Russlands Krieg in der Ukraine macht neue Rüstungskontrollverträge mit Moskau vorerst unwahrscheinlich. Mittelfristig wird das Interesse an Abkommen zur Einhegung des russischen Atomwaffenarsenals indes wieder steigen. Anders als in den 1980er Jahren würden entsprechende Verhandlungen über neue nukleare Vertragswerke aber misslingen, wenn China, das zum zentralen globalen Herausforderer der USA geworden ist und verstärkt nuklear aufrüstet, außen vor bliebe. Daraus folgt: Es wird keine nennenswerte Stärkung der europäischen nuklearen Sicherheit geben, solange Chinas atomare Aufrüstung ungebremst voranschreitet.
In den letzten Jahren ist bei europäischen Regierungen und der EU das Bewusstsein dafür gewachsen, dass Chinas weltpolitischer Aufstieg – und die Reaktion der USA darauf – für Europa mit vielfältigen Herausforderungen verknüpft ist. Im Mittelpunkt dieses Lernprozesses stehen bisher der globale Handel, Menschenrechte, der Datenschutz sowie Pekings Einflussversuche auf internationale Organisationen.
Chinas Atomwaffenarsenal hat indessen in Europas Hauptstädten kaum Aufsehen erregt. Zwar stellt Pekings atomare Aufrüstung in erster Linie die amerikanische Abschreckungspolitik in Asien vor Probleme. Weil die USA aber zugleich als Garant der europäischen Sicherheit agieren und ihren Atomwaffen hierbei eine zentrale Rolle zukommt, hat die entstehende amerikanisch-chinesische Nuklearrivalität Auswirkungen auch auf Europas Sicherheitsordnung.
Beschleunigte Aufrüstung
Jahrzehntelang hatte sich Peking mit einem relativ kleinen Atomarsenal zufriedengegeben. So besaß China noch im Jahr 2008 nach Schätzungen unabhängiger Experten der Federation of American Scientists nur rund 200 Sprengköpfe – weniger als Frankreich oder Großbritannien. Als Trägersysteme setzte China damals vor allem auf landgestützte, in Silos verbunkerte Langstreckenraketen und einige auf U-Booten stationierte Systeme.
Im Zeitraum von 2009 bis 2020 wuchs Chinas Arsenal jedoch stark. Die Anzahl der Sprengköpfe stieg denselben Experten zufolge auf fast 350 an. Damit verfügt Peking über den drittgrößten Nuklearwaffenbestand nach Russland und den USA. Im Zuge dieser Aufrüstung hat China auch seine Palette atomarer Trägersysteme ausgebaut. Diese umfasst nun zahlreiche straßenmobile Raketen mit interkontinentaler Reichweite und zudem viele Mittelstreckenraketen mit teils so hoher Zielgenauigkeit, dass sie Peking Optionen für begrenzte Atomschläge sogar gegen bewegliche militärische Ziele in der Region verschafft. Die auf chinesischen U‑Booten dislozierten Raketen haben eine größere Reichweite als zuvor. Daneben entwickelt China eine luftgestützte ballistische Rakete. Sobald sie einsatzbereit ist, besitzt Peking eine »Triade« aus modernen land-, see- und luftgestützten Atomstreitkräften.
Für die kommenden Jahre zeichnet sich noch eine Beschleunigung der chinesischen nuklearen Aufrüstung ab. Im Sommer 2021 identifizierten US-Forscher mit Hilfe von Satellitenaufnahmen an drei Orten im Landesinneren Chinas insgesamt rund 300 zuvor öffentlich unbekannte, im Bau befindliche Silos, offenbar für Interkontinentalraketen. Bisher verfügt Peking bloß über 20 derartige Langstreckenraketenbunker. Mit dem Bau der 300 neuen Silos ist deshalb möglicherweise die größte Expansion in der Geschichte des chinesischen Kernwaffenprogramms verbunden.
Das Verteidigungsministerium der USA warnt seit langem vor solchen Entwicklungen. Seine letzte Prognose, vom November 2021, sieht die Anzahl chinesischer Atomwaffen bis 2027 auf 700 und bis 2030 auf mindestens 1000 Sprengköpfe ansteigen. Solche düsteren Vorhersagen der US-Militärs waren lange Zeit auf Skepsis gestoßen. Dass unabhängige Wissenschaftler die neuen Silos entdeckt haben, scheint die Prognosen nun aber zu stützen.
