Nach knapp zweieinhalb Jahren, in denen Wolodymyr Selenskyj als Präsident der Ukraine amtiert, scheinen Reformen in Schlüsselbereichen zu stocken. Gleichzeitig setzen er und sein Team im innen- wie außenpolitischen Diskurs mehr denn je auf Sicherheitsthemen. Für Deutschland und die EU könnte es in dieser Situation sinnvoll sein, Reformprozesse und Sicherheitsfragen stärker als bislang miteinander zu verknüpfen und klarer zu machen, welche Bedeutung der Ukraine im europäischen Sicherheitsgefüge zukommen soll. Nur wenn darüber Klarheit herrscht, vermögen sie konsequent zu entscheiden, welche Reformen sie auch in Zukunft gezielt unterstützen oder gar zur Bedingung finanzieller Hilfen machen wollen. Die ukrainische Seite wiederum könnte im Wissen darum bewusster über ihre Reformprioritäten entscheiden.
Der Kontext für Reformen in der Ukraine ist aus zahlreichen Gründen schwierig, nicht zuletzt weil das Land sich seit sieben Jahren de facto im Kriegszustand mit Russland befindet und seine territoriale Integrität verteidigen muss. Dennoch gab es gerade in diesen Jahren Phasen, in denen es der Ukraine gelungen ist, wesentliche Reformfortschritte in Schlüsselbereichen zu vollziehen. Dies trifft allerdings für die letzten zwei Jahre nicht zu. Trotz einer »Turbophase« zu Beginn der Selenskyj-Präsidentschaft, während der seine Partei dank ihrer Mehrheit im Parlament reihenweise Gesetze verabschiedete, haben Reformfortschritte inzwischen erheblich nachgelassen. Laut einer Bewertung der analytischen Plattform VoxUkraine, die seit 2015 das Reformniveau misst, ist es zum ersten Mal unter Selenskyjs Präsidentschaft zu einer Phase von Rückschlägen gekommen.
Dies bedeutet natürlich nicht, dass Reformen in der Ukraine eingestellt worden wären. So lässt sich auf etliche Bereiche verweisen, in denen weiterhin Fortschritte erzielt werden. Zu nennen wären etwa die Bodenreform oder das sogenannte »Anti-Kolomojskyj-Gesetz«, das es unter anderem unmöglich macht, die nationalisierte Privatbank seinem früheren Besitzer zurückzugeben, dem Oligarchen Ihor Kolomojskyj. Dieses Gesetz diente als wichtiger Nachweis dafür, dass Selenskyj sich von diesem Oligarchen losgesagt hat, der ihn unter anderem mit seinem Fernsehkanal gefördert hat. Hinzu kam das sogenannte »unbundling« des staatlichen Erdgasunternehmens Naftohaz, das erfolgte, um es den europäischen Richtlinien konform zu gestalten. Aus der letzten Zeit kann man auf wichtige (allerdings gefährdete) Schritte bei der Justizreform, die erste Lesung eines Gesetzes zur Reform des Sicherheitsdienstes der Ukraine (SBU) sowie einige Maßnahmen hinweisen, die auf eine »Deoligarchisierung« abzielen.
Dennoch ist ein Trend in Richtung eines Nachlassens der Reformbemühungen über die letzten anderthalb Jahre deutlich geworden. Ein Beleg dafür ist auch die Entscheidung des Internationalen Währungsfonds (IWF), Zahlungen an die Ukraine aufgrund fehlender Reformschritte einzufrieren. Auch wenn der IWF im August 2021 eine neue Tranche an die Ukraine ausgezahlt hat, hing dies eher mit den Folgen der Covid-19-Pandemie zusammen und war insofern eine Ausnahme. Schließlich kommt ein Sonderbericht des Europäischen Rechnungshofes von September 2021 zu dem Schluss, dass die EU »unzureichende Ergebnisse« bei ihren Bemühungen erzielt hat, die Bekämpfung von Großkorruption in der Ukraine zu unterstützen.
