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Bidens Idee einer »sole purpose«-Nukleardoktrin für die USA

Folgen für Verbündete in Asien, die Nato und Deutschland

SWP-Aktuell 2021/A 77, 07.12.2021, 8 Seiten

doi:10.18449/2021A77

Forschungsgebiete

US-Präsident Joseph Biden erwägt, die amerikanische Politik der nuklearen Ab­schreckung zu ändern. Seit Beginn des Atomzeitalters hat Washington stets erklärt, es könne nicht nur auf Angriffe mit Kernwaffen, sondern auch auf nichtnukleare Aggressionen mit nuklearer Vergeltung antworten. Diese deklaratorische Politik könnte bald enger gefasst werden: Biden würde die Rolle von Atomwaffen gern redu­zieren, und zwar durch eine »sole purpose«-Erklärung (SP). Danach wäre es alleiniger Zweck der US-Atomwaffen, nukleare Angriffe abzuschrecken und, falls nötig, auf diese zu reagie­ren. Gegen konventionelle Aggressionen würden die USA nie Kernwaffen einsetzen. Wider Er­warten würde das aber die heute bestehenden nuklearen Risi­ken für die USA kaum reduzieren. Zudem befürchten bereits jetzt die Verbündeten der USA in Europa und Asien, dass SP ihre Sicherheit beeinträchtigt. Auch für Deutsch­land stellt sich die Frage nach politischen und militärischen Folgen einer SP-Politik.

Im Juli 2021 hat die Biden-Administration die für neue US-Regierungen obligatorische Überprüfung der Kernwaffenpolitik (Nuclear Posture Review, NPR) begonnen. Der Prozess soll Anfang 2022 abgeschlossen werden. Eine NPR enthält unter anderem die dekla­ratorische Nuklearpolitik der USA. Auf diese Weise teilt Washington Gegnern und Verbündeten mit, welchen politisch-strate­gischen Zielen das US-Atom­arsenal dient und welche mili­tärischen Fähigkeiten dafür nötig sind. Dabei muss jede Admini­stration auch darlegen, unter welchen Bedingungen die USA ihre Atom­waffen ein­setzen könnten.

Die Beantwortung dieser Fragen stellt die Biden-Administration vor einen Prioritäten­konflikt. Auch daher ist die aktuelle NPR heftig umstritten.

Bidens konkurrierende Ziele

Einerseits möchte der Präsident die Rolle von Atomwaffen in der US-Sicherheits­politik verringern. Das Weiße Haus hat dies in seinen »Vorläufigen Leitlinien für eine Nationale Sicherheitsstrategie« im März 2021 angekün­digt. Biden vertritt schon länger die Posi­tion, dass eine reduzierte Bedeutung von Kern­waffen den Sicherheitsinteressen der USA dient. Daher schlug er bereits 2017 als Vize­präsident und erneut 2020 im Wahl­kampf vor, SP zur deklaratorischen Politik der USA zu machen – ob­schon er die Vorteile von SP nie aus­buch­stabiert hatte.

Andererseits hat Präsident Biden erklärt, die Allianzen der USA wieder stärken zu wollen, auch als Abkehr von Trumps Poli­tik. Die meisten Alliierten stützen sich aber auf die erwei­terte nuklea­re Abschreckung der USA. Sicherheitspolitisch hängen sie von Washingtons Verspre­chen ab, die Ver­bündeten notfalls auch mit Kernwaffen zu verteidigen. Da SP diesen nuklearen »Schutzschirm« ein­zuschränken droht, leh­nen viele Alliierte diese Abschwächung der deklaratorischen US-Nuklear­politik ab.

Es besteht also eine Diskrepanz zwischen Bidens Zielen, mittels SP die Bedeutung von Atom­waffen in der US-Strategie zu vermin­dern und zugleich Amerikas Allian­zen, die auf nukleare Rückversicherung gründen, zu stärken. Die Spannung zwi­schen diesen Zielen wäre auflösbar: Wenn die Bedro­hung der Alliierten – und damit ihr Bedarf an Amerikas nuklearem Schutz – eher gering wäre, könnten die USA die Rolle ihres Atom­arse­nals verringern, ohne die Allianzen zu belasten. So dachte Obama 2009, als bei­spielsweise Russland und die Nato noch eine strategische Partnerschaft unterhielten.

