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Corona-Krise und politische Konfrontation in Brasilien

Der Präsident, die Bevölkerung und die Demokratie unter Druck

SWP-Aktuell 2020/A 53, 23.06.2020, 8 Pages

doi:10.18449/2020A53

Research Areas

Wirtschaftsaufschwung, Korruptionsbekämpfung und eine eiserne Hand gegen Gewaltkriminalität hat Jair Bolsonaro im Wahlkampf versprochen – heute bilden sie die schwachen Flanken des Präsidenten: Brasilien ist ein Epizentrum der Covid‑19-Pandemie geworden. Auch wenn Bolsonaro diese kleinredet und sich gegen die Ein­dämmungs­maßnahmen stellt, zeitigen das Virus und das chaotische Krisen­manage­ment gravie­rende sanitäre, soziale und ökonomische Folgen für Bürgerinnen und Bürger. Ermittlungen, unter anderem wegen Korruption, sowie die Enthüllungen des zurückgetretenen Justiz­ministers nehmen den Präsidenten und seine Familie ins Visier. Während die Mord­rate im Jahr 2020 wieder ansteigt, plädierte Bolsonaro in einer Kabinett­sitzung für den bewaffneten Widerstand der Bevölkerung gegen die Politik des Ge­sundheits­schutzes in den Bundesstaaten. Der vom Impeachment bedrohte Präsident ringt um sein politisches Überleben und fordert dabei rechtsstaatliche und demokratische Prinzipien heraus.

In Lateinamerika hat die Covid‑19-Pan­de­mie mit einem Infektionsfall begonnen, der am 26. Februar in Brasilien regis­triert wurde. Am 17. März gab es den ersten offi­ziell bekannten Todesfall Brasiliens (den zweiten in der Region). Mit einer Bevölkerung von rund 210 Millionen Menschen rangiert das Land aktuell weltweit (nach den USA) auf Platz 2 der Infektions- und der Todesfälle. Heftig betroffen sind die Haupt­städte von sechs Bundesstaaten: São Paulo (São Paulo), Rio de Janeiro (Rio de Janeiro), Fortaleza (Ceará), Belém (Pará), Manaus (Amazonas) und Recife (Pernambuco), in denen staatliche Krankenhäuser überlastet sind. Zur massiven Ausbreitung der Pande­mie haben die Armut, prekäre Arbeits- und Wohnverhältnisse, das von großen Defi­zi­ten geprägte Gesundheits­wesen und das chao­tische Corona-Manage­ment beigetragen.

Die Pandemie ist inmitten einer poli­ti­schen Krise ausgebrochen und macht diese sicht­barer. Der starken politischen Polari­sierung für und gegen den Präsidenten sowie seiner Konfrontation mit den ande­ren Gewal­ten gesellt sich nun ein Streit um das geeignete Corona-Management hinzu, im Kabinett und vor allem mit den Gouverneuren der Bundesstaaten.

Das Gesundheitssystem

Nach der Redemokratisierung wurden 1988 das Recht auf Gesundheit als soziales Recht und Aufgabe des Staates sowie der uni­ver­selle Zugang zur Gesundheitsversorgung verfassungsrechtlich verankert. Dieser ist jedoch de facto nicht gegeben, wegen der Fragmentierung des Gesund­heitssystems und der Schwäche des staatlichen Gesundheitssektors. So geben die Brasilianerinnen und Brasilianer in Umfragen traditionell »Gesund­heit« als das dringlichste Problem an. Außerdem wird das Land häufig von Epi­demien heimgesucht; aktuell verzeichnet es die höchste Zahl (2,2 Millionen) von Dengue-Fieber-Infektionen in der Region.

Das Gesundheitswesen ist dreigeteilt: Das staatliche Gesundheitssystem (Sistema Único de Saúde, SUS) wird durch Steuern und Sozial­beiträge finanziert. Ein Netz aus terri­torial und hierarchisch orga­ni­sierten öffent­lichen Einrichtungen bietet eigene oder im privaten Sektor angekaufte Dienst­leis­tungen an. Rund drei Viertel der Bevöl­ke­rung nut­zen es. Daneben existiert ein privater Sektor, der das rest­liche Viertel der Bevölke­rung, das eine höhere Kauf­kraft besitzt, gesundheitlich versorgt. Er um­fasst sowohl ein Direktzahlungssystem (bezahlt wird die In­anspruchnahme indi­vidueller Leistungen) als auch ein Zusatzsystem (Sistema de Atenção Médica Suple­mentar; SAMS), finan­ziert durch die Abga­ben der Familien und Unter­nehmen über individuelle wie korpo­rative Krankenversicherungen. Privatversicherte wenden sich für komplexe oder kost­spielige Behandlungen gelegentlich an staat­liche Krankenhäuser (etwa Uni­kliniken). Eine dritte Säule des Gesundheits­systems stellt der Militärsektor dar, dessen Einrichtungen aktive wie pensionierte Mit­glieder der Streitkräfte und ihre Familien aufsuchen.