Zwar ist es möglich, dass China gar nicht plant, sämtliche neuen Silos mit Raketen zu bestücken. Auch leere Silos ergäben Sinn: Angreifer wüssten ja nicht, welche Schächte leer sind, und müssten daher immer alle Bunker in ihre Zielplanung aufnehmen, was entwaffnende Erstschläge insgesamt komplizierter macht. Aber der Einwand, Peking könnte (selbst wenn es wollte) die Silos gar nicht maximal mit Atomwaffen auslasten, weil seine Vorräte an waffenfähigem Spaltmaterial dafür nicht ausreichen würden, überzeugt nicht. China baut bereits Reaktoren und Anlagen, die es zur Produktion des Spaltmaterials nutzen könnte. Umso mehr stellt sich die Frage, welches Ziel Peking mit dem Ausbau seines Atomarsenals verfolgt.
Von Intentionen und Optionen
Experten diskutieren die Motive für Chinas Aufrüstung kontrovers. Die »defensive« Schule meint, mit dem Ausbau seiner Atomstreitkräfte versuche Peking bloß, seine Zweitschlagfähigkeit zu sichern. Die wachsende Kapazität der USA, diese mit Hilfe von nuklearen oder konventionellen Offensivfähigkeiten und ihrer Raketenabwehr in Frage zu stellen, zwinge China zum Ausbau seines Atompotentials.
Die »offensive« Schule deutet die Aufrüstung indes als Abkehr Pekings von seiner traditionell bescheidenen, einzig auf die Kapazität zur Vergeltung zielenden Nuklearpolitik. Mit den neuen Fähigkeiten zur begrenzten atomaren Kriegführung sei vielmehr der Wille verknüpft, über Einschüchterungen und Drohungen in Asien eine offensive Einflussmehrung zu betreiben.
Ungeachtet der letztlich nicht genau zu bestimmenden Intentionen hinter der chinesischen Aufrüstung sind die dadurch eröffneten Optionen von Bedeutung: Selbst wenn die Beschlüsse, nuklear aufzurüsten, seinerzeit rein defensiv motiviert gewesen sein sollten, kann die neu erworbene Option, das verbesserte Arsenal zu offensiven Zwecken zu nutzen, in Peking ebendiese Absicht reifen lassen.
Auswirkungen auf Europa
Chinas nukleare Aufrüstung beeinflusst die europäische Sicherheitsordnung in dreierlei Hinsicht. Jede davon macht es für die Europäer dringlich, Peking in die Rüstungskontrollpolitik einzubinden.
Erstens hat die chinesische Aufrüstung im Atomwaffenbereich Folgen für die vertragliche Rüstungskontrolle insgesamt und damit auch für die europäische Sicherheit. Amerikanisch-russische Rüstungskontrollabkommen sind in Europa seit fast 50 Jahren ein Pfeiler der Sicherheitsordnung und ihre Eigenschaft als völkerrechtlicher Vertrag galt wegen der höheren Verbindlichkeit gerade den Europäern als der Goldstandard.
Für ihr Inkrafttreten müssen solche Verträge jedoch mit einer Zweidrittelmehrheit im Senat ratifiziert werden. US-Präsidenten hatten es immer schon schwer, solche überparteilichen Mehrheiten zustande zu bringen. Die verschärfte Polarisierung zwischen Republikanern und Demokraten erschwert ein derartiges Vorhaben zusätzlich. Die Tatsache, dass in den letzten 15 Jahren der Großteil von Chinas neuen nuklearfähigen Trägersystemen in jenem Reichweitenband in Dienst gestellt wurde, das der INF-Vertrag den USA (und auch Russland) bis 2019 verboten hatte, war vielen in Washington über lange Zeit ein Dorn im Auge und hat dazu beigetragen, das Instrument bilateraler Rüstungskontrollverträge dort zu diskreditieren. Dass China außerhalb jeglicher Verträge jetzt auch bei strategischen Nuklearwaffen vermehrt aufrüstet, während die USA sich durch den New-START-Vertrag mit Russland selbst binden, stößt vielen im Senat bitter auf. Der 2010 von ihm ratifizierte New-START-Vertrag würde heute wohl keine Zweidrittelmehrheit mehr erhalten.
