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Chinas nukleare Aufrüstung betrifft auch Europa

SWP-Aktuell 2022/A 20, 09.03.2022, 4 Seiten

doi:10.18449/2022A20

Forschungsgebiete

Russlands Krieg in der Ukraine macht neue Rüstungskontrollverträge mit Moskau vorerst unwahrscheinlich. Mittelfristig wird das Interesse an Abkommen zur Ein­hegung des russischen Atomwaffenarsenals indes wieder steigen. Anders als in den 1980er Jahren würden entsprechende Verhandlungen über neue nukleare Vertragswerke aber misslingen, wenn China, das zum zentralen globalen Herausforderer der USA geworden ist und verstärkt nuklear aufrüstet, außen vor bliebe. Daraus folgt: Es wird keine nennenswerte Stärkung der europäischen nuklearen Sicherheit geben, solange Chinas atomare Aufrüstung ungebremst voranschreitet.

In den letzten Jahren ist bei europäischen Regierungen und der EU das Bewusstsein dafür gewachsen, dass Chinas weltpolitischer Aufstieg – und die Reaktion der USA darauf – für Europa mit vielfältigen Heraus­forderungen verknüpft ist. Im Mittelpunkt dieses Lernprozesses stehen bisher der glo­bale Handel, Menschenrechte, der Datenschutz sowie Pekings Einflussversuche auf inter­nationale Organisationen.

Chinas Atomwaffenarsenal hat indessen in Europas Hauptstädten kaum Aufsehen erregt. Zwar stellt Pekings atomare Aufrüs­tung in erster Linie die amerikanische Ab­schreckungspolitik in Asien vor Probleme. Weil die USA aber zugleich als Garant der europäischen Sicherheit agieren und ihren Atomwaffen hierbei eine zentrale Rolle zu­kommt, hat die entstehende amerikanisch-chinesische Nuklearrivalität Auswirkun­gen auch auf Europas Sicherheitsordnung.

Beschleunigte Aufrüstung

Jahrzehntelang hatte sich Peking mit einem relativ kleinen Atomarsenal zufriedengege­ben. So besaß China noch im Jahr 2008 nach Schätzungen unabhängiger Experten der Federation of American Scientists nur rund 200 Sprengköpfe – weniger als Frank­reich oder Groß­britannien. Als Trägersysteme setzte China damals vor allem auf land­gestützte, in Silos verbunkerte Lang­strecken­raketen und einige auf U-Booten stationierte Systeme.

Im Zeitraum von 2009 bis 2020 wuchs Chinas Arsenal jedoch stark. Die Anzahl der Sprengköpfe stieg denselben Experten zu­folge auf fast 350 an. Damit verfügt Peking über den drittgrößten Nuklearwaffenbestand nach Russland und den USA. Im Zuge die­ser Aufrüstung hat China auch seine Palette atomarer Trägersysteme ausgebaut. Diese umfasst nun zahlreiche straßenmobile Rake­ten mit interkontinentaler Reichweite und zudem viele Mittelstreckenraketen mit teils so hoher Zielgenauigkeit, dass sie Peking Optionen für begrenzte Atomschläge sogar gegen bewegliche militärische Ziele in der Region verschafft. Die auf chinesischen U‑Booten dislozierten Raketen haben eine größere Reich­weite als zuvor. Daneben ent­wickelt China eine luftgestützte ballistische Rakete. Sobald sie einsatzbereit ist, besitzt Peking eine »Triade« aus modernen land-, see- und luft­gestützten Atomstreitkräften.

Für die kommenden Jahre zeichnet sich noch eine Beschleunigung der chinesischen nuklearen Aufrüstung ab. Im Sommer 2021 identifizierten US-Forscher mit Hilfe von Satellitenaufnahmen an drei Orten im Landesinneren Chinas insgesamt rund 300 zuvor öffentlich unbekannte, im Bau be­find­liche Silos, offenbar für Interkontinentalraketen. Bisher verfügt Peking bloß über 20 derartige Langstrecken­raketenbunker. Mit dem Bau der 300 neuen Silos ist des­halb möglicherweise die größte Expansion in der Geschichte des chinesischen Kern­waffenprogramms verbunden.

