Wirtschaftsaufschwung, Korruptionsbekämpfung und eine eiserne Hand gegen Gewaltkriminalität hat Jair Bolsonaro im Wahlkampf versprochen – heute bilden sie die schwachen Flanken des Präsidenten: Brasilien ist ein Epizentrum der Covid‑19-Pandemie geworden. Auch wenn Bolsonaro diese kleinredet und sich gegen die Eindämmungsmaßnahmen stellt, zeitigen das Virus und das chaotische Krisenmanagement gravierende sanitäre, soziale und ökonomische Folgen für Bürgerinnen und Bürger. Ermittlungen, unter anderem wegen Korruption, sowie die Enthüllungen des zurückgetretenen Justizministers nehmen den Präsidenten und seine Familie ins Visier. Während die Mordrate im Jahr 2020 wieder ansteigt, plädierte Bolsonaro in einer Kabinettsitzung für den bewaffneten Widerstand der Bevölkerung gegen die Politik des Gesundheitsschutzes in den Bundesstaaten. Der vom Impeachment bedrohte Präsident ringt um sein politisches Überleben und fordert dabei rechtsstaatliche und demokratische Prinzipien heraus.
In Lateinamerika hat die Covid‑19-Pandemie mit einem Infektionsfall begonnen, der am 26. Februar in Brasilien registriert wurde. Am 17. März gab es den ersten offiziell bekannten Todesfall Brasiliens (den zweiten in der Region). Mit einer Bevölkerung von rund 210 Millionen Menschen rangiert das Land aktuell weltweit (nach den USA) auf Platz 2 der Infektions- und der Todesfälle. Heftig betroffen sind die Hauptstädte von sechs Bundesstaaten: São Paulo (São Paulo), Rio de Janeiro (Rio de Janeiro), Fortaleza (Ceará), Belém (Pará), Manaus (Amazonas) und Recife (Pernambuco), in denen staatliche Krankenhäuser überlastet sind. Zur massiven Ausbreitung der Pandemie haben die Armut, prekäre Arbeits- und Wohnverhältnisse, das von großen Defiziten geprägte Gesundheitswesen und das chaotische Corona-Management beigetragen.
Die Pandemie ist inmitten einer politischen Krise ausgebrochen und macht diese sichtbarer. Der starken politischen Polarisierung für und gegen den Präsidenten sowie seiner Konfrontation mit den anderen Gewalten gesellt sich nun ein Streit um das geeignete Corona-Management hinzu, im Kabinett und vor allem mit den Gouverneuren der Bundesstaaten.
Das Gesundheitssystem
Nach der Redemokratisierung wurden 1988 das Recht auf Gesundheit als soziales Recht und Aufgabe des Staates sowie der universelle Zugang zur Gesundheitsversorgung verfassungsrechtlich verankert. Dieser ist jedoch de facto nicht gegeben, wegen der Fragmentierung des Gesundheitssystems und der Schwäche des staatlichen Gesundheitssektors. So geben die Brasilianerinnen und Brasilianer in Umfragen traditionell »Gesundheit« als das dringlichste Problem an. Außerdem wird das Land häufig von Epidemien heimgesucht; aktuell verzeichnet es die höchste Zahl (2,2 Millionen) von Dengue-Fieber-Infektionen in der Region.
Das Gesundheitswesen ist dreigeteilt: Das staatliche Gesundheitssystem (Sistema Único de Saúde, SUS) wird durch Steuern und Sozialbeiträge finanziert. Ein Netz aus territorial und hierarchisch organisierten öffentlichen Einrichtungen bietet eigene oder im privaten Sektor angekaufte Dienstleistungen an. Rund drei Viertel der Bevölkerung nutzen es. Daneben existiert ein privater Sektor, der das restliche Viertel der Bevölkerung, das eine höhere Kaufkraft besitzt, gesundheitlich versorgt. Er umfasst sowohl ein Direktzahlungssystem (bezahlt wird die Inanspruchnahme individueller Leistungen) als auch ein Zusatzsystem (Sistema de Atenção Médica Suplementar; SAMS), finanziert durch die Abgaben der Familien und Unternehmen über individuelle wie korporative Krankenversicherungen. Privatversicherte wenden sich für komplexe oder kostspielige Behandlungen gelegentlich an staatliche Krankenhäuser (etwa Unikliniken). Eine dritte Säule des Gesundheitssystems stellt der Militärsektor dar, dessen Einrichtungen aktive wie pensionierte Mitglieder der Streitkräfte und ihre Familien aufsuchen.