Im Unterschied zum privaten weist der öffentliche Gesundheitssektor große Defi­zite bei Finanzierung und Ausstattung auf. Weil die Kapazitäten begrenzt sind, müssen die Patientinnen und Patienten für Arzt­termine oder Behandlungen oft lange Warte­zeiten in Kauf nehmen und große Ent­fernungen zurücklegen, selbst in akuten Fällen. Je 10 000 Menschen stehen in Bra­si­lien ledig­lich 22 Betten in (staatlichen wie privaten) Krankenhäusern (DEU: 83 Betten) zur Verfü­gung, auf Intensiv­stationen nur 0,8, mehr als die Hälfte davon in privaten Einrichtungen.

Nach Angaben der Weltgesundheits­organisation (WHO) der Vereinten Nationen (VN) widmete Brasilien im Jahr 2017 dem Gesundheitswesen 10,3 Prozent der gesam­ten Staats­ausgaben (DEU: 19,9 %). Laut einer Untersuchung des Insti­tuto Brasileiro de Geo­grafia e Estatística (IBGE) von 2019 lagen die gesamten Gesundheitsausgaben pro Kopf im Jahr 2017 bei rund 1 000 US-Dollar (Kaufkraftparität, KKP). Im lateinamerikanischen Vergleich ist dieser Betrag zwar be­acht­lich, bleibt jedoch weit unter 2 900 US-Dollar (KKP), dem Mittelwert aller Mitgliedsländer der Organisation für wirt­schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD). Der Anteil der gesamten Gesund­heits­aus­ga­ben am Brutto­inlands­produkt (BIP) schwank­te in Brasi­lien im Zeit­raum 2010–2017 zwischen 7,8 und 9,3 Pro­zent. Dabei über­nah­men private Ak­teure stets mehr als die Hälfte der Kos­ten; die staat­lichen Gesundheits­ausgaben be­weg­ten sich innerhalb der niedrigen Spanne von 3,4 bis 4 Prozent des BIP (DEU: 9,5 %). Im Zuge von Sparmaßnah­men unter der Regie­rung Michel Temer (2016–2018) sind per Ver­fassungs­änderung (EC95/2016) die staat­lichen Gesund­heitsaus­gaben für 20 Jahre einge­froren worden, so dass nur Infla­tions­anpas­sungen zu­lässig sind. Zudem ist der Gesund­heitsetat nach dem ersten Jahr der Präsi­dent­schaft Bolso­naros (Januar 2019–Ja­nuar 2020) um weitere 4,3 Prozent gesunken.

Deutung(en) der Corona-Krise

Präsident Bolsonaro sieht in der durch die Covid-19-Pandemie ausgelösten Krise keine Krise der öffentlichen Gesundheit bzw. Sicher­heit, sondern (einzig) die Gefahr einer ökonomischen Rezession. Deren Ursache ist für ihn jedoch nicht die Pandemie selbst, son­dern die von ihm ge­äch­tete politische Managementstrategie zu ihrer Eindämmung. Für diese Strategie setzen sich einige Mit­glie­der seines Kabi­netts sowie viele der Gou­verneure der 26 Bundesstaaten ein, auch große Teile der Bevöl­kerung befürworten sie.

Als Rechtspopulist mit Anti-Establish­ment-Haltung – und ähnlich wie US-Staats­chef Donald Trump – verachtet Bolsonaro die akademische Elite, das Expertentum und fachlich spezialisierte inter­nationale Organisationen wie die WHO. Dabei relati­viert er die evidenz­basierten Erkenntnisse, auf die sich diese Akteure berufen. So zeigt er sich nicht weniger legitimiert als eine Fachperson der Humanmedizin bzw. Bio­logie, um seine Interpretation von Covid‑19 zu verbreiten (lediglich eine gri­pezinha: »kleine Erkältung«), die Behandlung mit bestimmten Medikamenten (etwa dem Antimalariamittel Hydroxychloroquin) drin­gend zu empfehlen oder rassistische Thesen aufzustellen, die besagen, das bra­silianische Volk sei genetisch überlegen und nicht anfällig für Covid‑19. Zudem beschuldigt er die Medien der Panikmache.