Das Verteidigungsministerium der USA warnt seit langem vor solchen Entwicklungen. Seine letzte Prognose, vom November 2021, sieht die Anzahl chinesischer Atom­waffen bis 2027 auf 700 und bis 2030 auf mindestens 1000 Sprengköpfe ansteigen. Solche düs­teren Vorhersagen der US-Mili­tärs waren lange Zeit auf Skepsis gestoßen. Dass un­abhängige Wissenschaftler die neuen Silos entdeckt haben, scheint die Prognosen nun aber zu stützen.

Zwar ist es möglich, dass China gar nicht plant, sämtliche neuen Silos mit Raketen zu bestücken. Auch leere Silos ergäben Sinn: Angreifer wüssten ja nicht, welche Schächte leer sind, und müssten daher immer alle Bunker in ihre Zielplanung auf­nehmen, was entwaffnende Erstschläge insgesamt kompli­zierter macht. Aber der Einwand, Peking könnte (selbst wenn es wollte) die Silos gar nicht maximal mit Atomwaffen auslasten, weil seine Vorräte an waffenfähigem Spalt­material dafür nicht aus­reichen würden, überzeugt nicht. China baut bereits Reak­to­ren und Anlagen, die es zur Produktion des Spaltmaterials nutzen könnte. Umso mehr stellt sich die Frage, welches Ziel Peking mit dem Ausbau seines Atomarsenals verfolgt.

Von Intentionen und Optionen

Experten diskutieren die Motive für Chinas Aufrüstung kontrovers. Die »defensive« Schule meint, mit dem Ausbau seiner Atom­streitkräfte versuche Peking bloß, seine Zweitschlagfähigkeit zu sichern. Die wachsende Kapazität der USA, diese mit Hilfe von nuklearen oder konventionellen Offensivfähigkeiten und ihrer Raketen­abwehr in Frage zu stellen, zwinge China zum Ausbau seines Atompotentials.

Die »offensive« Schule deutet die Aufrüstung indes als Abkehr Pekings von seiner traditionell bescheidenen, einzig auf die Kapazität zur Vergeltung zielenden Nuklear­politik. Mit den neuen Fähigkeiten zur be­grenzten atomaren Kriegführung sei viel­mehr der Wille verknüpft, über Einschüch­terungen und Drohungen in Asien eine offensive Einflussmehrung zu betreiben.

Ungeachtet der letztlich nicht genau zu bestimmenden Intentionen hinter der chi­nesischen Aufrüstung sind die dadurch eröffneten Optionen von Bedeutung: Selbst wenn die Beschlüsse, nuklear aufzurüsten, seinerzeit rein defensiv motiviert gewesen sein sollten, kann die neu erworbene Op­tion, das verbesserte Arsenal zu offensiven Zwecken zu nutzen, in Peking ebendiese Absicht reifen lassen.

Auswirkungen auf Europa

Chinas nukleare Aufrüstung beeinflusst die europäische Sicherheitsordnung in dreierlei Hinsicht. Jede davon macht es für die Euro­päer dringlich, Peking in die Rüstungs­kontrollpolitik einzubinden.

Erstens hat die chinesische Aufrüstung im Atomwaffenbereich Folgen für die ver­tragliche Rüstungskontrolle insgesamt und damit auch für die europäische Sicherheit. Amerikanisch-russische Rüstungskontroll­abkommen sind in Europa seit fast 50 Jah­ren ein Pfeiler der Sicherheitsordnung und ihre Eigenschaft als völkerrechtlicher Ver­trag galt wegen der höheren Verbindlichkeit gerade den Europäern als der Goldstandard.