Solange Peking keine Begrenzung seines Nukleararsenals akzeptiert, werden neue amerikanisch-russische Rüstungskontrollverträge den US-Senat nicht mehr passieren – obwohl die fortgesetzte Einhegung des russischen Arsenals für die USA klare Vorteile hätte. Unter einem solchen Ausklingen der vertraglichen Rüstungskontrolle mit Russland würde Europa besonders leiden.
Zweitens wird die Expansion des chinesischen Atomarsenals die begonnene strategische Abwendung der USA von Europa verstärken. Amerikas außenpolitische Elite sieht in China den zentralen Herausforderer für die militärisch abgestützte, globale Vormachtstellung ihres Landes. Aus dieser Wahrnehmung heraus erzwingt Pekings atomare Aufrüstung geradezu eine verteidigungspolitische Antwort. Diese kann im Ausbau der in Asien stationierten konventionellen Militärmittel der USA zum Ausdruck kommen und/oder darin, dass Washington seine nukleare Abschreckung mehr auf China ausrichtet.
Wenn mehr US-Ressourcen in Asien gebunden (und die Mittel der USA insgesamt begrenzt) sind, dann steht ein geringerer Anteil der amerikanischen Ressourcen für Europa zur Verfügung. Das beträfe militärische Hardware – vor allem jene Hightech-»Assets« (wie Aufklärungsmittel, Tarnkappenbomber oder U-Boote), die selbst beim US-Militär knapp sind – sowie die nukleare Zielplanung des Pentagons für Russland.
Dies tangiert Europa unmittelbar, weil eine schärfere amerikanisch-chinesische Rivalität zugleich das Risiko für Krisen in Asien erhöht: Bei militärischen Konfrontationen mit China, die nun wahrscheinlicher werden, besäßen die USA nicht mehr die Flexibilität, ihre Kräfte in Europa schnell aufzustocken, ohne ihre Position im Pazifik gegenüber China klar zu schwächen. Wenn mithin in Asien und Europa gleichzeitig Spannungen aufträten, wären die europäischen Alliierten der USA viel stärker auf sich gestellt.
Drittens könnte der Ausbau von Chinas Atomarsenal neue Zweifel an der Verlässlichkeit des amerikanischen Schutzversprechens für Alliierte nähren. Für den Fall einer Krise kann Peking bislang nicht sicher sein, dass seine strategischen Atomstreitkräfte unverwundbar für Angriffe der USA wären. Chinas Sorge ist, dass das Pentagon seine wenigen Langstreckenraketen, die das US-Festland erreichen können, eventuell aufspüren und in einem Entwaffnungsschlag ausschalten könnte. Wenn dabei chinesische Raketen übrigblieben und dann als Vergeltung abgefeuert würden, könnte die US-Raketenabwehr sie womöglich abfangen. Peking argwöhnt daher, Washington behielte bei jedem Militärkonflikt am Ende die Oberhand: die sogenannte »Eskalationsdominanz«. Indem sie diese chinesischen Sorgen nähren, können die USA mit ihren überlegenen strategischen Fähigkeiten die Initiierung eines Krieges durch Peking von vornherein abschrecken.
Die nukleare Eskalationsdominanz der USA war zuletzt noch wichtiger geworden, weil das amerikanisch-chinesische Kräfteverhältnis in Asien bei den konventionellen Waffen nach Chinas jahrelanger Aufrüstung gekippt ist: Washington kann nicht länger sicher sein, aus einem begrenzten Krieg mit der Volksrepublik, in dem Atomwaffen keine Rolle spielen, als Gewinner hervorzugehen. Seit dieser Verschiebung im konventionellen Bereich basiert aus Sicht der asiatischen US-Alliierten die Verlässlichkeit der amerikanischen Zusagen, sie vor China zu schützen, noch mehr auf der Überlegenheit des US-Atomarsenals gegenüber dem chinesischen.