Im Unterschied zum privaten weist der öffentliche Gesundheitssektor große Defizite bei Finanzierung und Ausstattung auf. Weil die Kapazitäten begrenzt sind, müssen die Patientinnen und Patienten für Arzttermine oder Behandlungen oft lange Wartezeiten in Kauf nehmen und große Entfernungen zurücklegen, selbst in akuten Fällen. Je 10 000 Menschen stehen in Brasilien lediglich 22 Betten in (staatlichen wie privaten) Krankenhäusern (DEU: 83 Betten) zur Verfügung, auf Intensivstationen nur 0,8, mehr als die Hälfte davon in privaten Einrichtungen.
Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) der Vereinten Nationen (VN) widmete Brasilien im Jahr 2017 dem Gesundheitswesen 10,3 Prozent der gesamten Staatsausgaben (DEU: 19,9 %). Laut einer Untersuchung des Instituto Brasileiro de Geografia e Estatística (IBGE) von 2019 lagen die gesamten Gesundheitsausgaben pro Kopf im Jahr 2017 bei rund 1 000 US-Dollar (Kaufkraftparität, KKP). Im lateinamerikanischen Vergleich ist dieser Betrag zwar beachtlich, bleibt jedoch weit unter 2 900 US-Dollar (KKP), dem Mittelwert aller Mitgliedsländer der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Der Anteil der gesamten Gesundheitsausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) schwankte in Brasilien im Zeitraum 2010–2017 zwischen 7,8 und 9,3 Prozent. Dabei übernahmen private Akteure stets mehr als die Hälfte der Kosten; die staatlichen Gesundheitsausgaben bewegten sich innerhalb der niedrigen Spanne von 3,4 bis 4 Prozent des BIP (DEU: 9,5 %). Im Zuge von Sparmaßnahmen unter der Regierung Michel Temer (2016–2018) sind per Verfassungsänderung (EC95/2016) die staatlichen Gesundheitsausgaben für 20 Jahre eingefroren worden, so dass nur Inflationsanpassungen zulässig sind. Zudem ist der Gesundheitsetat nach dem ersten Jahr der Präsidentschaft Bolsonaros (Januar 2019–Januar 2020) um weitere 4,3 Prozent gesunken.
Deutung(en) der Corona-Krise
Präsident Bolsonaro sieht in der durch die Covid-19-Pandemie ausgelösten Krise keine Krise der öffentlichen Gesundheit bzw. Sicherheit, sondern (einzig) die Gefahr einer ökonomischen Rezession. Deren Ursache ist für ihn jedoch nicht die Pandemie selbst, sondern die von ihm geächtete politische Managementstrategie zu ihrer Eindämmung. Für diese Strategie setzen sich einige Mitglieder seines Kabinetts sowie viele der Gouverneure der 26 Bundesstaaten ein, auch große Teile der Bevölkerung befürworten sie.
Als Rechtspopulist mit Anti-Establishment-Haltung – und ähnlich wie US-Staatschef Donald Trump – verachtet Bolsonaro die akademische Elite, das Expertentum und fachlich spezialisierte internationale Organisationen wie die WHO. Dabei relativiert er die evidenzbasierten Erkenntnisse, auf die sich diese Akteure berufen. So zeigt er sich nicht weniger legitimiert als eine Fachperson der Humanmedizin bzw. Biologie, um seine Interpretation von Covid‑19 zu verbreiten (lediglich eine gripezinha: »kleine Erkältung«), die Behandlung mit bestimmten Medikamenten (etwa dem Antimalariamittel Hydroxychloroquin) dringend zu empfehlen oder rassistische Thesen aufzustellen, die besagen, das brasilianische Volk sei genetisch überlegen und nicht anfällig für Covid‑19. Zudem beschuldigt er die Medien der Panikmache.
Die Gründe für Bolsonaros Ablehnung der gesellschaftlichen Quarantänisierung sind weniger darin zu finden, dass er mikrosoziologisch bestimmte Bevölkerungsgruppen in den Blick nimmt: nämlich all diejenigen, die in Brasilien auf den Tageslohn aus einem informellen Job angewiesen sind, um am nächsten Tag Essen kaufen zu können, oder die in Großfamilien mit drei bis vier Generationen auf kleinstem Raum wohnen. Mittlerweile nimmt er sogar die Letalität von Covid‑19 in Brasilien mit der Begründung hin, am Ende müssten eh alle sterben. Er heiße mit zweitem Vornamen zwar Messias, könne aber keine Wunder vollbringen (um die Pandemie zu bremsen). – Sein Diskurs ist vielmehr rein makroökonomisch geprägt, getreu dem Motto: die brasilianische Volkswirtschaft zuerst!