Die Gründe für Bolsonaros Ablehnung der gesellschaftlichen Quarantänisierung sind weniger darin zu finden, dass er mikro­soziologisch bestimmte Bevölkerungs­gruppen in den Blick nimmt: nämlich all diejenigen, die in Brasilien auf den Tages­lohn aus einem informellen Job angewiesen sind, um am nächsten Tag Essen kaufen zu können, oder die in Großfamilien mit drei bis vier Generationen auf kleins­tem Raum wohnen. Mittlerweile nimmt er sogar die Letalität von Covid‑19 in Brasilien mit der Begründung hin, am Ende müssten eh alle sterben. Er heiße mit zwei­tem Vornamen zwar Messias, könne aber keine Wunder vollbringen (um die Pande­mie zu bremsen). – Sein Diskurs ist viel­mehr rein makro­ökonomisch geprägt, getreu dem Motto: die brasilianische Volks­wirtschaft zuerst!

Die Deutung der Corona-Krise von Außen­minister Ernesto Araújo kommt etwas kom­plexer und verschwörungstheoretischer daher. In seinem Blog »Meta­política 17. Gegen den Globalismus« liefert er im Bei­trag vom 22. April mit dem Titel »Chegou o Comunavírus« (Das Kommunavirus ist gekommen) seine Interpretation der aktu­ellen Situation. Hierfür bedient er sich einer Reihe von Zitaten aus dem im März 2020 digital erschienenen Buch »Virus« des slowenischen Philosophen Slavoj Žižek. Dieses Werk hält Araújo für ein totalitäres Programm und zugleich für einen Beleg für die kommunistische Absicht, das Corona­virus ideologisch zu instrumentalisieren.

Araújo ist ein Bewunderer Trumps und bemüht sich um bessere und engere Bezie­hungen zu den USA. Mit ihnen zusammen solle Brasilien gegen die Ideo­logie des Kultur­marxismus und des damit verbundenen Globalismus kämpfen, die die christ­liche, westliche Zivilisation bedrohten – so seine Überzeugung. Seiner Ansicht nach ersetze heute der Globalismus den Sozialis­mus als Vorstufe auf dem Weg zum Kom­munismus. Dieser Kommunismus-Globa­lis­mus nutze die Gunst der Pandemie, um die liberale Demokratie und die Marktwirtschaft – so Araújos Begrifflichkeit – zu untergraben und den Menschen zu ver­sklaven. Ziel sei dabei die Errichtung einer Weltordnung ohne Nationalstaaten und ohne Freiheit. Die Aufwertung der WHO als zentralisieren­de internationale Organisation bilde einen ersten Schritt hin zu einer pla­neta­rischen kommunistischen Solidarität.

Die politische Korrektheit kritisiert Araújo aufs Schärfste als ein Instrument des Kom­mu­nismus, um die Sprache zu kontrollieren und letztendlich das Denken zu über­wachen und den Geist zu töten. Diesem geselle sich nun das wirkungsmächtigere Instrument der sanitä­ren Korrektheit hinzu, denn das Corona­virus eröffne Chancen, Menschen zu unterdrücken. So stelle sich die Covid‑19-Pandemie in eine Reihe mit anderen Panik machenden Mitteln, die der Außenminister teil­weise mit Neo­logismen bezeichnet: dem klimatischen Alar­mismus, der Genderideologie, dem Immigrationismus, dem Rassialismus, dem Antinationalismus und dem Scientifizismus. Vor die­sem Hintergrund sei es notwendig, schluss­fol­gert er, für die Gesund­heit des Körpers und des Geistes zu kämp­fen – aber auch gegen den Parasiten des Parasiten, also gegen das Coronavirus und das Kommunavirus.

Im Einklang damit – ergänzt um eine antichinesische Komponente – steht die Deutung der Corona-Krise von Abraham Weintraub, bis 18. Juni Bildungsminister, der in der Pandemie einen unfehlbaren Plan Chinas zur Beherr­schung der Welt sieht. Auch Bolsonaros außenpolitisch akti­ver Sohn Eduardo, Nationalabgeordneter für São Paulo, be­trachtet das neuartige Virus als ein asia­tisches, für das es einen einzigen Schul­di­gen gebe: die Kommunistische Partei Chinas. Derartige Interpretationen führen zu diplomatischen Spannungen mit China, dem Haupthandelspartner Brasiliens, ver­anlassen aber auch andere Akteure, wie den Präsidenten des Abgeordnetenhauses, sich gegenüber dem Land zu entschuldigen.