Die Gründe für den Reformstau liegen in dem veränderten politischen Kontext, den Selenskyj und sein Team geschaffen haben. Darum ist es auch gerechtfertigt, sich bei der Suche nach Gründen für den Verlauf des Reformprozesses vor allem auf den Präsidenten und seine Entourage zu konzentrieren, die er persönlich ausgewählt hat. Es ist Selenskyj gelungen, während seiner Amtszeit die eigene Macht und die des Präsidentenbüros stetig auszubauen sowie seine Gefolgsleute in Schlüsselpositionen zu bringen. Auf diese Weise hat er die Rolle von Institutionen in der Ukraine weiter geschwächt und dadurch auch die Reformagenda gefährdet. Denn ohne effektive Institutionen ist es äußerst schwierig, systematische Reformanstrengungen zu unternehmen. Damit hat sich Selenskyj in die Tradition der meisten anderen ukrainischen Präsidenten gestellt, die die Exekutivmacht zuungunsten der Regierung an sich reißen wollten. Das Parlament spielt jedoch nach wie vor eine wichtige Rolle. Auch wenn Selenskyjs Partei »Diener des Volkes« weiterhin über die Mehrheit der Sitze verfügt, ist sie in einem Maße fragmentiert, dass der Präsident und sein Team sich bei wichtigen Abstimmungen um Unterstützung aus anderen Fraktionen bemühen müssen. So kommt es zu intransparenten Kompromissen, die den hinter diesen Fraktionen stehenden Oligarchen oft zugutekommen. Ein neueres Beispiel hierfür sind die Bemühungen, den Parlamentssprecher, Dmytro Rasumkow, von seinem Posten zu entfernen, da er das Vertrauen des Präsidenten verloren hat.
Problematische Personalpolitik
Zumindest drei Aspekte der Personalpolitik des Präsidenten haben negative Auswirkungen auf die Reformagenda. Erstens geht es um die fragwürdigen Kriterien, die bei seinen Personalentscheidungen eine Rolle spielen. In vielen Fällen fiel seine Wahl auf Personen, zu denen er in früheren Jahren ein vertrauensvolles Arbeitsverhältnis hatte. Da Selenskyj vor seiner Wahl zum Präsidenten nichts mit Politik zu tun hatte, haben die von ihm ausgewählten Personen in der Regel weder politische Erfahrung noch relevante sachliche Kompetenzen in den Aufgabenfeldern, für die sie verantwortlich sind. Viele kommen aus dem Unterhaltungssektor, oft direkt aus Selenskyjs Unternehmen »Studio Kvartal 95«. Beispiele sind insbesondere in seinem engsten Team im Präsidentenbüro zu finden. Das gilt etwa für den derzeitigen Leiter dieses Büros, Andrij Jermak, und für eine Reihe anderer Personen, die unter ihm arbeiten. Auch der Präsidentenberater Serhij Schefir, gegen den neulich ein Attentat verübt wurde, fällt in diese Kategorie. Beispiele für diese Personalpolitik finden sich auch beim Sicherheitsdienst der Ukraine (SBU), den Iwan Bakanow leitet, ein Freund Selenskyjs aus Kindheitstagen.
Zweitens ist der Präsident bereit, bei seinen engsten Mitarbeitern problematisches Verhalten zu übersehen und Vorwürfe wegen Korruption zu ignorieren. Dies zeigt sich insbesondere bei dem eben erwähnten Andrij Jermak und seinem Stellvertreter Oleh Tatarow. Jermak wurde in einen Skandal verwickelt, bei dem anhand von Videomaterial glaubhaft gemacht wurde, dass sein Bruder Denys einigen Personen gegen Barzahlungen Posten versprochen hat; sein Bruder Andrij Jermak würde ihnen zu diesen Posten verhelfen, so die implizite Botschaft. Jermak (und Selenskyj) haben den Fall bislang erfolgreich ausgesessen; noch wurde er nicht aufgeklärt. Gegen Tatarow wurden Korruptionsvorwürfe im Zusammenhang mit einem Immobiliengeschäft erhoben. Tatarows Ernennung wurde bereits vor diesem Fall stark kritisiert, weil er das Janukowytsch-Regime und dessen Gewaltanwendung während der Majdan-Proteste 2013–2014 unterstützt hatte. Auch sein Fall wurde bislang nicht aufgeklärt. Mit diesem Verhalten unterhöhlt der Präsident sein Versprechen, Korruption nicht zu tolerieren und effektiv gegen sie vorzugehen. In der Praxis wird der Elite ebenso wie der Bevölkerung vermittelt, dass Korruption allenfalls selektiv bekämpft wird und dem Präsidenten nahestehende Personen von der Strafverfolgung ausgenommen werden.