Seitdem hat sich die Sicherheitslage aber spürbar verschlechtert. Mehrere Nato-Staa­ten wie auch die US-Verbündeten im Pazi­fik fühlen sich von Russland und China, deren umfassender militärischer Auf­rüstung und als aggressiv empfundener Außenpolitik bedroht. Daher unterstreichen sie, wie wich­tig die erweiterte nukleare Ab­schreckung der USA für ihre Sicherheit ist. Auch bei den übrigen Kernwaffenstaaten (Russland, Großbritannien, Frankreich, China, Israel, Indien, Pakistan, Nordkorea) nimmt die Bedeutung der Atomarsenale nicht ab, sondern fast überall zu.

Angesichts dessen ist Bidens SP-Idee in Washington umstritten. Republikanische Kongressmitglieder kritisieren den Vor­schlag heftig. Auch aus dem Außen- und dem Verteidigungsministerium der USA kommen Bedenken. Befürworter und Befür­worterinnen halten dennoch an der SP-Idee fest. Dabei unterstreichen sie insbesondere drei Argumente.

Erwartungen der Befürworter

Erstens gehen sie davon aus, dass SP die Kri­senstabilität erhöht. Bisher praktizieren die USA eine deklaratorische Politik der »stra­te­gischen Mehrdeutigkeit« (strategic ambi­guity). Die Option, in Krisen Nuklearwaffen als erste einzusetzen (first use), schließt die US-Regie­rung damit bewusst nicht aus. Dies beruht auf der Kalkulation, dass die Un­be­rechenbarkeit des amerikanischen Vor­gehens die Ab­schre­ckung gegenüber ande­ren Staaten stärkt: Kennen Gegner die Schwelle nicht, bei deren Überschreiten Amerika nuklear reagieren könnte, dann schrecken sie davor zu­rück, sich an diese Schwelle heranzutasten.

Allerdings meinen die SP-Befürworter und -Befürworterinnen, dass Gegner im Krisenfall nicht bloß einen begrenzten Ersteinsatz (first use) fürchten, sondern viel­mehr einen umfassenden nuklearen Erst­schlag (first strike). Bei diesem würden die USA präemptiv das gesamte Atom­arsenal des Gegners zerstören, um danach mit Hilfe ihrer eige­nen Kernwaffen den Konflikt zu dominieren. Um dies zu verhindern, könn­ten sich Kontrahenten der USA in Krisen gezwungen sehen, ihre Atomwaffen früh­zeitig einzu­setzen, bevor US-Raketen sie zer­stören (»use them or lose them«). SP könne solche Eskalationsspiralen vermeiden, da Herausforderer vorab wüss­ten, dass die USA den Sinn ihrer Kern­waffen nur darin sehen, atomare Angriffe abzuschrecken oder auf sie zu reagieren. Die größere Berechenbarkeit der USA mache den vorschnellen Ein­satz von Kern­waffen durch Gegner in Krisen unnötig und Atomkriege damit weniger wahr­scheinlich.

Zweitens würde diese Berechenbarkeit des US-Handelns auch abseits von Krisen Atomschläge unwahrscheinlicher machen. Laut Kritikern und Kriti­kerinnen der »strategischen Mehrdeutigkeit« können bei dieser US-Politik Fehlwahrnehmungen ungewollt Atomkriege auslösen, etwa die falsche Interpretation von Radarsignalen. Wenn fehlerhafte Signale einen ent­waff­nenden Erstschlag der USA suggerieren – und dieser Eindruck nicht verworfen wird, weil er der deklaratorischen US-Politik nicht zuwiderläuft –, könnte der Fehlalarm einen massiven atomaren Gegen­schlag in Gang setzen. Es käme zu einem Nuklear­krieg aus einem Irrtum heraus (accidental nuclear war).