Chaotisches Corona-Management

In Brasilien gibt es keinen nationalen An­satz zum Corona-Krisenmanagement; es fehlt an einer Steuerung durch die Regie­rung in Brasilia, außerdem ist die horizontale Koor­dinierung zwischen den Bundesstaaten schwach ausgeprägt. Entlang der Corona-Konfliktlinie ist das Kabinett gespal­ten. Der Präsident boykottiert die restriktiven Maßnahmen zu Gesundheitsschutz und Pandemieeindämmung, die andere In­stanzen gegen seinen Willen treffen. Aus diesem Grund gehen die meisten Gouverneure der Bundesstaaten, viele von ihnen einst Bolsonaros Unterstützer, auf Distanz. Zudem gerät der Präsident immer wieder in Konflikt mit der Judikative und der Legis­lative, deren checks-and-balances-Funktion in der Corona-Krise zum Tragen kommt.

Bereits Anfang Februar erklärte der da­ma­lige Gesundheitsminister Luiz Hen­rique Mandetta (ein Mediziner) den Notfall im Bereich der öffentlichen Gesundheit. Er ging offen mit der Gefahr um, dass das Gesundheitssystem pandemiebedingt bald zusammenbrechen könnte, und setzte sich für den schnellen Ausbau von Kapazitäten ein. Drei Dinge kosteten ihn Mitte April das Amt: sein Plädoyer für eine intensive Kom­munikation, um die Bevölkerung über Covid‑19 aufzuklären, und für räum­liche Distanzierung; seine Vorbehalte gegen den vom Präsidenten empfohlenen massi­ven Einsatz von Hydroxychloroquin zur Be­hand­lung von Covid‑19; nicht zuletzt die Tat­sache, dass er in der Bevölkerung belieb­ter war als Bolsonaro. Als Nachfolger er­nannte dieser Nelson Teich (ebenfalls ein Mediziner), der einen Monat später zurückgetreten ist und die Gründe hierfür verschwieg. Als Exe­ku­tiv­sekretär und damit Nummer 2 in der Minis­terial­hierarchie hatte Teich einen Gene­ral des Heeres, Eduardo Pazuello, bestimmt; der Militär leitet nun das Ressort ad interim.

Das Ministerium für Justiz und Öffent­liche Sicherheit (bis Mitte Mai unter der Leitung von Sérgio Moro) hat ab März die partielle und temporäre Schließung der Grenzen veranlasst, eine Maßnahme, die sukzessive räumlich wie zeitlich erweitert wurde. Weiterhin wurden unter anderem Isolations- und Schutzmaßnahmen in den föderalen Strafvollzugsanstalten eingeführt.

Die Exekutiven auf den Ebenen der Bun­des­staaten und Kommunen haben bereits seit Ende Januar verschiedene, zunehmend restriktive Vorkehrungen zur Beschränkung des öffentlichen Lebens getroffen. Damit wichen sie von den Anweisungen des Präsi­denten ab, worauf Bolsonaro mit einer aggressi­ven Kampagne gegen deren Corona-Manage­ment reagierte.

In einer Kabinettsitzung vom 22. April, deren aufschlussreicher Mitschnitt durch eine Entscheidung eines Bundesrichters öffentlich gemacht wurde, argumentierte Bolsonaro inbrünstig, er wolle das ganze Volk bewaffnen, damit es sich gegen die Dik­tatur (gemeint ist die der Gouverneure) wehren könne. In dieser von Männern do­mi­nierten Runde (es gibt nur zwei Frauen im 22‑köpfi­gen Regierungskabinett) verurteilte die Ministerin für Frauen, Familien und Men­schenrechte, Damares Alves, den Corona-Krisenmanagement-Ansatz von Gou­verneu­ren und Bürgermeistern. Die evangelikale Pastorin, leidenschaftliche Gegnerin des Feminismus und der Legalisierung der Ab­treibung, versprach: Sie werde die Verantwort­lichen für die gesellschaftliche Quaran­tänisierung und deren menschenrechts­verletzende Durchsetzung hinter Gitter brin­gen. Seinerseits erklärte der damalige Bildungs­minister Weintraub, der nun zur Weltbank wechselt, sich an der Seite des Volkes in einem Kampf für die Freiheit zu befinden. Er gestand, »den Scheiß, der Bra­silia ist«, »ein Krebsgeschwür der Korrup­tion, der Privilegien«, loswerden zu wollen. Er wünsche sich die Verhaftung all dieser »Landstreicher« der Hauptstadt, »angefangen mit dem Obersten Bundesgerichtshof«.

