Am 24. August 2020 verübten zwei Selbstmordattentäterinnen einen Doppelanschlag im südphilippinischen Jolo, bei dem 14 Menschen getötet und mehr als 75 verletzt wurden. Er wurde vom »Islamischen Staat« (IS) für sich beansprucht und war das erste aufwendig geplante und öffentlichkeitswirksame Attentat seit Beginn der Corona-Pandemie. Zudem kommt es beinahe wöchentlich zu Anschlägen und Angriffen in Indonesien und auf den Philippinen. Zuvor hatten Anhänger des IS die Pandemie als »Armee Allahs« bezeichnet, welche die Gegner des IS schwäche und so die Gelegenheit für neue, größere Anschläge biete. Befürchtungen, islamistische Attacken könnten sich infolge von Covid-19 massiv häufen, bestätigten sich indes bislang nicht, obwohl der IS in der Region weiterhin präsent ist. Dort gehen die Sicherheitskräfte nach wie vor militärisch gegen die Organisation vor. Die strukturellen Ursachen des Terrorismus dagegen werden bei seiner Bekämpfung immer noch vernachlässigt.
Im Juni 2014 rief Abu Bakr al-Baghdadi für Teile Syriens und des Iraks die Gründung eines islamischen Kalifats aus. Schon wenige Wochen später leisteten Jihadisten in Südostasien den Treueschwur auf ihn. International machten die IS-Anhänger in der Region vor allem dadurch auf sich aufmerksam, dass sie 2017 die Stadt Marawi auf der Insel Mindanao im Süden der Philippinen besetzten. Erst nach monatelangen Gefechten zwischen der philippinischen Armee und einer Allianz aus verschiedenen jihadistischen Gruppen mit mehreren Hundert Kämpfern konnte Marawi wieder unter staatliche Kontrolle gebracht werden. Laut Angaben der Regierung kamen dabei 920 Aufständische, 165 Vertreter der Sicherheitskräfte und 45 Zivilisten ums Leben. 300 000 Menschen wurden aus Marawi und angrenzenden Gemeinden vertrieben, große Teile der Stadt wurden vollständig zerstört.
Die Einnahme Marawis als einzige »islamische« Stadt der Philippinen hatte große symbolische Bedeutung. Zumindest damals war es aber auch erklärtes Ziel der Jihadisten, von Marawi ausgehend eine IS-wilayah (Provinz) mit protostaatlichen Strukturen zu errichten.
Weil die lokalen IS-Gruppen in den Gefechten um Marawi hohe Verluste erlitten hatten, mussten sie zunächst ihre Aktivitäten reduzieren. Unter den Toten waren auch viele ausländische Kämpfer, besonders aus Indonesien. Zudem war fast die gesamte Führungsriege in Marawi getötet worden, einschließlich des amir (Anführer) Isnilon Hapilon. Militäroperationen in den Folgemonaten brachten 2018 laut Beobachtern die IS-Allianz an den Rand einer militärischen Niederlage. In Indonesien machten IS-affine Gruppen im selben Jahr hauptsächlich mit Selbstmordanschlägen von sich reden. Internationale Beachtung fanden vor allem die Selbstmordattentate auf drei Kirchen und das Polizeihauptquartier in Surabaya im Mai 2018 mit 28 Todesopfern. Auch in Indonesien fanden umfangreiche Polizei- und Militäroperationen statt, in deren Folge Dutzende angebliche IS-Anhänger getötet und Hunderte verhaftet wurden.
Die Beständigkeit des IS
Trotz hoher Verluste zeigen sich IS-Gruppen in der Region widerstandsfähig gegenüber Versuchen der Sicherheitskräfte, sie militärisch zu besiegen. Die Rekrutierung, auch von immer mehr Frauen, schreitet ebenso fort wie die Propagandatätigkeiten sowie Attacken auf Sicherheitskräfte. Zwar sind militärische Großoperationen wie 2017 in Marawi ausgeblieben, doch vergeht in Indonesien und den Philippinen kaum eine Woche ohne Anschläge oder Angriffe IS-affiner Gruppen.
Auch die lokale Unterstützung für diese Gruppen ist in einigen Gebieten unverändert hoch. Sichtbares Zeichen dafür ist zum Beispiel, dass an Beerdigungen hochrangiger IS-Unterstützer Hunderte Menschen teilnehmen. Zudem funktionieren die regionalen und transnationalen Verbindungen nach wie vor, wie etwa der Selbstmordanschlag einer indonesischen Staatsbürgerin in Jolo 2020 zeigt. Dutzende Ausländer kämpfen für IS-affiliierte Gruppen auf den Philippinen, hat das philippinische Militär verlauten lassen. Daher bezeichnet es den Grenzraum zwischen Indonesien, Malaysia und den Philippinen als »Manövrierraum« für Terroristen, den es strenger zu überwachen gelte. Neue Führungsriegen bei IS-affinen Gruppen wie beispielsweise der Mujahidin Indonesia Timur (MIT) sowie der Pro-IS-Fraktion der Abu Sayyaf im Süden der Philippinen haben zudem dafür gesorgt, dass die Gruppen weiterhin aktiv sind.