Mit SP wäre das Risiko dafür klei­ner, glauben die Befürworter und Befürworterinnen. Jegliche Zeichen, die auf einen völlig überraschenden Erstschlag der USA hin­deuten, würden nun doppelt und drei­fach hinterfragt. Denn sie widersprächen der erklärten US-Politik, die eigenen Atom­waffen nur einzusetzen, um nukleare Aggressionen anderer ab­zuwehren. Bei dieser Prüfung würden die meisten Fehler auf­gedeckt und irrtümlich verursachte Eskalationen weniger wahrscheinlich.

Drittens erwarten die Verfechter und Ver­fechterinnen dank SP Erfolge in der Abrüstungsdiplomatie. Die Bedeutung der US-Kern­waffen zu reduzieren hieße, die Bindung der USA an Artikel 6 des Atom­waffen­sperrvertrags (Non-Prolifera­tion Treaty, NPT) zu betonen. Er verpflichtet alle 191 Vertrags­parteien, »in redlicher Absicht Verhand­lungen anzustreben über effektive Maßnah­men«, um das nukleare Wettrüsten zu beenden und atomar abzurüsten. SP wäre ein Schritt in diese Richtung, von dem die NPT-Überprüfungskonferenz im Januar 2022 profitieren würde. Der Unmut vieler Länder über mangelnde Fortschritte bei der Umset­zung von Artikel 6 droht die Konfe­renz scheitern zu lassen. Mit SP wäre ein posi­tiver Ausgang wahrscheinlicher, und damit würde der NPT insgesamt stabi­lisiert, so die Hoff­nung.

Szenarien: nur Worte oder Taten

Ob diese Effekte eintreten, hängt davon ab, wie SP umgesetzt würde. Prinzipiell sind zwei Szenarien denkbar: 1) eine rein dekla­ratorische Änderung der US-Nuklearpolitik sowie 2) eine SP-Deklaration, die auch durch entsprechende Streitkräfteanpassungen untermauert würde.

Tatsächlich ließen sich die erhofften Vorteile von SP nur dann erzielen, wenn die USA die Struktur ihrer Nuklearstreitkräfte fundamental änderten. Zu erwarten ist jedoch, dass die Biden-Administra­tion eine mögliche SP auf einen deklaratorischen Wandel beschränkt. Eine solche SP dürfte die Hoffnungen ihrer Befürworter und Befürworterinnen enttäuschen. Das liegt daran, dass gegnerische Regierungen den Worten eines US-Präsidenten allein wenig Glauben schenken. Schon jetzt sind in Mos­kau und Peking Zweifel an der Ernst­haftig­keit einer SP der USA zu hören.

Damit US-Gegner glauben, dass Amerika Kernwaffen nur als Mittel für den Umgang mit nuklearen Aggressionen sieht, müsste Washington seine Fähigkeit, Atomwaffen anders zu nutzen, stark zurückschrauben. Die USA müssten glaubhaft machen, dass sie zentrale militärische Optionen aufgegeben haben, mit denen sie sonst die Fähig­keit des Gegners, nuklear zu ant­worten, erheblich einschränken könnten. Dafür genügt es nicht, einzelne Kategorien von Kernwaffen, speziell landgestützte Inter­kontinentalraketen (ICBM), abzuschaffen. Selbst wenn die USA all ihre ICBM auf­gäben, würden Gegner der USA fürch­ten, dass Washington in einer Krise immer noch einen Erstschlag durch­führen könnte oder zumindest militärische Anreize für einen Ersteinsatz hätte. Dafür spricht die hohe Anzahl U-Boot-ge­stützter Raketen, kombiniert mit Raketenabwehr­fähigkeiten und präzisen konventio­nellen Offensiv­waffen großer Reichweite. In der Folge wür­den sich US-Gegner mit ziemlicher Sicher­heit auf diesen Worst Case vor­bereiten, statt allein Washingtons Worten zu vertrauen.