Die Deutung der Corona-Krise von Außenminister Ernesto Araújo kommt etwas komplexer und verschwörungstheoretischer daher. In seinem Blog »Metapolítica 17. Gegen den Globalismus« liefert er im Beitrag vom 22. April mit dem Titel »Chegou o Comunavírus« (Das Kommunavirus ist gekommen) seine Interpretation der aktuellen Situation. Hierfür bedient er sich einer Reihe von Zitaten aus dem im März 2020 digital erschienenen Buch »Virus« des slowenischen Philosophen Slavoj Žižek. Dieses Werk hält Araújo für ein totalitäres Programm und zugleich für einen Beleg für die kommunistische Absicht, das Coronavirus ideologisch zu instrumentalisieren.
Araújo ist ein Bewunderer Trumps und bemüht sich um bessere und engere Beziehungen zu den USA. Mit ihnen zusammen solle Brasilien gegen die Ideologie des Kulturmarxismus und des damit verbundenen Globalismus kämpfen, die die christliche, westliche Zivilisation bedrohten – so seine Überzeugung. Seiner Ansicht nach ersetze heute der Globalismus den Sozialismus als Vorstufe auf dem Weg zum Kommunismus. Dieser Kommunismus-Globalismus nutze die Gunst der Pandemie, um die liberale Demokratie und die Marktwirtschaft – so Araújos Begrifflichkeit – zu untergraben und den Menschen zu versklaven. Ziel sei dabei die Errichtung einer Weltordnung ohne Nationalstaaten und ohne Freiheit. Die Aufwertung der WHO als zentralisierende internationale Organisation bilde einen ersten Schritt hin zu einer planetarischen kommunistischen Solidarität.
Die politische Korrektheit kritisiert Araújo aufs Schärfste als ein Instrument des Kommunismus, um die Sprache zu kontrollieren und letztendlich das Denken zu überwachen und den Geist zu töten. Diesem geselle sich nun das wirkungsmächtigere Instrument der sanitären Korrektheit hinzu, denn das Coronavirus eröffne Chancen, Menschen zu unterdrücken. So stelle sich die Covid‑19-Pandemie in eine Reihe mit anderen Panik machenden Mitteln, die der Außenminister teilweise mit Neologismen bezeichnet: dem klimatischen Alarmismus, der Genderideologie, dem Immigrationismus, dem Rassialismus, dem Antinationalismus und dem Scientifizismus. Vor diesem Hintergrund sei es notwendig, schlussfolgert er, für die Gesundheit des Körpers und des Geistes zu kämpfen – aber auch gegen den Parasiten des Parasiten, also gegen das Coronavirus und das Kommunavirus.
Im Einklang damit – ergänzt um eine antichinesische Komponente – steht die Deutung der Corona-Krise von Abraham Weintraub, bis 18. Juni Bildungsminister, der in der Pandemie einen unfehlbaren Plan Chinas zur Beherrschung der Welt sieht. Auch Bolsonaros außenpolitisch aktiver Sohn Eduardo, Nationalabgeordneter für São Paulo, betrachtet das neuartige Virus als ein asiatisches, für das es einen einzigen Schuldigen gebe: die Kommunistische Partei Chinas. Derartige Interpretationen führen zu diplomatischen Spannungen mit China, dem Haupthandelspartner Brasiliens, veranlassen aber auch andere Akteure, wie den Präsidenten des Abgeordnetenhauses, sich gegenüber dem Land zu entschuldigen.
Chaotisches Corona-Management
In Brasilien gibt es keinen nationalen Ansatz zum Corona-Krisenmanagement; es fehlt an einer Steuerung durch die Regierung in Brasilia, außerdem ist die horizontale Koordinierung zwischen den Bundesstaaten schwach ausgeprägt. Entlang der Corona-Konfliktlinie ist das Kabinett gespalten. Der Präsident boykottiert die restriktiven Maßnahmen zu Gesundheitsschutz und Pandemieeindämmung, die andere Instanzen gegen seinen Willen treffen. Aus diesem Grund gehen die meisten Gouverneure der Bundesstaaten, viele von ihnen einst Bolsonaros Unterstützer, auf Distanz. Zudem gerät der Präsident immer wieder in Konflikt mit der Judikative und der Legislative, deren checks-and-balances-Funktion in der Corona-Krise zum Tragen kommt.