Für ihr Inkrafttreten müssen solche Ver­träge jedoch mit einer Zweidrittelmehrheit im Senat ratifiziert werden. US-Präsi­denten hatten es immer schon schwer, solche über­parteilichen Mehrheiten zu­stande zu brin­gen. Die verschärfte Polarisierung zwischen Republikanern und Demokraten erschwert ein derartiges Vorhaben zusätzlich. Die Tat­sache, dass in den letzten 15 Jahren der Großteil von Chinas neuen nuklearfähigen Trägersystemen in jenem Reichweitenband in Dienst gestellt wurde, das der INF-Vertrag den USA (und auch Russland) bis 2019 ver­boten hatte, war vielen in Washington über lange Zeit ein Dorn im Auge und hat dazu beigetragen, das Instrument bilateraler Rüs­tungs­kontrollverträge dort zu diskreditie­ren. Dass China außerhalb jeglicher Verträ­ge jetzt auch bei strategischen Nuklearwaf­fen vermehrt aufrüstet, während die USA sich durch den New-START-Vertrag mit Russ­land selbst binden, stößt vielen im Senat bitter auf. Der 2010 von ihm ratifizierte New-START-Ver­trag würde heute wohl keine Zweidrittelmehrheit mehr erhalten.

Solange Peking keine Begrenzung seines Nukleararsenals akzeptiert, werden neue amerikanisch-russische Rüstungskontrollverträge den US-Senat nicht mehr passieren – obwohl die fortgesetzte Einhegung des russischen Arsenals für die USA klare Vor­teile hätte. Unter einem solchen Ausklingen der ver­traglichen Rüstungskontrolle mit Russland würde Europa besonders leiden.

Zweitens wird die Expansion des chinesischen Atomarsenals die begonnene stra­te­gische Abwendung der USA von Europa verstärken. Amerikas außenpolitische Elite sieht in China den zentralen Herausforderer für die militärisch abgestützte, globale Vormachtstellung ihres Landes. Aus dieser Wahrnehmung heraus erzwingt Pekings atomare Aufrüstung geradezu eine vertei­digungspolitische Ant­wort. Diese kann im Ausbau der in Asien stationierten konventionellen Militärmittel der USA zum Aus­druck kommen und/oder darin, dass Washington seine nukleare Ab­schreckung mehr auf China ausrichtet.

Wenn mehr US-Ressourcen in Asien ge­bunden (und die Mittel der USA insgesamt begrenzt) sind, dann steht ein geringerer Anteil der amerikanischen Ressourcen für Europa zur Verfügung. Das beträfe militäri­sche Hardware – vor allem jene Hightech-»Assets« (wie Aufklärungsmittel, Tarnkap­penbomber oder U-Boote), die selbst beim US-Militär knapp sind – sowie die nukleare Zielplanung des Pentagons für Russland.

Dies tangiert Europa unmittelbar, weil eine schärfere amerikanisch-chinesische Rivalität zugleich das Risiko für Krisen in Asien erhöht: Bei militärischen Konfrontationen mit China, die nun wahrscheinlicher wer­den, besäßen die USA nicht mehr die Flexibilität, ihre Kräfte in Europa schnell aufzustocken, ohne ihre Position im Pazifik gegenüber China klar zu schwächen. Wenn mithin in Asien und Europa gleichzeitig Spannungen aufträten, wären die europäischen Alliierten der USA viel stärker auf sich gestellt.

Drittens könnte der Ausbau von Chinas Atomarsenal neue Zweifel an der Verlässlichkeit des amerikanischen Schutzversprechens für Alli­ierte nähren. Für den Fall einer Krise kann Peking bislang nicht sicher sein, dass seine strategischen Atomstreitkräfte unverwundbar für Angriffe der USA wären. Chinas Sorge ist, dass das Pentagon seine wenigen Langstreckenraketen, die das US-Festland erreichen können, eventuell aufspüren und in einem Entwaffnungsschlag aus­schalten könnte. Wenn dabei chinesische Raketen übrigblieben und dann als Vergeltung abgefeuert würden, könnte die US-Raketenabwehr sie womöglich ab­fangen. Peking argwöhnt daher, Washington behielte bei jedem Militärkonflikt am Ende die Ober­hand: die sogenannte »Eska­lationsdominanz«. Indem sie diese chine­sischen Sorgen nähren, können die USA mit ihren überlegenen strategischen Fähig­keiten die Initiierung eines Krieges durch Peking von vornherein abschrecken.