Um Gegner zu überzeugen, dass die USA niemals einen Ersteinsatz durchführen werden, müsste Washington also auf zen­trale strategische Fähig­keiten – nukleare wie nicht­nukleare – verzichten und damit letztlich auf die welt­weit führende Rolle des US-Mili­tärs. Nichts deutet auf diese Ab­sicht hin. Für Amerikas Kontrahenten wäre Bidens SP deshalb nur eine Worthülse mit wenig strategischer Kon­sequenz.

Für die USA ändert sich wenig …

Falls Russland und China eine SP der USA als unglaubwürdig betrachten, kann diese Politik nicht dazu beitragen, das Risiko vorschneller Atomschläge in Krisen oder einer irrtümlich aus­gelösten Atom­explo­sion zu senken. Da Moskau und Peking einen US-Erstschlag weiterhin nicht aus­schließen könnten, wäre die Gefahr der Eskalationen in Krisen sowie irrtümlicher Kern­waffeneinsätze nach wie vor nicht gebannt.

Nicht ersichtlich ist zudem, warum eine rein deklaratorische SP den USA entscheidende Vorteile innerhalb des NPT-Regimes und auf der Überprüfungskonferenz 2022 brächte. Abrüstungsunterstützer dürften eine solche SP zwar begrüßen, die fehlende militärische Umsetzung aber kriti­sieren. Historische Erfahrungen geben keinen An­lass zu erwarten, dass eine SP der USA den Verlauf der Konferenz signifikant ändern könnte. Aber selbst wenn SP zur Eini­gung auf eine Abschlusserklärung der Konferenz beitrüge, bleibt fraglich, ob zwischen dem Ausgang von Überprüfungskonferenzen und der Stabi­lität des NPT ein Zusammenhang besteht. Es fehlen Nachweise für die These, Nichtkernwaffenstaaten würden aus dem NPT austreten und nach der Bombe streben, wenn die nu­kleare Abrüstung stockt.

Wenn Moskau und Peking eine SP der USA nicht für glaubhaft halten, würde das aber auch die häu­fige Kritik entkräften, SP unter­grabe die Abschreckung von massiven nichtnuklearen Aggressionen. Konzentrieren sich Russland und China auf Fähigkeiten statt auf Worte, könnten sich die USA auch mit SP weiter darauf verlassen, dass ihr Atompotential abschreckend wirkt.

Das bedeutet nicht, dass Abschreckung mittels strategischer Mehrdeutigkeit – die ja bei einer nicht glaubhaften SP praktisch fortbestände – risikolos ist. Jede Nu­klear­politik mit Ersteinsatzoption birgt das erhöhte Risiko einer »unbeabsichtigten Eskalation« (inadvertent escalation). Beim Ver­such, die atomare Schwelle der USA ein­zuschätzen, könnten Gegner sich verkalkulieren und sie ungewollt übertreten. Solange es Atomwaffen gibt, kann man zudem einen Unfall nicht ausschließen. Diese Risiken sind real, obschon im Fall der USA extrem klein. Eine rein deklaratorische SP beseitigt diese Risiken nicht.

Mit Blick auf die erhofften Positiveffekte bliebe SP für die USA also nahezu folgenlos. Auch an der Abschreckung würde sich wenig ändern. Politisch indes fiele die Bilanz von SP, besonders für US-Alliierte in Asien, schlechter aus. Das könnte sich nach­­teilig auf die USA, Europa und die Auf­recht­erhal­tung der US-geführten inter­nationalen Ord­nung aus­wirken.

… für Alliierte in Asien umso mehr

Als Folge von Chinas Aufrüstung hat sich in der Region das amerikanisch-chinesische Kräfteverhältnis bei den konventionellen Waffen geändert. Das Pentagon kann heute nicht mehr sicher sein, einen begrenzten Krieg mit China zu gewinnen, in dem Kern­waffen keine Rolle spielen. Daher hat das überlegene US-Atomarsenal zen­trale Bedeu­tung. Es erlaubt den USA, in einer Konfrontation mit China militärisch letztlich die Oberhand zu behalten. Daher können die USA Peking von vornherein wirksam davon abschrecken, Kriege zu beginnen.