Bereits Anfang Februar erklärte der damalige Gesundheitsminister Luiz Henrique Mandetta (ein Mediziner) den Notfall im Bereich der öffentlichen Gesundheit. Er ging offen mit der Gefahr um, dass das Gesundheitssystem pandemiebedingt bald zusammenbrechen könnte, und setzte sich für den schnellen Ausbau von Kapazitäten ein. Drei Dinge kosteten ihn Mitte April das Amt: sein Plädoyer für eine intensive Kommunikation, um die Bevölkerung über Covid‑19 aufzuklären, und für räumliche Distanzierung; seine Vorbehalte gegen den vom Präsidenten empfohlenen massiven Einsatz von Hydroxychloroquin zur Behandlung von Covid‑19; nicht zuletzt die Tatsache, dass er in der Bevölkerung beliebter war als Bolsonaro. Als Nachfolger ernannte dieser Nelson Teich (ebenfalls ein Mediziner), der einen Monat später zurückgetreten ist und die Gründe hierfür verschwieg. Als Exekutivsekretär und damit Nummer 2 in der Ministerialhierarchie hatte Teich einen General des Heeres, Eduardo Pazuello, bestimmt; der Militär leitet nun das Ressort ad interim.
Das Ministerium für Justiz und Öffentliche Sicherheit (bis Mitte Mai unter der Leitung von Sérgio Moro) hat ab März die partielle und temporäre Schließung der Grenzen veranlasst, eine Maßnahme, die sukzessive räumlich wie zeitlich erweitert wurde. Weiterhin wurden unter anderem Isolations- und Schutzmaßnahmen in den föderalen Strafvollzugsanstalten eingeführt.
Die Exekutiven auf den Ebenen der Bundesstaaten und Kommunen haben bereits seit Ende Januar verschiedene, zunehmend restriktive Vorkehrungen zur Beschränkung des öffentlichen Lebens getroffen. Damit wichen sie von den Anweisungen des Präsidenten ab, worauf Bolsonaro mit einer aggressiven Kampagne gegen deren Corona-Management reagierte.
In einer Kabinettsitzung vom 22. April, deren aufschlussreicher Mitschnitt durch eine Entscheidung eines Bundesrichters öffentlich gemacht wurde, argumentierte Bolsonaro inbrünstig, er wolle das ganze Volk bewaffnen, damit es sich gegen die Diktatur (gemeint ist die der Gouverneure) wehren könne. In dieser von Männern dominierten Runde (es gibt nur zwei Frauen im 22‑köpfigen Regierungskabinett) verurteilte die Ministerin für Frauen, Familien und Menschenrechte, Damares Alves, den Corona-Krisenmanagement-Ansatz von Gouverneuren und Bürgermeistern. Die evangelikale Pastorin, leidenschaftliche Gegnerin des Feminismus und der Legalisierung der Abtreibung, versprach: Sie werde die Verantwortlichen für die gesellschaftliche Quarantänisierung und deren menschenrechtsverletzende Durchsetzung hinter Gitter bringen. Seinerseits erklärte der damalige Bildungsminister Weintraub, der nun zur Weltbank wechselt, sich an der Seite des Volkes in einem Kampf für die Freiheit zu befinden. Er gestand, »den Scheiß, der Brasilia ist«, »ein Krebsgeschwür der Korruption, der Privilegien«, loswerden zu wollen. Er wünsche sich die Verhaftung all dieser »Landstreicher« der Hauptstadt, »angefangen mit dem Obersten Bundesgerichtshof«.
Denn auch von der Judikative bekommt Bolsonaro Gegenwind – einige Beispiele: Eine Bundesrichterin folgte im März einem Antrag der Staatsanwaltschaft und verbot Bolsonaro, eine Kampagne für eine Normalisierung des öffentlichen Lebens in Brasilien zu betreiben. Damit wurde die offizielle Veröffentlichung des Werbevideos »Brasil não pode parar« (Brasilien kann nicht anhalten) verhindert. Im April urteilte der Oberste Gerichtshof einstimmig zugunsten der Bundesstaaten und Munizipien und bekräftigte damit deren verfassungsmäßige Kompetenz, gesundheitsschützende Restriktionen zu verordnen. Zuvor hatte der Präsident versucht, per Dekret die Schließung von Flughäfen und Verbindungsstraßen zwischen den Bundesstaaten zu stoppen. Im selben Monat autorisierte die Bundesjustiz die Stadt São Paulo, ihre Schuldenrückzahlung an den Bund für sechs Monate auszusetzen, um die damit freigewordenen Ressourcen für die Pandemiebekämpfung verwenden zu können. Auf Antrag von Oppositionsparteien erließ im Juni ein Richter des Obersten Bundesgerichtshofs eine einstweilige Verfügung gegen Bolsonaros Entscheidung, nicht mehr die (extrem hohe) Gesamtzahl von Covid-19-Infektionen publik zu machen, sondern nur die täglich neu registrierten.