Drittens pocht Selenskyj auf zügige Ergebnisse und wechselt Personen in leitenden Positionen aus, wenn sie nicht schnell genug liefern – oder aus anderen, nicht immer transparenten Gründen. Es scheint ihm, wie schon vielen seiner Vorgänger im Amt, darum zu gehen, »seine« Leute auf Schlüsselpositionen zu setzen, um Entscheidungen herbeiführen zu können, die ihm genehm sind. Dies trifft zum Beispiel auf die Generalstaatsanwältin Iryna Wenediktowa zu, die laut Beobachtern die Agenda des Präsidenten unterstützt und die Untersuchung bestimmter Korruptionsfälle (unter anderem den von Oleh Tatarow) blockiert.
Das beste Beispiel für einen schnellen Personalwechsel betrifft Oleksij Hontscharuk, der als Premierminister lediglich sechs Monate Zeit hatte, um wesentliche Elemente seines Regierungsprogramms zu verwirklichen. Seine Ablösung durch Denys Schmyhal war nicht mit Gründen der Kompetenz zu rechtfertigen und erfolgte außerdem zu einem äußerst ungünstigen Zeitpunkt, in der Anfangsphase der Covid-19-Pandemie. Dass auch der Gesundheitsminister seinen Posten räumen musste, beeinträchtigte die Fähigkeit der Ukraine, der Pandemie organisatorisch und mit Sachverstand zu begegnen. Dieses Vorgehen bei Personalentscheidungen schmälert die Möglichkeit kontinuierlicher und kohärenter Reformanstrengungen, schwächt die Macht von Institutionen gegenüber jener von Einzelpersonen und schafft mehr Raum für den Einfluss von Reformgegnern, die formal außerhalb des Systems stehen, es aber de facto mitkontrollieren; das gilt vor allem für die sogenannten Oligarchen.
Sicherheit als Hauptpriorität
Die Schwerpunkte, die Selenskyj sowohl rhetorisch als auch in seinen Handlungen setzt, haben zusehends mit Sicherheitsfragen zu tun. Da sie meist losgelöst von der Reformagenda behandelt werden, rückt diese immer weiter in den Hintergrund.
In Selenskyjs Wahlkampf Anfang 2019 gab es zwar kein erkennbares detailliertes Programm, ungeachtet dessen dominierten zwei Themen: Frieden im Donbas und Ausmerzung der Korruption im Land. Und tatsächlich haben Selenskyj und sein Team seit der Wahl sehr viel Zeit und Energie in die Donbas-Frage investiert. So kam es mehrmals zum Gefangenenaustausch, die Übergangspunkte an der sogenannten Kontaktlinie wurden modernisiert und ihre Zahl vergrößert, ein ab Juli 2020 vereinbarter Waffenstillstand hielt einige Monate lang, und im Dezember 2019 fand in Paris ein Gipfeltreffen im Normandie-Format (Deutschland, Frankreich, Russland, Ukraine) statt, bei dem sich Selenskyj erstmals bilateral mit Wladimir Putin getroffen hat. Allerdings musste Selenskyj erleben, dass die russische Seite ihm in keinem wesentlichen Punkt entgegenkam. Der von ihm versprochene Frieden blieb folglich in weiter Ferne.
Zum Donbas kam ein neuer Schwerpunkt hinzu: die Halbinsel Krim. Am 23. August 2021, einen Tag vor dem 30. Jahrestag der ukrainischen Unabhängigkeit, wurde in Kyjiw die »Krim-Plattform« lanciert, in Anwesenheit von Vertreterinnen und Vertretern aus über vierzig Ländern. Davor waren nicht nur der Präsident, sondern auch das Außenministerium, etliche Abgeordnete sowie Expertenkreise viele Monate lang in die Planung und Werbung involviert. Die Plattform will mehr internationale Aufmerksamkeit auf die Krimfrage lenken und auf ein Ende der Okkupation der Halbinsel hinarbeiten. Auch mit der Militärparade anlässlich der Feierlichkeiten zum 30. Unabhängigkeitstag wurde die Priorität von Sicherheitsfragen in der jetzigen Politik betont. Selenskyj hatte in den ersten beiden Jahren seiner Präsidentschaft auf eine solche Parade verzichtet, unter anderem um seine auf Frieden gerichteten Ziele zu untermauern.