Diese Fähigkeit der USA, China von kon­ventionellen Aggressionen abzuschrecken, wäre durch eine rein deklaratorische SP nicht berührt, denn Peking würde der SP miss­trauen. Anzunehmen ist aber, dass selbst eine rein deklaratorische Änderung Einfluss auf US-Alliierte hätte, die sich von China bedroht sehen. Diese würden wohl den Willen der USA in Zweifel ziehen, für Ver­bündete einzutreten. Denn deklaratorisch würde Washington mit SP, da es China mit konventionellen Mitteln allein nicht mehr abschrecken kann, eher eine kon­ventio­­nel­le Niederlage hinnehmen als nuklear zu eskalieren. Damit würden die Alliierten dem vor Ort überlegenen China preis­gegeben. In der Folge dürfte der Druck in diesen Ländern steigen, entweder poli­tisch den Ausgleich mit Peking zu suchen oder eigene Abschreckungs­fähigkeiten auf­zubauen, womöglich auch nuklearer Art.

Europa wäre berührt, aber anders

Ähnlich destabilisierend könnten die Fol­gen in Europa sein. Während des Kalten Krie­ges war das konventionelle Kräfte­verhält­nis dort noch ungünstiger für die US-Verbünde­ten als heute in Asien. Die Sowjetarmee schien von westlicher Seite nur mit Hilfe von Atomwaffen ab­geschreckt werden zu können. Entsprechend groß war für viele Jahre das Gewicht von Kernwaffen in der Nato-Strategie. Die militärische Abhängigkeit der Europäer von den USA besteht immer noch. Verschoben hat sich indes das konventionelle Kräfteverhältnis. Heute ist die Nato konventionell insgesamt Russland überlegen (obgleich das Bild in regionalen Kon­texten und in bestimmten Konflikt­szenarien anders aussieht). Aus Sicht der Befürworter und Befürworterinnen von Bidens Idee eröffnet dies den USA Spielräume für SP.

Aber auch die relative Bedeutung Europas in der US-Global­strategie ist heute geringer. Washingtons strategischer Fokus liegt nun auf der Rivalität mit China, die primär in Asien ausgetragen wird. Dieser Prioritätenwechsel schürt Zweifel an der Entschlossenheit der USA, zur Wahrung der euro­päischen Sicherheit in jeden militärischen Konflikt mit Russland einzutreten.

Hinzu kommt, dass mögliche politische oder militärische Verluste, um die es heute in plausiblen Konfliktszenarien in Europa ginge, macht­politisch weniger wichtig wären als zu Zeiten des Kalten Krieges. Damals hätte die euro­päi­sche Machtbalance kip­pen können, wenn das westliche Bünd­nis die Bun­desrepublik verloren hätte. Heute da­gegen würden solche Verluste, etwa in Ost­europa, zwar die Nato in ihrer Kernaufgabe fordern, aber – so wird befürchtet – weni­ger relevant für globale US-Inter­essen sein.

Aus Sicht der europäischen Alliierten stellt sich heute also weniger die Frage, ob das Bündnis die Fähigkeiten besitzt, einen nicht­nuklearen Konflikt mit Russ­land zu gewin­nen, denn diese hat es. Viel­mehr bestehen Zweifel, ob die USA – die die kritischen militärischen Ressourcen stellen – auch bereit wären, diese ein­zusetzen.

Diese Frage ist entscheidend, da im Fall einer russischen Aggression jene konven­tionellen Kräfte, die die Nato in potentiellen Konfliktgebieten statio­niert hat (etwa im Baltikum oder im Schwarz­meerraum), den russischen Ver­bänden vor Ort unterlegen wären. Damit die Nato ihre Gesamtstärke ausspielen kann, müsste die Nato (und dabei zu großen Teilen die USA) erst zusätzliche Kräfte in das Konflikt­gebiet ver­legen. Das würde mehrere Tage bis Wochen dauern, weshalb Russland auf raschen militärischen Erfolg (»fait accompli«) hoffen könnte. Wie Washington politisch und militärisch reagieren würde, wird unterschied­lich be­urteilt. Deshalb sind Bidens SP-Pläne auch für Europa brisant.