Wenig geändert hat sich aus Sicht vieler Beobachter überdies an den Gründen für die erfolgreiche Rekrutierung durch IS-Gruppen in der Region. Auch drei Jahre nach der Rückeroberung Marawis durch das philippinische Militär müssen laut UNHCR immer noch rund 127 000 Einwohner der Stadt in Behelfsunterkünften ausharren. In Poso auf Sulawesi wurden im Zuge der »Operation Tinombala«, welche die »Auslöschung« der MIT zum Ziel hat, mehrere Zivilisten von Sicherheitskräften erschossen. Hunderte wurden bisher im Kontext dieser Operation aus ihren Dörfern vertrieben. Zentralstaatliche Akteure treten weiter vor allem durch militärisches Handeln in Erscheinung, während sich die sozioökonomischen Umstände in den betroffenen Gebieten nicht nennenswert verbessert haben.
Covid-19 als »Armee Allahs«
Bisher verfolgen IS-affine Gruppen in Südostasien keinen einheitlichen Ansatz zum Umgang mit der Pandemie. Einzelne Gruppen in Indonesien glaubten darin eine Neuauflage der in den Hadithen überlieferten Plage (»ta’un« oder »thaun«) oder die drohende Apokalypse (»dukhon«) zu erkennen und zeigten sich deshalb abwartend. Andere Gruppen dagegen sahen den Zeitpunkt für einen Angriff gekommen. Sie folgten damit der auf der zentralen IS-Propagandaplattform Ammaq vertretenen Auffassung, der zufolge das Virus die »göttliche Vergeltung« für Chinas Internierung der Uiguren darstelle. Als sich Covid-19 weltweit verbreitete, wurde dieses Narrativ auf alle Feinde des Islams im Westen ausgedehnt. Die Pandemie geriet in der Interpretation des IS quasi zu einem Verbündeten und wurde als »Armee Allahs« bezeichnet. In diesem Zusammenhang nahm der IS an, dass die Corona-Pandemie besonders die staatlichen Sicherheitskräfte schwächen werde, da sie Budgetkürzungen hinnehmen müssten sowie damit beschäftigt seien, die Notversorgung zu gewährleisten und den Lockdown durchzusetzen. Aus diesen Gründen sei die Zeit günstig für eine weitere Offensive des IS. Die Maßnahmen der Regierung zur Pandemiebekämpfung wurden ebenfalls in islamistische Narrative eingebettet. So wertete eine philippinische Gruppe die Schließung von Moscheen als Beweis für die Unterdrückung der Muslime, die unter dem Vorwand des Schutzes vor der Epidemie vorangetrieben werde.
In Indonesien waren im März und April 2020 vier Angriffe von Mitgliedern der MIT auf Polizeiposten und angebliche Informanten zu verzeichnen. Als eine der ersten jihadistischen Organisationen Indonesiens hatte die MIT den Treueschwur auf den IS abgelegt und sich früh der Auslegung angeschlossen, das Virus sei ein »Verbündeter« im Kampf gegen die »Unterdrücker«. Zwei angebliche Informanten kamen bei den Attacken ums Leben. Aufsehen erregte zudem Anfang Juni in der Provinz Süd-Kalimantan der Angriff eines mutmaßlich online radikalisierten Anhängers des IS, welcher einen Polizisten mit einem Schwert getötet haben soll. Kurz darauf wurden laut Polizeiangaben die mutmaßlichen Hintermänner der Tat verhaftet.
Auch auf den Philippinen wurden trotz eines strengen Lockdowns immer wieder Polizisten und Soldaten angegriffen. Eine dem IS nahestehende Fraktion von Abu Sayyaf tötete im April 2020 in einem Feuergefecht auf Sulu elf Soldaten und verwundete 14. Im Mai darauf brachten Mitglieder der BIFF (Bangsamoro Islamic Freedom Fighters) in der Stadt Datu Hoffer Ampatuan auf Mindanao zwei Soldaten um und verletzten einen weiteren, als diese Quarantänemaßnahmen durchsetzen wollten. Im Juni forderten Gefechte zwischen der Armee und Abu Sayyaf laut Militärangaben fünf Todesopfer unter den Soldaten, 26 wurden verwundet. Ende August sprengten sich in Jolo zwei Selbstmordattentäterinnen in die Luft. Dabei kamen 14 Menschen ums Leben, mehr als 75 wurden verletzt. Schon ein Jahr zuvor war in der Nähe ein Bombenanschlag verübt worden.