Die nukleare Eskalationsdominanz der USA war zuletzt noch wichtiger geworden, weil das amerikanisch-chinesische Kräfte­verhältnis in Asien bei den konventionellen Waffen nach Chinas jahrelanger Aufrüstung gekippt ist: Washington kann nicht länger sicher sein, aus einem begrenzten Krieg mit der Volksrepublik, in dem Atom­waffen keine Rolle spielen, als Gewinner hervorzugehen. Seit dieser Verschiebung im konventionellen Bereich basiert aus Sicht der asiatischen US-Alliierten die Ver­lässlichkeit der amerikanischen Zusagen, sie vor China zu schüt­zen, noch mehr auf der Überlegenheit des US-Atomarsenals gegenüber dem chinesischen.

Durch Pekings atomare Aufrüstung ver­lieren die USA aber diese Dominanz im Kern­waffenbereich. Chinas Atomarsenal wird künftig zu groß und seine Träger­systeme werden zu fortgeschritten sein, um nach rationalen Erwägungen für amerikanische Entwaffnungsschläge und Raketenabwehr noch verwundbar zu sein. Mit dem Verlust der US-Eskalationsdominanz würde deren abschreckende Wirkung auf China ebenso erodieren wie der Rückversicherungs­effekt, den die Überlegenheit in diesem Bereich jahrzehntelang auf die Alliierten in Asien hatte. Wenn aber Tokio, Taipeh, Canberra und Seoul nach außen sichtbar den Glauben verlieren würden, dass Washington sie in einem Militärkonflikt mit China beschützt, bliebe das auch für die gefühlte Verlässlichkeit der USA als Schutzmacht Europas nicht folgenlos. Die Sorge wäre: Wenn Alliierte in der für Amerika stra­te­gisch so entscheidenden Weltregion Asien an Washingtons Festigkeit im Kriegs­fall zweifeln, dann kann es um seine Verläss­lichkeit bei Konflikten auf dem im Vergleich weniger wichtigen europäischen Schauplatz nicht gut bestellt sein!

Handlungsempfehlungen

Die neue Bundesregierung hat zwar erklärt, China »stärker in nukleare Abrüstung und Rüstungskontrolle einbinden« zu wollen. Dass sich die Dringlichkeit der Einbindung daraus speist, dass andernfalls auch euro­päische Sicherheitsinteressen Schaden er­leiden, wird indes selten reflektiert.

Berlin sollte dem Problem ins Auge sehen: Die Ära der chinesischen Minimalabschreckung ist vorbei. Chinas nukleare Aufrüstung ändert nachhaltig die strategischen Gleichungen in Asien zulasten der USA, und das wird spürbare negative Rückwirkungen auf die europäische Sicherheit haben. Hierin gründet das deutsche und europäische Inte­resse, Peking zur Teilnahme an der nuklea­ren Rüstungskontrolle zu bewegen.

Deutschland und Europa können durchaus dazu beitragen, diese Einbindung Chinas zu erreichen. Eine abgestimmte west­liche Rüstungskontrollpolitik gegenüber Peking – bei der die USA führen, die euro­päischen und ausgewählte pazifische Part­ner (Japan, Süd­korea und Australien) intern mitreden und die vereinbarte Linie nach außen unterstützen – dürfte die besten Erfolgschancen haben.

Unter diesen Partnern sollte sich Berlin dafür einsetzen, China auf Obergrenzen für seine Langstreckensysteme festzulegen. Für Europa hat dieses Interesse, anders als zum Beispiel für Japan, Priorität. Im EU-China-Dialog und im NPT-Überprüfungsprozess sollte Berlin Peking auffordern, an Rüs­tungs­kontrollverhandlungen teilzunehmen. Beim westlichen Strategieansatz, der diese Forde­rung unterfüttert, müsste Deutschland wohl eine harte Gangart mittragen: China-Experten betonen, dass Peking historisch auf Anreize eher reagiert hat als auf Drohungen. Ob das unter Xi noch gilt, ist aber offen. In den USA glau­ben es nur wenige: Die Logik, durch eigene Aufrüstung und »Stärke« Druck zum Ein­lenken zu erzeugen, prägt die Rüstungskontrollpolitik der USA gegenüber Rivalen und somit auch die des Westens gegenüber China.

Dr. Jonas Schneider ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Dr. Oliver Thränert ist Non-resident Senior Fellow der SWP und leitet den Think Tank am Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich. Das Aktuell entstand im Rahmen des Projekts STAND (Strategic Threat Analysis and Nuclear (Dis)-Order).

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2022

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