Schwierige Fragen für Nato-Europa

Analog zur Situation in Ostasien würde eine rein deklaratorische SP die tatsächliche Abschreckung einer russischen Aggres­sion nicht schwächen. Moskau würde dieser SP kaum glauben. Aller­dings würde die SP bei einigen Verbündeten den Ein­druck erwecken, dass die Verlässlichkeit des US-Schutzversprechens sinkt und dass Moskau dies auch so wahrnimmt. Denn SP wäre die Abkehr von einer jahrzehnte­langen Poli­tik: Washington hatte zuvor, auch bei viel günstigeren Bedrohungslagen, stets ent­schieden, dass die Option eines nuklearen Ersteinsatzes ein notwendiger Pfeiler der Nato sei, um Kontrahenten von konventionellen Angriffen abzuschrecken. Nun wür­den die USA diese Politik aufgeben und erklären, dass ihre Kernwaffen lediglich ein Mit­tel seien, um atomarer Aggression zu begegnen.

Dieser Effekt schlägt sich bereits in aktu­ellen Debatten der Nato nieder. Die Nuklear­staaten Frankreich und Großbritannien sowie viele andere Alliierte kritisieren die SP-Pläne. Besonders jene Staaten, die in geographischer Nähe zu Russland liegen und dessen politisch-militärischen Druck spüren, befürchten, dass sie ohne verläss­liche US-Garantie russischer Erpres­sung ausgesetzt wären. In ihrer Sicht macht SP konventionelle Kriege in Europa wieder führbar.

Daher dürfte eine SP-Entscheidung, welche die USA gegen den Willen der Alli­ierten träfen, kontroverse Debat­ten in der Nato entfachen. Aus politischer Perspektive könnte SP angesichts der wach­senden Zahl US-skeptischer Stimmen in Europa als wei­terer Beleg für die sin­ken­de Verläss­lichkeit der USA gedeutet werden. In militärischer Hin­sicht ist davon auszugehen, dass einige Verbündete auf Kompensation für die emp­fundene Sicher­heitslücke drängen würden. Im Mittelpunkt stände dabei, ob und wie die durch SP entstandene Lücke bei der Rück­versiche­rung – und in den Augen der Europäer auch bei der Abschreckung – konventionell gefüllt werden könnte. Um Russlands Möglichkeiten, Druck auszuüben, zu neutralisieren, könnten Alliierte für drastische Schritte plädieren. Konkret könnten sie Fähigkeiten fordern, um vor Ort russische Aggressionen abwehren zu können. Das würde enorme Investitionen etwa in Luft­verteidigung und Cyberabwehr notwendig machen. Vorstellbar sind eben­falls Forde­rungen nach der Sta­tionierung grö­ßerer Nato-Verbände in potentiellen Konflikt­gebieten. In einer Studie schlägt der US-Think-Tank RAND beispielsweise allein für das Baltikum eine Truppenstärke von 30.000 Soldaten und Soldatinnen vor. Neue­re Forschungen unterstreichen, dass kleine Trup­pen­statio­nierungen allein die Kalküle eines Angreifers nicht ändern. Nur als »Stol­perdraht«, der in allerletzter Konsequenz einen Atomschlag auslösen könnte, wirken sie rückversichernd.

Die abschreckende Wirkung von Atomwaffen auf Moskau besteht aber auch darin, Schäden für russisches Gebiet anzudrohen. Daher genügt es nicht, stärkere Defensiv­kapazitäten aufzubauen, um Lücken bei der Rückversicherung zu füllen. Um das durch SP verminderte Risiko für Russlands Territorium wiederherzustellen, müssten auch offensive Fähigkeiten beispielsweise in den Bereichen Cyber und Luftstreitkräfte geschaffen oder verstärkt werden.