Durch Pekings atomare Aufrüstung verlieren die USA aber diese Dominanz im Kernwaffenbereich. Chinas Atomarsenal wird künftig zu groß und seine Trägersysteme werden zu fortgeschritten sein, um nach rationalen Erwägungen für amerikanische Entwaffnungsschläge und Raketenabwehr noch verwundbar zu sein. Mit dem Verlust der US-Eskalationsdominanz würde deren abschreckende Wirkung auf China ebenso erodieren wie der Rückversicherungseffekt, den die Überlegenheit in diesem Bereich jahrzehntelang auf die Alliierten in Asien hatte. Wenn aber Tokio, Taipeh, Canberra und Seoul nach außen sichtbar den Glauben verlieren würden, dass Washington sie in einem Militärkonflikt mit China beschützt, bliebe das auch für die gefühlte Verlässlichkeit der USA als Schutzmacht Europas nicht folgenlos. Die Sorge wäre: Wenn Alliierte in der für Amerika strategisch so entscheidenden Weltregion Asien an Washingtons Festigkeit im Kriegsfall zweifeln, dann kann es um seine Verlässlichkeit bei Konflikten auf dem im Vergleich weniger wichtigen europäischen Schauplatz nicht gut bestellt sein!
Handlungsempfehlungen
Die neue Bundesregierung hat zwar erklärt, China »stärker in nukleare Abrüstung und Rüstungskontrolle einbinden« zu wollen. Dass sich die Dringlichkeit der Einbindung daraus speist, dass andernfalls auch europäische Sicherheitsinteressen Schaden erleiden, wird indes selten reflektiert.
Berlin sollte dem Problem ins Auge sehen: Die Ära der chinesischen Minimalabschreckung ist vorbei. Chinas nukleare Aufrüstung ändert nachhaltig die strategischen Gleichungen in Asien zulasten der USA, und das wird spürbare negative Rückwirkungen auf die europäische Sicherheit haben. Hierin gründet das deutsche und europäische Interesse, Peking zur Teilnahme an der nuklearen Rüstungskontrolle zu bewegen.
Deutschland und Europa können durchaus dazu beitragen, diese Einbindung Chinas zu erreichen. Eine abgestimmte westliche Rüstungskontrollpolitik gegenüber Peking – bei der die USA führen, die europäischen und ausgewählte pazifische Partner (Japan, Südkorea und Australien) intern mitreden und die vereinbarte Linie nach außen unterstützen – dürfte die besten Erfolgschancen haben.
Unter diesen Partnern sollte sich Berlin dafür einsetzen, China auf Obergrenzen für seine Langstreckensysteme festzulegen. Für Europa hat dieses Interesse, anders als zum Beispiel für Japan, Priorität. Im EU-China-Dialog und im NPT-Überprüfungsprozess sollte Berlin Peking auffordern, an Rüstungskontrollverhandlungen teilzunehmen. Beim westlichen Strategieansatz, der diese Forderung unterfüttert, müsste Deutschland wohl eine harte Gangart mittragen: China-Experten betonen, dass Peking historisch auf Anreize eher reagiert hat als auf Drohungen. Ob das unter Xi noch gilt, ist aber offen. In den USA glauben es nur wenige: Die Logik, durch eigene Aufrüstung und »Stärke« Druck zum Einlenken zu erzeugen, prägt die Rüstungskontrollpolitik der USA gegenüber Rivalen und somit auch die des Westens gegenüber China.
Dr. Jonas Schneider ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Dr. Oliver Thränert ist Non-resident Senior Fellow der SWP und leitet den Think Tank am Center for Security Studies (CSS) der ETH Zürich. Das Aktuell entstand im Rahmen des Projekts STAND (Strategic Threat Analysis and Nuclear (Dis)-Order).
© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2022
Alle Rechte vorbehalten
Das Aktuell gibt die Auffassung der Autoren wieder.
SWP-Aktuells werden intern einem Begutachtungsverfahren, einem Faktencheck und einem Lektorat unterzogen. Weitere Informationen zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP-Website unter https://www. swp-berlin.org/ueber-uns/ qualitaetssicherung/
SWP
Stiftung Wissenschaft und Politik
Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit
Ludwigkirchplatz 3–4
10719 Berlin
Telefon +49 30 880 07-0
Fax +49 30 880 07-100
www.swp-berlin.org
swp@swp-berlin.org
ISSN (Print) 1611-6364
ISSN (Online) 2747-5018
doi: 10.18449/2022A20