In der Außenpolitik liegt die Priorität insbesondere auf einem Ausbau der Beziehungen zu jenen Partnern, die mit der Ukraine in Sicherheitsbelangen zusammenarbeiten. Dies zeigt etwa die Vereinbarung mit dem Vereinigten Königreich über eine Kooperation beim Aufbau der ukrainischen Flotte oder der Ausbau der Verteidigungszusammenarbeit mit der Türkei. Auch in den Beziehungen zu den USA wurde insbesondere die Sicherheitskooperation betont, zuletzt bei Selenskyjs Besuch in Washington Anfang September. Das Thema Nord Stream 2, das in den Gesprächen mit US-Präsident Biden sowie zuvor bei Selenskyjs Treffen mit Bundeskanzlerin Angela Merkel angesprochen wurde, wird von der ukrainischen Seite hauptsächlich unter Sicherheitsaspekten diskutiert.
Indem die amtierende Führung die Möglichkeit einer Nato-Mitgliedschaft der Ukraine hervorhebt, gibt sie schließlich zu erkennen, wie sehr sie auf Sicherheitsfragen fokussiert ist. Auch wenn sich gegenwärtig kaum Unterstützung für dieses Anliegen bei den Nato-Partnern der Ukraine abzeichnet, hat Selenskyj entschieden, es immer wieder in den Vordergrund zu stellen – selbst in Washington, wo er anscheinend etwas mehr Unterstützung erwartet hatte, als Biden ihm zuzusichern bereit war.
Die klare Präferenz des ukrainischen Präsidenten für eine Beschäftigung mit Sicherheitsthemen signalisiert sowohl nach innen wie nach außen, dass Reformen in der heutigen Ukraine einen relativ niedrigen Stellenwert haben. Gerade weil der Präsident eine herausragende Position in der Politik hat, wäre es von großer Bedeutung, dass insbesondere er sich klar hinter die Reformagenda oder zumindest Teile davon stellt und sie rhetorisch und mit praktischem Handeln vorantreibt. Dies würde für viele involvierte Akteure in Regierung und Bürokratie ein starker Anreiz sein, es ihm gleichzutun. Die Bemühungen, die der Präsident in den letzten Monaten an den Tag gelegt hat, waren eher punktuell oder zeugten von einer reaktiven und wenig nachhaltigen Befassung mit den verschiedenen Reformvorhaben. Der Umgang mit der Krise des Verfassungsgerichts Ende 2020 ist ein Beispiel für einen reaktiven Ansatz, der bislang zu keiner Lösung für diese Krise geführt hat. Das am 23. September verabschiedete »Deoligarchisierungsgesetz« scheint vor allem den Weg für intransparente Entscheidungen darüber zu eröffnen, wer als Oligarch eingestuft wird. Auch wenn dieses Gesetz den Willen des Präsidenten erkennen lässt, das schwierige Thema der Oligarchen anzugehen, fehlt es dem Gesetz zugleich an der nötigen Systematik und steht es für ein punktuelles Vorgehen, das dazu dienen könnte, die präsidiale Macht weiter auszubauen.
Der Diskurs wird rauer
Auf ukrainischer Seite wird eine zunehmende Gereiztheit in Bezug auf die westlichen Partner spürbar, die aus Kyjiwer Sicht nicht genug tun, um die Ukraine zu unterstützen. Außerdem erwartet sie, dass diese Partner klarer definieren, was die ukrainische Seite tun sollte und was sie im Gegenzug dafür erhalten wird. Kurzum, die ukrainische Führung verfolgt einen transaktionalen Ansatz, der nur bedingt zu dem der Partner passt. Ernüchterung macht sich insbesondere über die USA breit, da sie als Hauptpartner in Sicherheitsangelegenheiten gesehen werden. Die ukrainische politische Elite hat sich sehr viel von Bidens Präsidentschaft versprochen und ist vor allem von seiner Entscheidung, die Nord-Stream-2-Pipeline zu dulden, bitter enttäuscht. Auch mit Blick auf die EU zeigen Aussagen des Außenministers, dass die Ukraine die Mahnungen zu Reformen leid ist und sie als Manöver sieht, die von der fehlenden Bereitschaft der EU ablenken soll, der Ukraine eine Mitgliedschaftsperspektive anzubieten. Solche Haltungen entspringen einer wohl größer werdenden Frustration über den Westen, der erstens langsam agiert und der sich zweitens manchmal eher auf Rhetorik beschränkt statt wirksam zu handeln, zumindest in den Bereichen, die für die Ukraine als essentiell gelten. Auch die Inhalte einiger Reformen und die hinter ihnen stehenden Konzepte werden zunehmend infrage gestellt. Im Zusammenhang mit dem Abzug der US‑Truppen aus Afghanistan sagte ein Berater von Andrij Jermak, dass die Idee der liberalen Demokratie gescheitert sei und es keinen Sinn habe, einen »neuen, demokratischen Staat« in der Ukraine aufzubauen.