Vor einer solchen Stärkung der konventionellen Kräfte wären schwierige Fragen zu beantworten: Wer stellt die Truppen? Viele Alliierte sind durch die 2014 begonnene Neuaufstellung der Nato noch umfassend gefordert. Wo werden die Truppen statio­niert? Falls dies in Osteuropa geschehen soll: Akzeptieren sämtliche Alliierte, dass dafür die Nato-Russland-Grundakte auf­gekündigt wird? Schließlich: Wer trägt die Kosten, die RAND allein mit Blick auf das skizzierte Defensivkontingent für das Balti­kum auf 8 bis 14 Milliarden US-Dollar als Anschubfinanzierung und da­nach auf jähr­lich 3 bis 5 Milliarden US-Dollar beziffert?

Daher würden Amerikas Verbündete wohl kurzfristig eine nichtkompensierte SP widerwillig akzeptieren. Mittel- und lang­fristig hingegen dürfte aber der Druck nach militärischer Kompensation steigen – wie auch das Risiko der politischen Fragmentierung der Allianz. Zudem bliebe die Frage, ob mit der kon­ventionellen Substitution tatsächlich mehr Sicherheit erreicht wäre. Die Nato würde die Fähigkeiten mit einer defensiven Funk­tion aufstellen. Konfliktparteien können aber nur schwer zwischen defensiven und offensiven konventionellen Verbänden unterscheiden, so dass ein Sicherheitsdilem­ma droht. Ob sich eine Aufrüstungsspirale abwenden ließe, ist ungewiss. Moskaus Bedro­hungsgefühl dürfte durch solche Maß­nahmen steigen. Dadurch würde sich der Konflikt wohl verschärfen.

Darüber hinaus könnte SP die kritischen Stimmen in der aktuellen Debatte über nukleare Teilhabe in der Nato stärken. Soll die Bedeutung von Kernwaffen schrumpfen, scheint für einige auch eine Revision der nuklea­ren Teilhabe folgerichtig. Zudem verlören deren poli­tisch-institutio­nelle Bindungen an Gewicht. Wenn die US-Regie­rung ihre Atomwaffen öffentlich nicht mehr mit kon­ventionellen Szenarien ver­knüpft, war­um sollte sich Deutschland dann weiterhin darauf vor­bereiten?

Diese Kritikpunkte beruhen indes auf Fehlannahmen. SP berührt nämlich nicht die Funktion taktischer Kernwaffen (wie den in Europa stationierten US-Bomben) in der Nato-Strategie, auf einen begrenzten nukle­aren russischen Ersteinsatz proportional reagieren zu können und Russland auf diese Weise davon abzuschrecken.

Schließlich entstände mit SP ein Dissens unter den drei Nato-Kernwaffenstaaten über die Nuklearstrategie. Frankreich und Großbritannien setzen auf die Drohung mit dem Erst­einsatz und lehnen eine SP der USA ab. Ein Streit unter den dreien fiele in die Beratungen über das neue Strategische Konzept der Nato, das im Juni 2022 beschlossen werden soll. Er würde die Konsensfindung zusätz­lich erschweren.

Berlin nicht bereit für Folgeeffekte

Eine SP muss an jenen Interessen Deutschlands gemessen werden, die seit Beginn des Ost-West-Konflikts bei der Nuklear­strategie zentral waren: Neben (1) dem Ziel der Kon­fliktverhinderung und ‑beendigung ver­such­te die Bundesrepublik (2) sicherzustellen, dass die USA mit ihrem Schutzversprechen auch Risiken für das eigene Territori­um auf sich nahmen und damit ein starkes Inter­esse zeigten, einen rein euro­päischen Kon­flikt zu vermeiden. (3) wollte Bonn insti­tu­tionelle Rahmen schaffen, um ein Mitspracherecht über den Einsatz von Atomwaffen in Europa zu erlangen. (4) wollte Deutschland die Rolle der USA als Garant der euro­päi­schen Sicherheit erhalten und verhindern, dass das US-Schutzverspre­chen durch eine französische Option ersetzt wird. Viel spricht dafür, dass diese Inter­essen fort­bestehen. Daher würden alle Folgen von SP für die Nato auch die Bundesrepublik be­tref­fen. Drei Aspekte würden Deutschland besonders berühren.