Inzwischen hatte das brasilianische Parlament bereits seine Absicht bekundet, die Gesamtzahl der Krankheitsfälle zu verfolgen und zu veröffentlichen. Im Allgemeinen zeigen der Präsident des Senats, Davi Alcolumbre (der im März positiv auf Covid‑19 getestet wurde), und der Präsident der Abgeordnetenkammer, Rodrigo Maia, öffentlich ihre Anteilnahme. Beispielsweise veranlassten sie am 9. Mai eine dreitägige Staatstrauer, um der ersten 10 000 Corona-Toten Brasiliens zu gedenken. Sie erkennen die gesundheitliche Herausforderung durch die Pandemie an – und auch die ökonomischen Nebenfolgen: Bereits am 20. März erklärte der Kongress den Katastrophenzustand (PDL 88/20), zwei Tage, nachdem Bolsonaro den Antrag (Mensagem Nr. 93) gestellt hatte. Damit werden Extraausgaben jenseits des beschlossenen Staatshaushalts zulässig, sofern sie mit Bezug auf die Covid‑19-Pandemie und bis Jahresende erfolgen.
Wirtschaftliche Auswirkungen
Krisenereignis und Krisenmanagement verändern das Angebot und die Nachfrage auf nationaler wie internationaler Ebene. Sowohl die Pandemie selbst als auch der politische Umgang mit ihr zeitigt negative ökonomische Folgen; zum Beispiel durch die Erkrankung oder die Selbstisolierung bzw. durch die verhängte Quarantäne oder die Grenzschließung. All das hindert die Menschen daran, sich am Arbeits- und Konsummarkt zu beteiligen. Laut Bewertung der VN-Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) wirken sich weitere, miteinander verknüpfte Faktoren belastend auf Brasilien (sowie einen großen Teil Lateinamerikas) aus: (1) der Rückgang der wirtschaftlichen Aktivität der wichtigsten Handelspartner, an erster Stelle Chinas, und dadurch der Rückgang der Exporte; (2) der Preisverfall für Rohstoffe, Hauptausfuhrprodukt; (3) die Unterbrechung globaler Wertschöpfungsketten für den Industriesektor, den größten in der Region; (4) die gestiegene Risikoaversion und verschärfte internationale Finanzbedingungen; (5) die Abwertung der nationalen Währung, also des Real gegenüber dem Dollar. Für 2020 wird für Brasilien ein negatives Wirtschaftswachstum von 5,2 Prozent erwartet.
Regierung und Parlament haben eine Reihe ökonomischer Hilfsmaßnahmen beschlossen. Gemäß CEPAL-Berechnungen entsprechen sie zusammengenommen lediglich 4,6 Prozent des brasilianischen BIP. Die Maßnahmen sind darauf ausgerichtet, den Gesundheitssektor zu stärken, prekäre Haushalte zu unterstützen, finanzschwachen Beschäftigten im formalen wie informellen Sektor zu helfen und Unternehmen (vor allem kleine und mittlere) zu schützen. Die Hilfsleistungen bestehen unter anderem in erhöhten, erweiterten und neuen Finanztransfers, der Ausgabe von Nahrungsmitteln und Medikamenten, der Gewährleistung kostenloser Dienstleistungen. Allerdings erschweren verschiedene Umstände, dass sie jene erreichen, die sie am meisten benötigen: Armut, ein bedeutender Bevölkerungsanteil außerhalb des Banksystems (30 % der Volljährigen), ein großer informeller Sektor (rund 41 % des Arbeitsmarktes und 17 % des BIP), verbreitete Korruption.