Die Enttäuschung über den Westen und die Kritik an ihm gehen oft Hand in Hand mit der Auffassung, dass die Ukraine für sich selber sorgen muss und kann. Auch wenn die Führung weiterhin versucht, mehr sicherheitspolitische Unterstützung für ihr Land zu mobilisieren, ist sie gleichzeitig bemüht, zu zeigen, dass die Ukraine auch ohne diese Unterstützung klarkommen wird. Oleksij Danilow, Sekretär des Nationalen Sicherheits- und Verteidigungsrates (NSVR), hat neulich für viel Aufmerksamkeit gesorgt mit seiner Behauptung, dass die ukrainische Armee in der Lage wäre, Donezk und Luhansk zurückzuerobern. Danilows Wort hat Gewicht, zumal Selenskyj den von ihm selbst geleiteten NSVR in den letzten Monaten erheblich aufgewertet hat. Aus der Wirtschaft sind in regelmäßigen Abständen kritische Äußerungen zum IWF und die These zu hören, dass die Ukraine ohne dessen Hilfen auskommen könnte. Auch sie deuten auf Frustration darüber hin, dass internationale Organisationen auf bestimmte Reformschritte bestehen, die die Ukraine zu vollziehen habe.
Solche Meinungsäußerungen bedeuten nicht, dass die Ukraine auf die Zusammenarbeit mit ihren westlichen Partnern verzichten will. Sie sind jedoch eine Art Gegenreaktion auf das Verhalten von Partnern, die in den letzten Jahren zwar sehr viel für die Ukraine getan haben, zu entscheidenden sicherheitspolitischen Maßnahmen aber dann nicht bereit waren. Beide Seiten befinden sich gewissermaßen in einer Zwickmühle. Die Ukraine erwartet klare Signale vom Westen, um Reformen energischer voranzutreiben, während der Westen auf grundlegende Reformschritte der Ukraine wartet, um deren Integration substantieller weiterzuführen. Erschwerend kommt allerdings hinzu, dass es im Westen keinen Konsens darüber gibt, dass die Ukraine selbst im Falle erfolgreicher Reformen vollständig integriert werden sollte.
Aus dieser Lage ergibt sich die Notwendigkeit, dass sowohl die Ukraine als auch die westlichen Partner ein besseres Erwartungsmanagement betreiben. Hierbei sollten die Reformhürden stärker in Betracht gezogen und der Umsetzung bestehender Gesetze mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden. Bislang haben beide Seiten zu sehr betont, dass bestimmte Gesetze verabschiedet werden müssen. Die nachgeordneten Rechtsvorschriften und die bürokratischen Hindernisse, die einer Umsetzung dieser Gesetze entgegenstehen, haben sie darüber oft vernachlässigt.
Reformen und Sicherheit verknüpfen
Der Kontext für Reformen in der Ukraine ist unter Wolodymyr Selenskyj schwieriger geworden. Die Gründe hierfür liegen zum großen Teil in seiner Auswahl jener Personen, die Schlüsselposten innehaben, sowie in den Prioritäten, die der Präsident gesetzt hat. Aufgrund von Frustrationen über externe Partner, aber wohl auch über die geringen Fortschritte im eigenen Land ist die ukrainische Elite empfindlicher gegenüber Reformdruck aus dem westlichen Ausland geworden.
Wie können die Partner auf diese Situation reagieren, wollen sie sich nicht allein darauf beschränken, den Druck auf entsprechende ukrainische Stellen zu erhöhen? Zwei Wege scheinen vielversprechend zu sein.
