Binnenvertreibung erfährt weitaus weniger politische Aufmerksamkeit als grenzüberschreitende Flucht. Zu Unrecht. Angesichts stetig steigender Zahlen und hoher wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Folgekosten braucht es verstärkte entwicklungspolitische Bemühungen, meint Anne Koch.
Deutsche und europäische Entscheidungsträger ringen seit Jahren um Kompromisse in der Flüchtlings- und Migrationspolitik. Dabei wird häufig vergessen, dass die meisten Menschen, die sich aufgrund gewaltsamer Konflikte, Naturkatastrophen oder großangelegter Infrastrukturprojekte gezwungen sehen, ihren Heimatort zu verlassen, keine internationale Grenze überqueren. Diese so genannten Binnenvertriebenen sind häufig ähnlich hilfsbedürftig wie grenzüberschreitende Flüchtlinge, haben aber keinen Zugang zu internationalem Schutz. Insbesondere die Zahl konfliktbedingter Binnenvertriebener steigt stetig an. Laut dem in dieser Woche erschienenen Jahresbericht des Internal Displacement Monitoring Centre (IDMC) erreichte sie Ende 2019 einen neuen Höchstwert von 45,7 Millionen. Hinzu kommen mindestens 5,1 Millionen katastrophenbedingte Binnenvertriebene. Humanitäre Hilfe allein ist keine adäquate Antwort auf dieses Problem: In Ländern wie Afghanistan, Irak oder der Ukraine leiden viele Menschen auch Jahre nach der ursprünglichen Vertreibung noch unter gravierenden Benachteiligungen, etwa beim Zugang zu Gesundheit, Bildung und Einkommensmöglichkeiten. Doch bisher fehlt es an langfristigen Lösungsansätzen.
Es gibt eine Reihe von Gründen, weshalb Binnenvertriebene auf internationaler Ebene wenig Beachtung finden. Binnenvertreibung tritt ganz überwiegend in ärmeren Weltregionen auf; anders als bei grenzüberschreitender Flucht sind wohlhabende Länder wie Deutschland auch den Folgen von Binnenvertreibung nicht direkt ausgesetzt. Entsprechend gering ist die politische Aufmerksamkeit. Das jährlich vom Norwegischen Flüchtlingsrat publizierte Ranking »vergessener Krisen« belegt, dass große Vertreibungssituationen, die sich vorwiegend innerhalb der Grenzen des betroffenen Landes abspielen, regelmäßig auch medial vernachlässigt werden. Dieselbe Erhebung zeigt überdies, dass die entsprechenden internationalen Appelle zur Finanzierung humanitärer Einsätze – etwa für die Demokratische Republik Kongo, Mali oder Kamerun – kaum Gehör finden. Zudem leugnen viele Regierungen, dass Binnenvertreibung auf ihrem Territorium vorkommt, da sie internationale Sanktionen oder Reputationsverluste fürchten. Gerade dieser letzte Aspekt erschwert das Engagement internationaler Akteure immens: Eine Unterstützung von Binnenvertriebenen ist ohne Einverständnis der jeweiligen Regierung unmöglich – und einem Problem, das totgeschwiegen wird, kann man nicht begegnen. Trotz seiner gravierenden Folgen.
Jüngere Forschungsergebnisse weisen darauf hin, dass die durch Binnenvertreibung verursachten wirtschaftlichen Kosten immens sind. In Ländern wie Somalia oder der Zentralafrikanischen Republik machen etwa die geringere wirtschaftliche Produktivität ebenso wie Kosten für Unterbringung, Gesundheitsversorgung, Bildung und Sicherheit einen substantiellen Anteil des Bruttoinlandsprodukts aus. Hinzu kommen langfristige Auswirkungen: Da zum Beispiel die Schulbildung von Kindern und Jugendlichen aufgrund der Vertreibung unterbrochen oder verkürzt wird, werden sich Einkommen und damit Steuereinnahmen in der Zukunft verringern. Bereits erzielte Entwicklungserfolge geraten auf diese Weise in Gefahr. Arme Länder, in denen die Folgen von Vertreibung nicht durch persönliche Rücklagen oder staatliche Sicherungssysteme abgefedert werden können, leiden besonders. Hinzu kommt, dass Binnenvertreibung nicht nur eine häufige Folge bewaffneter Konflikte ist, sondern auch zu deren geografischer Ausweitung oder Verlagerung beitragen und Länder langfristig destabilisieren kann. Die Suche der internationalen Gemeinschaft nach dauerhaften Lösungen sollte daher hohe Priorität haben.