Denn auch von der Judikative bekommt Bolsonaro Gegenwind – einige Beispiele: Eine Bundesrichterin folgte im März einem Antrag der Staatsanwaltschaft und verbot Bolsonaro, eine Kampagne für eine Norma­lisierung des öffentlichen Lebens in Bra­si­li­en zu betreiben. Damit wurde die offi­zielle Ver­öffentlichung des Werbevideos »Brasil não pode parar« (Brasilien kann nicht an­halten) verhindert. Im April urteilte der Oberste Gerichtshof einstimmig zugunsten der Bundesstaaten und Munizipien und bekräf­tigte damit deren verfassungsmäßige Kom­petenz, gesundheitsschützende Re­strik­tio­nen zu verordnen. Zuvor hatte der Präsi­dent versucht, per Dekret die Schließung von Flughäfen und Verbindungsstraßen zwischen den Bundes­staaten zu stoppen. Im selben Monat auto­risierte die Bundes­justiz die Stadt São Paulo, ihre Schuldenrückzahlung an den Bund für sechs Monate auszusetzen, um die damit freigewordenen Ressourcen für die Pan­demiebekämpfung verwenden zu können. Auf Antrag von Op­positions­parteien erließ im Juni ein Richter des Obersten Bundes­gerichts­hofs eine einst­weilige Verfügung gegen Bolso­naros Ent­schei­dung, nicht mehr die (extrem hohe) Gesamtzahl von Covid-19-Infektionen publik zu machen, sondern nur die täg­lich neu registrierten.

Inzwischen hatte das brasilianische Par­lament bereits seine Absicht bekundet, die Gesamtzahl der Krankheitsfälle zu verfol­gen und zu veröffentlichen. Im All­gemei­nen zeigen der Präsi­dent des Senats, Davi Alco­lumbre (der im März positiv auf Covid‑19 getestet wurde), und der Präsident der Abge­ordnetenkammer, Rodrigo Maia, öffentlich ihre Anteil­nahme. Beispielsweise veranlassten sie am 9. Mai eine dreitägige Staatstrauer, um der ersten 10 000 Corona-Toten Brasili­ens zu gedenken. Sie erkennen die gesund­heitliche Herausforderung durch die Pan­demie an – und auch die ökonomischen Nebenfolgen: Bereits am 20. März erklärte der Kongress den Katastrophen­zustand (PDL 88/20), zwei Tage, nachdem Bolsonaro den Antrag (Men­sagem Nr. 93) gestellt hatte. Damit werden Extraausgaben jenseits des be­schlossenen Staatshaushalts zulässig, sofern sie mit Bezug auf die Covid‑19-Pan­de­mie und bis Jahresende erfolgen.

Wirtschaftliche Auswirkungen

Krisenereignis und Krisenmanagement verändern das Angebot und die Nachfrage auf nationaler wie internationaler Ebene. Sowohl die Pandemie selbst als auch der politische Umgang mit ihr zeitigt negative ökonomische Folgen; zum Beispiel durch die Erkrankung oder die Selbstisolierung bzw. durch die verhängte Quarantäne oder die Grenzschließung. All das hindert die Menschen daran, sich am Arbeits- und Konsummarkt zu beteiligen. Laut Bewertung der VN-Wirtschaftskommis­sion für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) wir­ken sich weitere, miteinander verknüpfte Faktoren belastend auf Brasilien (sowie einen großen Teil Latein­amerikas) aus: (1) der Rück­gang der wirt­schaftlichen Aktivität der wichtigsten Han­dels­partner, an erster Stelle Chinas, und dadurch der Rückgang der Exporte; (2) der Preisverfall für Rohstoffe, Haupt­ausfuhrprodukt; (3) die Unterbrechung globa­ler Wertschöpfungsketten für den Industrie­sektor, den größten in der Region; (4) die gestiegene Risikoaversion und ver­schärfte internationale Finanz­bedingungen; (5) die Abwertung der natio­nalen Währung, also des Real gegenüber dem Dollar. Für 2020 wird für Brasilien ein negati­ves Wirt­schaftswachs­tum von 5,2 Prozent erwartet.

Regierung und Parlament haben eine Reihe ökonomischer Hilfsmaßnahmen be­schlossen. Gemäß CEPAL-Berech­nun­gen entsprechen sie zusammengenommen ledig­lich 4,6 Prozent des brasilianischen BIP. Die Maßnahmen sind darauf aus­gerichtet, den Gesundheitssektor zu stärken, prekäre Haus­halte zu unterstützen, finanz­schwachen Beschäftigten im formalen wie informellen Sektor zu helfen und Unternehmen (vor allem kleine und mittlere) zu schützen. Die Hilfsleistungen bestehen unter anderem in erhöhten, er­weiterten und neuen Finanztransfers, der Ausgabe von Nahrungsmitteln und Medika­menten, der Gewährleistung kosten­loser Dienst­leistungen. Allerdings er­schweren verschiedene Umstände, dass sie jene erreichen, die sie am meis­ten benötigen: Armut, ein bedeu­ten­der Bevöl­ke­rungs­anteil außerhalb des Bank­systems (30 % der Voll­jährigen), ein großer infor­meller Sektor (rund 41 % des Arbeitsmarktes und 17 % des BIP), verbreitete Korruption.