Bereits vor dem Ausbruch der Pandemie war die Wirtschaftslage Brasiliens alles andere als rosig. Seit 2017 lag das jährliche Wirtschaftswachstum zwischen 1,3 und 1,1 Prozent. Bedingt durch ein historisches Haushaltsdefizit betrug 2019 die Staatsverschuldung der brasilianischen Bundesregierung 75,8 Prozent des BIP. Die politische Instabilität und der Imageschaden, den die Marke Brasil wegen Bolsonaro international erlitt (und erleidet), wirken sich nachteilig auf ausländische Investitionen aus.
Die Wahrnehmung der Situation in der Gesellschaft
Unterdessen betrachtet die Bevölkerung die Situation zunehmend mit Sorge. Während die ersten Infektionsfälle in den höheren sozialen Schichten, die international reisen, registriert wurden, sickert das Virus nun in der sozialen Pyramide nach unten durch und verbreitet sich dort stark. Negative Effekte und Implikationen der Pandemie sowie vieler Maßnahmen des Krisenmanagements verteilen sich ungleichmäßig entlang struktureller Asymmetrien und verschärfen sie. Extrem anfällig für eine Ausbreitung der Pandemie sind die dicht besiedelten Armenviertel, Favelas, in denen die sanitären Bedingungen schlecht sind und des Öfteren die organisierte Kriminalität das Corona-Management bestimmt. Einer ähnlichen Gefahr sind die Gefängnisse ausgesetzt, die zu rund 168 Prozent belegt und damit überfüllt sind. Dort sind Arme und Schwarze überrepräsentiert und Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung.
In einer Umfrage von Datafolha vom Mai geben 45 Prozent der Befragten an, große Angst davor zu haben, sich mit Covid‑19 anzustecken. Dabei entspricht die Karte der Angst der Geographie sozialer Ungleichheit in Brasilien: Große Angst haben mehr Frauen (51 %) als Männer (38 %); eher die Armen (50 %) als die Reichen (35 %); häufiger jene, die im ärmeren Nordosten (51 %) leben, als jene aus dem reicheren Süden (35 %). Auf die Frage nach ihrer Bewertung von Bolsonaros Aussagen zur Pandemie antwortet eine große Mehrheit, der Einsatz von Hydroxychloroquin als Behandlungsmittel sollte eine Entscheidung medizinischen Fachpersonals sein und nicht der Politik (89 %). Zudem sei es nicht richtig, dass das Volk bewaffnet werden solle, damit es nicht versklavt werden könne (71 %).
Ebenfalls im Mai ermittelte Datafolha die bisher schlechtesten Zustimmungswerte für Bolsonaro seit seiner Amtsübernahme: 43 Prozent bewerten seine Regierungsführung als schlecht, 22 Prozent als mittelmäßig und 33 Prozent als gut.
Eine starke politische Polarisierung um die Figur Bolsonaros prägt die Gesellschaft und zeigt sich auch in den Straßen. Auf der einen Seite war am 19. April, dem Tag der Streitkräfte in Brasilien, eine bedeutende Mobilisierung zu beobachten, als die Covid‑19-Infektionsfälle in die Höhe schnellten. Die Gefolgschaft des Präsidenten demonstrierte in mehreren Städten des Landes und forderte die Schließung des Parlaments und des Obersten Bundesgerichtshofes sowie die Einführung einer Militärdiktatur mit Bolsonaro an der Spitze. Dieser schloss sich der Mobilisierung in Brasilia an und improvisierte vor dem Hauptquartier der Streitkräfte eine mehrdeutige, populistische Rede, die über die sozialen Medien live übertragen wurde. Es waren wieder die Militärs, etwa der Verteidigungsminister, General Fernando Azevedo, die nachträglich bekräftigten, für Demokratie und die volle Geltung der Verfassung zu stehen. Rund 3 000 aktive wie pensionierte Mitglieder der Streitkräfte besetzen im heutigen Brasilien zivile Positionen.
Auf der anderen Seite regt sich seit März Protest gegen Bolsonaro: Häusliche Panelaços, lautes Topfschlagen an Fenstern, auf Balkonen und Terrassen, bringen in eher bürgerlichen Vierteln die Unzufriedenheit mit seiner Corona-Politik zum Ausdruck. Auch gehen Menschen gegen eine Militärdiktatur und zur Verteidigung der Demokratie auf die Straße. Doch an den Pro- und Contra-Mobilisierungen nehmen – womöglich auch pandemiebedingt – keine großen Menschenmassen teil und die verfeindeten Gruppen scheinen sich in etwa die Waage zu halten: In einer Datafolha-Umfrage vom April sprechen sich 45 Prozent der Interviewten für die Einleitung eines Impeachment-Prozesses gegen den Präsidenten durch den Kongress aus, 48 Prozent dagegen.