Versuche, die Pandemie zur Mobilisierung von Jihadisten zu nutzen, und die propagandistische Darstellung von Covid-19 als Gelegenheit für größere Attentate und Angriffe haben bisher aber nicht bewirkt, dass das Gewaltniveau deutlich gestiegen ist. Häufigkeit und Schwere der Attacken entsprechen in etwa denen der Zeit vor der Pandemie. Zwar gibt es immer wieder Anschläge, die auch regelmäßig Opfer fordern. Doch die IS-affinen Gruppen haben noch keinen Weg gefunden, aus der pandemiebedingten Situation Kapital zu schlagen und abermals international sichtbare Prestigeerfolge zu erzielen wie einst die Eroberung von Marawi. Das gleichbleibend hohe Gewaltniveau lässt sich allerdings auch so interpretieren, dass IS-affine Gruppen in der Region im Kontext von Covid-19 weiterhin aktiv sind.
Strukturelle Ursachen bleiben unverändert
Obwohl die Regierungen der Region bisher damit gescheitert sind, die IS-affinen Gruppen dort zu zerschlagen, gibt es hinsichtlich staatlicher Anti-Terror-Maßnahmen kaum neue Ansätze. Manche Angehörige der politischen und militärischen Eliten sehen jihadistische Militanz als Resultat struktureller Faktoren wie Armut, Arbeitslosigkeit und endemischer Korruption. Andere wiederum stellen die Täter durchweg als »Terroristen«, »Kriminelle«, »Landesverräter« oder »Degenerierte« dar, wobei bislang das zweite der beiden Narrative dominiert. Deswegen wird der IS überwiegend als sicherheitspolitische Herausforderung wahrgenommen, der man in erster Linie mit intensivem Einsatz militärischer Gewalt begegnen müsse.
Vor allem zivilgesellschaftliche Gruppen, aber auch Vertreter der Polizei kritisieren die stetig wachsende Beteiligung des Militärs an der Terrorismusbekämpfung. Menschenrechtsorganisationen beklagen, dass die Abgrenzung der Kompetenzen im Bereich der inneren Sicherheit auf diese Weise verwischt werde und dass der Einsatz militärischer Taktiken bei Anti-Terror-Operationen immer mehr Menschenrechtsverletzungen zur Folge habe. Nicht zuletzt werde durch einen solchen militärischen Ansatz der Zyklus aus Gewalt und Gegengewalt weiter am Laufen gehalten.
Die zunehmende Militarisierung wird flankiert von umstrittenen Anti-Terror-Gesetzgebungen sowohl in Indonesien als auch auf den Philippinen. So verabschiedete die philippinische Regierung im Juli 2020 ein Gesetz gegen den Terror, das bei muslimischen Organisationen wie auch bei Menschenrechtsverbänden Kritik erntete. So ermögliche es den Sicherheitsbehörden, auf bloßen Verdacht hin Menschen als mutmaßliche Terroristen zu etikettieren und lebenslang zu inhaftieren. Darüber hinaus lasse es den Betreffenden weder Raum, sich angemessen zu verteidigen, noch sehe es eine Wiedereingliederung in die Gesellschaft vor. Schließlich befördere es eine Stimmung des Generalverdachts gegenüber Muslimen.
In Indonesien war das Anti-Terror-Gesetz schon 2018 verschärft worden. Seitdem dürfen Terrorverdächtige ohne Gerichtsverfahren bis zu sechs Monate in Haft gehalten werden. Der Beitritt zu terroristischen Organisationen im In- und Ausland und die Rekrutierung für sie sind seither ebenso strafbar wie Hassreden (»hate speech«), die den Grundsätzen der Verfassung widersprechen. Schließlich wurde dem Militär durch die Gesetzesänderung eine wichtigere Rolle im Kampf gegen den Terrorismus zugewiesen.
Unter dem Banner der Terrorismusbekämpfung werden auf diese Weise demokratische Rechte und Menschenrechtsprinzipien ausgehöhlt. Dies schwächt zum einen die Legitimität der Maßnahmen gegen den Terrorismus, vor allem wenn sie weit über jihadistische Netzwerke hinaus angewandt werden. Zum anderen produziert eine militarisierte Terrorbekämpfung zwangsläufig »Kollateralschäden«, trifft also Unschuldige. Damit erzeugt sie zumindest indirekt immer neue Generationen von Rekruten für militante islamistische Organisationen.
Zudem betreiben die Regierungen überwiegend Symptombekämpfung mit Hilfe von Repression, ohne sie mit effektiven Maßnahmen in den Bereichen Prävention und Deradikalisierung zu flankieren. Dabei ist eine kohärentere, wirkungsvollere Strategie, die Armuts- und Korruptionsbekämpfung mitberücksichtigt, nötiger denn je. Es besteht die Gefahr, dass die politische Aufmerksamkeit für strukturelle Ursachen islamistischer Militanz sinkt und weniger Ressourcen zu ihrer Bekämpfung bereitgestellt werden. In Verbindung mit den absehbaren verheerenden sozioökonomischen Folgen der Pandemie könnte dies bewirken, dass sich die bereits existierenden Räume für islamistische Militanz weiter vergrößern.
Dr. Felix Heiduk ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Asien.
Nedim Sulejmanović ist Praktikant in der Forschungsgruppe Asien.
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doi: 10.18449/2020A81