Bereits vor dem Ausbruch der Pandemie war die Wirtschaftslage Brasiliens alles andere als rosig. Seit 2017 lag das jährliche Wirtschaftswachstum zwischen 1,3 und 1,1 Prozent. Bedingt durch ein historisches Haushaltsdefizit betrug 2019 die Staatsverschuldung der brasilianischen Bundesregierung 75,8 Prozent des BIP. Die politische In­stabilität und der Imageschaden, den die Mar­ke Brasil wegen Bolsonaro international erlitt (und erleidet), wirken sich nachteilig auf ausländische Investitionen aus.

Die Wahrnehmung der Situation in der Gesellschaft

Unterdessen betrachtet die Bevölkerung die Situation zunehmend mit Sorge. Während die ersten Infek­tionsfälle in den höheren sozialen Schichten, die international reisen, registriert wur­den, sickert das Virus nun in der sozialen Pyramide nach unten durch und verbreitet sich dort stark. Negative Effek­te und Im­plikationen der Pandemie sowie vieler Maß­nahmen des Krisenmanage­ments verteilen sich ungleichmäßig ent­lang struktureller Asymmetrien und ver­schärfen sie. Extrem anfällig für eine Aus­breitung der Pandemie sind die dicht besie­delten Armenviertel, Favelas, in denen die sanitä­ren Bedingungen schlecht sind und des Öfteren die organisierte Kriminalität das Corona-Management bestimmt. Einer ähn­lichen Gefahr sind die Gefängnisse aus­ge­setzt, die zu rund 168 Prozent belegt und damit überfüllt sind. Dort sind Arme und Schwarze überrepräsentiert und Menschenrechtsverletzungen an der Tagesordnung.

In einer Umfrage von Datafolha vom Mai geben 45 Prozent der Befragten an, große Angst davor zu haben, sich mit Covid‑19 anzustecken. Dabei entspricht die Karte der Angst der Geographie sozialer Ungleichheit in Brasilien: Große Angst haben mehr Frauen (51 %) als Männer (38 %); eher die Armen (50 %) als die Reichen (35 %); häu­figer jene, die im ärmeren Nordosten (51 %) leben, als jene aus dem reicheren Süden (35 %). Auf die Frage nach ihrer Bewertung von Bolsonaros Aussagen zur Pandemie antwortet eine große Mehrheit, der Ein­satz von Hydroxychloroquin als Behand­lungs­mittel sollte eine Entscheidung medi­zi­ni­schen Fachpersonals sein und nicht der Poli­tik (89 %). Zudem sei es nicht richtig, dass das Volk bewaffnet werden solle, da­mit es nicht versklavt werden könne (71 %).

Ebenfalls im Mai ermittelte Datafolha die bisher schlechtesten Zustimmungswerte für Bolsonaro seit seiner Amtsübernahme: 43 Prozent bewerten seine Regierungs­führung als schlecht, 22 Prozent als mittel­mäßig und 33 Prozent als gut.

Eine starke politische Polarisierung um die Figur Bolsonaros prägt die Gesellschaft und zeigt sich auch in den Straßen. Auf der einen Seite war am 19. April, dem Tag der Streitkräfte in Brasilien, eine bedeutende Mobilisierung zu beobachten, als die Covid‑19-Infektionsfälle in die Höhe schnell­ten. Die Gefolgschaft des Präsidenten de­monst­rierte in mehreren Städten des Landes und for­derte die Schließung des Parlaments und des Obersten Bundesgerichtshofes sowie die Einführung einer Militärdiktatur mit Bol­sonaro an der Spitze. Dieser schloss sich der Mobilisierung in Brasilia an und impro­visierte vor dem Hauptquartier der Streit­kräfte eine mehr­deutige, populistische Rede, die über die sozialen Medien live über­tra­gen wurde. Es waren wieder die Mili­tärs, etwa der Vertei­di­gungsminister, General Fernan­do Azevedo, die nachträglich bekräftigten, für Demokratie und die volle Geltung der Ver­fassung zu stehen. Rund 3 000 aktive wie pensionierte Mit­glieder der Streitkräfte be­setzen im heuti­gen Brasilien zivile Positionen.

