugestalten. Aber der deutsch-französi­sche Motor hat immer dann am besten funk­tioniert, wenn Deutschland und Frank­reich unterschiedliche Lager innerhalb der EU repräsentierten. Dies ist in der heterogeneren EU-27 nicht mehr gegeben. Gerade die Genese des Wiederaufbaufonds, des größten deutsch-französischen Erfolgs der letzten zehn Jahre, hat gezeigt, dass das Einbinden weiterer Staaten mindestens ge­nauso wichtig ist. Deutschland sollte daher noch aktiver die innereuropäische Diplo­matie sowohl zu »like-minded countries« und Gruppen pflegen, aber auch auf etwa Polen, die nordischen Staaten oder Italien mit dem Ziel gemeinsamer Initiativen zu­gehen, um möglichst viele Unterstützer zusammenzubringen, im Zweifelsfall auch für Projekte, die zunächst nur in einem Verbund von Staaten organisiert werden können. Eine Option hierfür wäre auch die Reaktivierung des »Ventotene«-Formats zwischen Deutschland, Frankreich und Italien. Die Kooperation unter diesem Dach ist nach der Regierungsbeteiligung der Lega 2018 ein­gestellt worden. Mit Mario Draghi könnte diesem Dreieck aber neues Leben eingehaucht werden. Seine Bereitschaft, eine Reform der EU zu unterstützen, brachte Ita­liens Premierminister jüngst mit der Unterzeichnung des französisch-italieni­schen Quirinal-Vertrags zum Ausdruck. Reformkoalitionen zu schmieden erfordert von Deutschland, ein anderer Brücken­bauer zu sein – einer, der die supranationalen Institutionen stärkt und nationale Regierungen in Gruppen zusammenbringt, welche die EU vertiefen und mit konkreten Projekten voranbringen wollen.

Gelebte strategische Souveränität

Die vierte große Aufgabe ist die Operationalisierung des angestrebten Ziels der »strate­gischen Souveränität Europas«. Im letzten Jahrzehnt hat es genug »Weckrufe« dahin­gehend gegeben, dass die Europäer eigene Machtinstrumente brauchen, wenn sie im geostrategischen Konflikt zwischen den USA und China nicht nur Schauplatz, son­dern auch Akteur sein wollen. Die Demüti­gungen während der Trump-Jahre, der wenig koordinierte Abzug aus Afghanistan, der Ring an Krisen in der Nachbarschaft und zuletzt die Verhandlungen zwischen Mos­kau und Washington ohne eigenstän­dige europäische Beteiligung haben gezeigt, wie wenig satisfaktionsfähig die EU in den Augen ihrer geopolitischen Mitbewerber ist.

Während der deutschen EU-Ratspräsi­dentschaft hat Berlin die Erarbeitung eines Strategischen Kompasses (siehe SWP-Aktuell 1/2022) für die Sicherheits- und Verteidigungspolitik der EU auf den Weg gebracht. Darüber hinaus hat es immer wieder Ideen vorgelegt, wie die Entscheidungsverfahren in der EU-Außenpolitik flexibler zu gestal­ten wären. Beide Prozesse muss die Ampel-Regierung konsequent zu Ende führen.

Sie muss jedoch auch Antworten auf ope­rative Fragen liefern: Wann und wo würde Deutschland im Rahmen der EU militärisch und/oder zivil in einen Einsatz gehen? Für welche militärischen Zwecke will es gemein­same Rüstungsprojekte nutzen? Und ist es zum Export dieser und anderer militärischer Güter bereit, aktuell etwa in die Ukrai­ne? Gelebte Solidarität be­schränkt sich jedoch nicht auf den Bereich der harten Sicherheitspolitik. Sie erstreckt sich auch auf Fälle wie Litauen, das angesichts chine­sischer Drohgebärden auf Beistand rechnen können sollte, und auf den Um­gang mit und die Aufnahme von Flüchtlingen – ein Politikfeld, in dem Berlin seinen Partnern an der südlichen Peripherie der EU allzu oft das Teilen der Last verwehrt hat. In Berlin muss sich politisch die Über­zeugung durch­setzen, dass nur eine Union, die die Inter­essen ihrer Mit­glieder und ihrer Bürgerinnen und Bürger auch international vertre­ten kann, nach innen glaubwürdig bleibt und sich lang­fristig weiter vertiefen kann.

Dr. Ronja Kempin ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe EU / Europa.
Dr. Nicolai von Ondarza ist Leiter der Forschungsgruppe EU / Europa.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2022

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