Hier kann die Entwicklungszusammenarbeit mit drei sich gegenseitig ergänzenden Bausteinen einen entscheidenden Beitrag leisten. Erstens muss der politische Wille nationaler Entscheidungsträger, Binnenvertreibung im eigenen Land zu mindern, gestärkt werden. Um dieses Ziel zu erreichen, ist eine entwicklungspolitische Argumentation, die an das Eigeninteresse der Regierungen appelliert, erfolgversprechender als eine – obgleich in vielen Fällen sehr berechtigte – menschenrechtlich begründete Kritik. Zweitens müssen die Institutionen der betroffenen Länder in die Lage versetzt werden, selbstständig dauerhafte Lösungen zu entwickeln und umzusetzen. Der hierfür notwendige Kapazitätsaufbau ist ebenfalls eine Aufgabe für die Entwicklungszusammenarbeit. Und drittens muss die Datenlage verbessert werden. Neben verlässlichen Fallzahlen mangelt es insbesondere an detaillierten sozioökonomischen Daten zu den Lebenssituationen und Bedürfnissen von Binnenvertriebenen, die für deren gezielte Unterstützung unerlässlich sind.
Dem IDMC zufolge zeichnen sich in einigen Ländern positive Entwicklungen ab – so bemüht sich die afghanische Regierung darum, Binnenvertriebenen Zugang zu Land und Grundeigentum zu verschaffen. Äthiopien hat Ende 2019 eine nationale Durable Solutions Initiative zur Koordinierung von Lösungsansätzen ins Leben gerufen, und der nationale Entwicklungsplan Somalias aus dem Jahr 2017 erkennt die Rechte von Binnenvertriebenen an und unterstützt deren lokale Integration. Weitere afrikanische Regierungen haben durch die Ratifikation der Kampala-Konvention zum Schutz und zur Unterstützung von Binnenvertriebenen der Afrikanischen Union ihre Bereitschaft zu mehr Engagement in diesem Bereich signalisiert.
Dies ist ein Anfang, doch weiteres Engagement ist nötig. Auch deshalb, weil die Herausforderungen im Zuge der Corona-Pandemie zunehmen: Zum einen zählen Binnenvertriebene aufgrund beengter Wohnverhältnisse und mangelnder Gesundheitsversorgung zu den besonders stark gefährdeten Gruppen. Zum zweiten drohen die wirtschaftlichen und politischen Verwerfungen der Pandemie weitere Fluchtbewegungen auszulösen. Und schließlich dürften die im Zuge der Krise durchgesetzten Grenzschließungen weitere Menschen an einer grenzüberschreitenden Flucht hindern und damit das Phänomen Binnenvertreibung verstärken. Deutschland und die EU sollten das Thema daher weit oben auf ihre Agenda setzen und die notwendigen Ressourcen für die Entwicklungszusammenarbeit zur Verfügung stellen.
Politische und institutionelle Herausforderungen im Kontext von Binnenvertreibung
doi:10.18449/2020S04v02
Wanderungsbewegungen nehmen weltweit zu. Die Gründe dafür sind vielfältig. Das Dossier führt in dieses komplexe Thema ein und legt einen Schwerpunkt auf nationale, europäische sowie internationale Migrations- und Flüchtlingspolitiken.