Auf der anderen Seite regt sich seit März Protest gegen Bolsonaro: Häus­liche Pane­laços, lautes Topfschlagen an Fens­tern, auf Balkonen und Terrassen, bringen in eher bürgerlichen Vierteln die Unzufriedenheit mit seiner Corona-Politik zum Aus­druck. Auch gehen Menschen gegen eine Militärdiktatur und zur Ver­tei­digung der Demo­kratie auf die Straße. Doch an den Pro- und Contra-Mobi­lisierungen nehmen – wo­mög­lich auch pan­demiebedingt – keine großen Menschen­massen teil und die ver­feindeten Gruppen scheinen sich in etwa die Waage zu halten: In einer Data­folha-Umfrage vom April sprechen sich 45 Pro­zent der Inter­viewten für die Einleitung eines Impeachment-Prozesses gegen den Präsidenten durch den Kongress aus, 48 Prozent dagegen.

Das Gespenst des Impeachment

Die Debatte um ein mögliches Amtsent­he­bungsverfahren gegen Bolsonaro hat sich verschärft, seitdem Sérgio Moro, an der Spitze des Ressorts für Justiz und Öffent­liche Sicherheit, am 24. April die Regierung verlassen hat. In seiner Rücktrittsrede warf er dem Präsidenten vor, sich in die Personal­politik der Bundes­polizei einmischen zu wollen, um Ermittlungen gegen die eigene Familie zu bremsen. Darauf reagierte Bolsonaro mit einem öffentlichen Auftritt, bei dem er gut 45 Minuten die Anschuldigungen Moros von sich wies und ihn hart anging. Währenddessen stand fast das ganze Kabinett aufgereiht hinter ihm.

Die Verfeindung zwischen den beiden Männern erlangt eine besondere Brisanz vor dem Hintergrund, dass Moro als Bundes­richter die Strafprozesse im Rahmen der Operação Lava Jato stark vorangetrieben hatte. Diese Prozesse beeinflussten die ge­sell­schaftliche Stimmung zugunsten eines Impeach­ment Dilma Rousseffs. Ferner bil­de­ten sie die Grundlage für die Verurteilung von Luiz Inácio Lula da Silva und dafür, dass er bei den Präsidentschaftswahlen 2018 von der Kandidatenliste verbannt wurde.

Die Bundesjustiz nahm die Aussagen Moros zum Anlass, gegen Bolsonaro zu er­mit­teln. In diesem Zusammenhang ver­öffent­lichte sie im Mai das besagte Video der Kabi­nettsitzung, die zwei Tage vor Moros Rücktritt stattgefunden hatte: Darin ist ein sehr irritierter Bol­sonaro zu sehen, der mit vulgärem Voka­bular und mit erho­bener Stimme versichert, er werde nicht einfach zulassen, dass seiner Familie und seinen Freunden »ge­schadet« werde, weil er im Sicherheitssektor eine Person nicht austauschen könne; wenn das nicht gehe, dann würde er deren Chef oder sogar den Minister auswechseln. Zurzeit wird unter anderem gegen Bolsonaros Sohn Carlos, Mitglied im Stadtrat von Rio de Janeiro, ermittelt. Er soll ein kriminelles Netzwerk zur Verbreitung von Fake News im Präsi­dent­schaftswahlkampf 2018 geleitet haben, was der Justiz Anlass zur Annullierung der Wahlen geben könnte. Bolsonaros Personal­politik, mit der er Ermittlungen zu be­einflussen versucht, und seine Coro­na-Politik sind die Haupt­argu­men­te, auf die sich aktu­ell die­jenigen beziehen, die ein Impeachment befürworten. Dies ist der Fall bei dem Amtsent­hebungs­antrag, den die Arbeiter­partei (PT) im März gestellt hat – der 35. gegen Bolsonaro. Doch Aus­sicht auf Erfolg kann er nur haben, wenn zu­nächst der Präsident der Abgeordnetenkammer und danach ein Sonderausschuss ihn anneh­men und den Prozess einleiten.

Die Corona-Krise als Brennglas

Weder verbreitet die Corona-Krise zurzeit den Autoritarismus in Lateinamerika (die Anzahl autoritärer Regime in der Region bleibt noch stabil), noch vertieft sie ihn aktuell in Brasilien, denn eine zunehmend autoritäre Regierungsführung in Verbindung mit der Pandemie ist nicht feststellbar (zu einer ande­ren Position hierzu siehe SWP-Aktuell 35/2020). Die autoritären und rechtspopulistischen Ansichten, Argumentationen und Handlungen Bolsonaros sind kein Phänomen jüngeren Datums, sondern bereits seit seinem Wahlkampf bekannt – und sie finden nach wie vor in einigen Teilen der Gesellschaft Resonanz. Der Aus­bruch der Pan­demie korreliert auch nicht mit einer Zunahme repressiver Maßnahmen durch die Nationalregierung, denn der Präsident relativiert die gesundheitliche Gefährdung durch Covid‑19, pflegt eine rein makroökonomische Deutung der Corona-Krise und hat daher weder den Notstand erklärt noch Ausgangssperren verhängt. Vielmehr boy­kottiert er die von den Gou­ver­neuren ein­geführten und von anderen Institutionen empfohlenen Corona-Beschränkungen.