Das Gespenst des Impeachment
Die Debatte um ein mögliches Amtsenthebungsverfahren gegen Bolsonaro hat sich verschärft, seitdem Sérgio Moro, an der Spitze des Ressorts für Justiz und Öffentliche Sicherheit, am 24. April die Regierung verlassen hat. In seiner Rücktrittsrede warf er dem Präsidenten vor, sich in die Personalpolitik der Bundespolizei einmischen zu wollen, um Ermittlungen gegen die eigene Familie zu bremsen. Darauf reagierte Bolsonaro mit einem öffentlichen Auftritt, bei dem er gut 45 Minuten die Anschuldigungen Moros von sich wies und ihn hart anging. Währenddessen stand fast das ganze Kabinett aufgereiht hinter ihm.
Die Verfeindung zwischen den beiden Männern erlangt eine besondere Brisanz vor dem Hintergrund, dass Moro als Bundesrichter die Strafprozesse im Rahmen der Operação Lava Jato stark vorangetrieben hatte. Diese Prozesse beeinflussten die gesellschaftliche Stimmung zugunsten eines Impeachment Dilma Rousseffs. Ferner bildeten sie die Grundlage für die Verurteilung von Luiz Inácio Lula da Silva und dafür, dass er bei den Präsidentschaftswahlen 2018 von der Kandidatenliste verbannt wurde.
Die Bundesjustiz nahm die Aussagen Moros zum Anlass, gegen Bolsonaro zu ermitteln. In diesem Zusammenhang veröffentlichte sie im Mai das besagte Video der Kabinettsitzung, die zwei Tage vor Moros Rücktritt stattgefunden hatte: Darin ist ein sehr irritierter Bolsonaro zu sehen, der mit vulgärem Vokabular und mit erhobener Stimme versichert, er werde nicht einfach zulassen, dass seiner Familie und seinen Freunden »geschadet« werde, weil er im Sicherheitssektor eine Person nicht austauschen könne; wenn das nicht gehe, dann würde er deren Chef oder sogar den Minister auswechseln. Zurzeit wird unter anderem gegen Bolsonaros Sohn Carlos, Mitglied im Stadtrat von Rio de Janeiro, ermittelt. Er soll ein kriminelles Netzwerk zur Verbreitung von Fake News im Präsidentschaftswahlkampf 2018 geleitet haben, was der Justiz Anlass zur Annullierung der Wahlen geben könnte. Bolsonaros Personalpolitik, mit der er Ermittlungen zu beeinflussen versucht, und seine Corona-Politik sind die Hauptargumente, auf die sich aktuell diejenigen beziehen, die ein Impeachment befürworten. Dies ist der Fall bei dem Amtsenthebungsantrag, den die Arbeiterpartei (PT) im März gestellt hat – der 35. gegen Bolsonaro. Doch Aussicht auf Erfolg kann er nur haben, wenn zunächst der Präsident der Abgeordnetenkammer und danach ein Sonderausschuss ihn annehmen und den Prozess einleiten.
Die Corona-Krise als Brennglas
Weder verbreitet die Corona-Krise zurzeit den Autoritarismus in Lateinamerika (die Anzahl autoritärer Regime in der Region bleibt noch stabil), noch vertieft sie ihn aktuell in Brasilien, denn eine zunehmend autoritäre Regierungsführung in Verbindung mit der Pandemie ist nicht feststellbar (zu einer anderen Position hierzu siehe SWP-Aktuell 35/2020). Die autoritären und rechtspopulistischen Ansichten, Argumentationen und Handlungen Bolsonaros sind kein Phänomen jüngeren Datums, sondern bereits seit seinem Wahlkampf bekannt – und sie finden nach wie vor in einigen Teilen der Gesellschaft Resonanz. Der Ausbruch der Pandemie korreliert auch nicht mit einer Zunahme repressiver Maßnahmen durch die Nationalregierung, denn der Präsident relativiert die gesundheitliche Gefährdung durch Covid‑19, pflegt eine rein makroökonomische Deutung der Corona-Krise und hat daher weder den Notstand erklärt noch Ausgangssperren verhängt. Vielmehr boykottiert er die von den Gouverneuren eingeführten und von anderen Institutionen empfohlenen Corona-Beschränkungen.