Erstens wäre es wünschenswert, eine ausgewogenere Balance zwischen Reformen und Sicherheitsinteressen zu erreichen, die es ermöglicht, dass die Reformagenda wieder an Dynamik gewinnt. Sowohl die ukrainische als auch die deutsche Seite sollten sich bemühen, diese beiden Schwerpunkte enger miteinander zu verknüpfen. Reformen verschiedener Art sollten als expliziter Beitrag zur Verbesserung der ukrainischen Sicherheit gesehen werden. Schließlich greift Russland die Ukraine nicht nur militärisch an, sondern nutzt seine Hebel auch in vielen anderen Bereichen, um die Ukraine zu schwächen. Daher könnten rechtsstaatliche, wirtschaftliche sowie energiepolitische Reformen die Ukraine resilienter gegenüber Russland machen und gleichzeitig ihre Annäherung an westliche Strukturen beschleunigen. Ein solches »reframing« könnte die vielfältigen Beiträge der Partner zur ukrainischen Sicherheit sichtbarer werden lassen und der Ukraine noch deutlicher vor Augen führen, wie dringlich gewisse Reformschritte sind.
Ein Beispiel wäre die Zusammenarbeit zwischen Deutschland und der Ukraine, die in der deutsch-amerikanischen Vereinbarung über Nord Stream 2 von Juli 2021 vorgesehen ist. Sicherlich geht es darum, dass die deutsche Seite definiert, was es bedeutet, Energie als Waffe zu benutzen, um adäquat reagieren zu können, wenn Russland sich entsprechend verhält. Aber auch die geplante Bildung eines »Green Fund« mit deutscher Unterstützung hilft der Ukraine, im Energiebereich a) selbständiger zu werden, aber auch b) ihre Energienetze stärker mit denen der EU zu verflechten und als wirtschaftlicher und sozialer Partner attraktiver zu werden. Dies wiederum sichert der Ukraine langfristige Unabhängigkeit von Russlands Energielieferungen und richtet ihre wirtschaftlichen Aktivitäten nachhaltiger auf die EU aus.
Ein zweites Beispiel betrifft die bereits eingeleitete Reform von Institutionen wie dem SBU, dem Innenministerium oder der Generalstaatsanwaltschaft. Je weiter deren Reform fortschreitet, desto schwieriger wird es für Russland, diese Institutionen zu infiltrieren und die dadurch gewonnenen Informationen zu nutzen, um die Ukraine zu schwächen. Grundsätzlich jede Maßnahme, die ein höheres Maß an Transparenz herbeiführt, schließt Lücken, die russischer Einflussnahme auf die Ukraine bislang offenstehen.
Zweitens wäre es notwendig, dass die Nato und die EU Antworten auf heikle Fragen finden, die (nicht nur) die Ukraine betreffen. Wenn man das Verhalten Russlands in den letzten Jahren betrachtet, sind die Sorgen der ukrainischen Führung um die Sicherheit ihres Landes mehr als berechtigt. Deswegen gilt es, präziser zu bestimmen, wie die Ukraine im europäischen Sicherheitsgefüge verortet werden könnte. Wie steht die Nato heute zu der Aussage von 2008, dass die Ukraine und Georgien Mitglieder der Allianz werden könnten? Warum gibt es keine klare Stellungnahme zu einer möglichen EU-Perspektive für die Ukraine? Die Antworten auf diese Fragen werden nicht unbedingt zugunsten der Ukraine ausfallen, sie müssen auch nicht endgültig sein. Doch ein ehrlicher Austausch über solche Themen könnte einen realistischeren Kontext für künftige Gespräche mit der Ukraine über eine Zusammenarbeit bei ihrer Reformagenda schaffen. Die neuerliche Bestätigung von Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, dass die Ukraine und Georgien Mitglieder der Allianz werden und mehr Unterstützung erhalten sollten, ist hierfür ein guter Beginn. Mehr Klarheit würde nicht nur der ukrainischen Führung helfen, Entscheidungen über ihre Reformprioritäten zu treffen. Sie würde auch für die innerhalb von Nato und EU geführte Debatte über die europäische Sicherheit förderlich sein, die in den letzten Jahren an Fahrt gewonnen und viel mit den sich verändernden geopolitischen Prioritäten der USA zu tun hat. Deutschland hat die Chance, diese Fragen unter einer neuen Bundesregierung deutlicher anzusprechen und zu behandeln und auf Basis jener Antworten zu agieren, die es zu finden gilt.
Dr. Susan Stewart ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien.
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doi: 10.18449/2021A63