Die Corona-Krise ist in einen konfrontativen politischen Kontext eingebettet, der ihr vorausging. In der Krise werden nun aber Risse im Lager Bolsonaros sowie insti­tutionelle Konflikte sichtbarer. Die Pande­mie offenbart die Grenzen gewisser politi­scher Allianzen, etwa wenn unter ihrem Einfluss für Gouverneure die Kosten stei­gen, sich mit Bol­so­naro (dessen Umfragewerte fallen) weiterhin zu verbünden oder den iso­lationistischen und chinafeindlichen Außenpolitikansatz von Außenminister Araújo zu befolgen. Die Corona-Krise er­höht also den Druck, sich von der Exekutive in Brasilia zu distanzieren. Eine solche Abwei­chung ist institutionell möglich oder wird möglich gemacht. Hierunter fällt die inten­sivierte außenpolitische Aktivität der Regie­rungen der Bundesstaaten, die bereits 2019 eingesetzt hat mit China-Reisen von Gou­ver­neuren und der Errichtung von bundes­staatlichen Agenturen für Außenwirtschaft und Stand­ortmarketing in Asien. Nun be­mü­hen sich die Gouverneure um Erfahrungs­austausch mit und Hilfsgüter aus China.

Die (nicht nur coronabedingten) vertikalen und horizontalen Konfrontationen zeugen indes von der Machtdiffusion durch Föderalismus und Gewaltenteilung – seien die Motive der beteiligten Akteure republikanisch oder opportunistisch, gemeinwohlorientiert oder partikularistisch.

Der Präsident, der Ende letzten Jahres die Sozialliberale Partei (PSL) verlassen hat, um die (noch unbedeutende) Allianz für Brasi­lien zu gründen, verliert an politischem Rück­halt, stößt immer wieder auf den Wider­stand von Legislative und Judikative und gerät in den zunehmend dunklen Schatten einer dramatischen Wirtschafts­lage, wachsen­der Gewaltkriminalität und von Korruptionsvorwürfen. Das Gespenst des Impeachment ließ ihn sogar ein weiteres Wahlkampfversprechen brechen, nämlich keine politische Unterstützung im Parla­ment mittels Koop­tation zu suchen. Nun hofft er doch, die Centrão, eine Gruppe heterogener und »prag­matischer« Parteien, die dem besten Angebot folgen, für sich zu gewinnen, indem er ihnen Posi­tionen mit Zugang zu finanziellen Mitteln gibt.

Dessen ungeachtet erscheint ein erfolgreiches Amtsenthebungsverfahren derzeit aus verschiedenen Gründen unwahrscheinlich: Die verfassungsrechtlich erforderliche Zweidrittelmehrheit in beiden Kongresskammern stellt bei der starken Fragmentierung (mit 30 Parteien im Parlament) eine sehr hohe Hürde dar. Die größte Opposi­tionspartei, die PT, verfügt lediglich über rund 10 Prozent der Abgeordneten; bei Wah­len nach einer (chaotischen) Regie­rung Bolsonaro stünden ihre Chancen auf Erfolg besser, als wenn nach erfolgtem Impeachment der ehemalige General und aktuelle Vizepräsident Hamilton Mourão die Amts­zeit vollendete. Außerdem mangelt es am notwendigen, massiven Druck der Straße: Zwar liegen die gesellschaftliche Forderung nach Impeachment, die juristische Begrün­dung für seine Einleitung und die politische Motivation der Kongressmitglieder für seine Durchsetzung nicht selten ausein­ander (wie im Falle Rousseffs). Dennoch fungiert der gesellschaftliche Druck oft als Rücken­wind für den Kongress oder dieser agiert in dessen Windschatten. Aber alte und neue Feinde Bolsonaros pflegen kein Ver­trauen zueinander, bilden heute keine geeinte Opposition. Und nicht zuletzt fehlt es an Erfahrung oder womöglich an der nötigen Vorstellungskraft, um sich einen Impeachment-Prozess inmitten der Corona-Krise auszumalen.

Dr. Claudia Zilla ist Senior Fellow in der Forschungsgruppe Amerika.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

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ISSN 1611-6364