Die Corona-Krise ist in einen konfrontativen politischen Kontext eingebettet, der ihr vorausging. In der Krise werden nun aber Risse im Lager Bolsonaros sowie institutionelle Konflikte sichtbarer. Die Pandemie offenbart die Grenzen gewisser politischer Allianzen, etwa wenn unter ihrem Einfluss für Gouverneure die Kosten steigen, sich mit Bolsonaro (dessen Umfragewerte fallen) weiterhin zu verbünden oder den isolationistischen und chinafeindlichen Außenpolitikansatz von Außenminister Araújo zu befolgen. Die Corona-Krise erhöht also den Druck, sich von der Exekutive in Brasilia zu distanzieren. Eine solche Abweichung ist institutionell möglich oder wird möglich gemacht. Hierunter fällt die intensivierte außenpolitische Aktivität der Regierungen der Bundesstaaten, die bereits 2019 eingesetzt hat mit China-Reisen von Gouverneuren und der Errichtung von bundesstaatlichen Agenturen für Außenwirtschaft und Standortmarketing in Asien. Nun bemühen sich die Gouverneure um Erfahrungsaustausch mit und Hilfsgüter aus China.
Die (nicht nur coronabedingten) vertikalen und horizontalen Konfrontationen zeugen indes von der Machtdiffusion durch Föderalismus und Gewaltenteilung – seien die Motive der beteiligten Akteure republikanisch oder opportunistisch, gemeinwohlorientiert oder partikularistisch.
Der Präsident, der Ende letzten Jahres die Sozialliberale Partei (PSL) verlassen hat, um die (noch unbedeutende) Allianz für Brasilien zu gründen, verliert an politischem Rückhalt, stößt immer wieder auf den Widerstand von Legislative und Judikative und gerät in den zunehmend dunklen Schatten einer dramatischen Wirtschaftslage, wachsender Gewaltkriminalität und von Korruptionsvorwürfen. Das Gespenst des Impeachment ließ ihn sogar ein weiteres Wahlkampfversprechen brechen, nämlich keine politische Unterstützung im Parlament mittels Kooptation zu suchen. Nun hofft er doch, die Centrão, eine Gruppe heterogener und »pragmatischer« Parteien, die dem besten Angebot folgen, für sich zu gewinnen, indem er ihnen Positionen mit Zugang zu finanziellen Mitteln gibt.
Dessen ungeachtet erscheint ein erfolgreiches Amtsenthebungsverfahren derzeit aus verschiedenen Gründen unwahrscheinlich: Die verfassungsrechtlich erforderliche Zweidrittelmehrheit in beiden Kongresskammern stellt bei der starken Fragmentierung (mit 30 Parteien im Parlament) eine sehr hohe Hürde dar. Die größte Oppositionspartei, die PT, verfügt lediglich über rund 10 Prozent der Abgeordneten; bei Wahlen nach einer (chaotischen) Regierung Bolsonaro stünden ihre Chancen auf Erfolg besser, als wenn nach erfolgtem Impeachment der ehemalige General und aktuelle Vizepräsident Hamilton Mourão die Amtszeit vollendete. Außerdem mangelt es am notwendigen, massiven Druck der Straße: Zwar liegen die gesellschaftliche Forderung nach Impeachment, die juristische Begründung für seine Einleitung und die politische Motivation der Kongressmitglieder für seine Durchsetzung nicht selten auseinander (wie im Falle Rousseffs). Dennoch fungiert der gesellschaftliche Druck oft als Rückenwind für den Kongress oder dieser agiert in dessen Windschatten. Aber alte und neue Feinde Bolsonaros pflegen kein Vertrauen zueinander, bilden heute keine geeinte Opposition. Und nicht zuletzt fehlt es an Erfahrung oder womöglich an der nötigen Vorstellungskraft, um sich einen Impeachment-Prozess inmitten der Corona-Krise auszumalen.
Dr. Claudia Zilla ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Amerika.
© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020
Alle Rechte vorbehalten
Das Aktuell gibt die Auffassung der Autorin wieder.
SWP-Aktuells werden intern einem Begutachtungsverfahren, einem Faktencheck und einem Lektorat unterzogen. Weitere Informationen zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP-Website unter https://www. swp-berlin.org/ueber-uns/ qualitaetssicherung/
SWP
Stiftung Wissenschaft und Politik
Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit
Ludwigkirchplatz 3–4
10719 Berlin
Telefon +49 30 880 07-0
Fax +49 30 880 07-100
www.swp-berlin.org
swp@swp-berlin.org
ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2020A53