Erstens stellt sich vor allem die Frage, ob und wie die infolge SP ent­standene Lücke in der Rück­versicherungswahrnehmung durch neue konventionelle Fähigkeiten geschlossen werden könnte. Denn gemessen an seiner Wirtschaftskraft ist Deutschlands Beitrag zu den militärischen Fähig­keiten der Nato viel zu gering. Müsste der euro­päische Anteil an der konventionellen Kampfkraft der Allianz gesteigert werden, wäre deshalb Deutschlands Bringschuld im Vergleich zu den anderen Nato-Partnern am größten. Wird SP beschlossen, könnten die Erwartungen an Berlin steigen. In der künf­tigen Bun­desregierung dürfte die Not­wendigkeit solcher Schritte allerdings um­stritten sein.

Zweitens bräuchte ein größerer deutscher Beitrag zu Europas militärischer Sicherheit glaubwürdige politische Unterstützung durch Regierung und Bundes­tag. Nur dann wäre es möglich, die östlichen Alli­ierten rückzuversichern. Das wiederum dürfte für jede Bundesregierung herausfordernd sein.

Drittens könnte SP erneut die Frage nach der Bedeutung von Frankreichs Atomarsenal für Europas Sicherheit aufkommen lassen – gerade weil Paris an der Option eines nuklearen Ersteinsatzes fest­halten wird. Während Trumps Präsidentschaft hatte Frankreich versucht, angesichts der vieler­orts spürbaren Zweifel an der Verlässlichkeit der USA das Narrativ zu untermauern, dass Europa seine eigene Handlungsfähigkeit stärken müsse. Präsident Macron hatte im Februar 2020 inter­essierte Partner zu einem Dialog über die Rolle der französischen Kern­waffen für Europas Sicher­heit eingela­den. Diesen Dialog möch­te Paris aber außerhalb der Nato-Struk­turen führen. Das widerspricht Deutschlands Präferenz, Themen der nuklearen Abschreckung insti­tutionell im Nato-Rahmen zu verankern. Berlin ist besorgt, dass eine Verlagerung der Debatte aus der Nato heraus sicherheits­politisch destabilisierend wäre. Zudem könnte dies es einem künftigen isolationi­stischen US-Präsi­denten politisch erleichtern, über SP hinaus das nukleare Schutz­versprechen für Europa zu reduzieren.

Handlungsempfehlungen

Zahlreiche Nato-Staaten, vor allem Frank­reich, Großbritannien und Deutschland, haben der Biden-Administration in ver­schiedenen Formaten unmissverständlich klargemacht, dass sie SP ablehnen. Solange die Entscheidungsfindung in Washington nicht abgeschlossen ist, sollte diese Bot­schaft nach wie vor vermittelt werden. Hierbei könnte Deutschland eine Doppelstrategie verfolgen.

Bilateral mit Washington könnte Berlin weiter den intensiven Austausch über SP suchen. Dabei sollte die Bundesregierung die US-Regierung, besonders das Weiße Haus und das Außenministerium, bitten zu erläutern, wel­che Veränderung im sicher­heitspolitischen Umfeld es rechtfertigt, die deklaratorische Politik mit womöglich weit­reichenden Fol­gen zu modifizieren, und welcher Vorteil aus SP erwächst.

Berlin sollte seinerseits darlegen, welche politischen und militärischen Probleme SP im Bündnis erzeugen würde. Die ost- und mitteleuropäischen Verbündeten würden sicherlich konven­tionelle Substitutionen fordern. Das würde schwierige Folgefragen aufwerfen.

Zudem sollte Berlin erklären, wie SP die Nuklearinteressen der USA in Europa schä­digen könnte, wenn die europäische Unter­stützung für die nukleare Teilhabe des­wegen nachließe. US-Kern­waffen wurden in Europa auch zu dem Zweck stationiert, die Alliierten im Sinne der Risikoteilung mit in die Pflicht zu nehmen. Die USA schätzen die Waffen überdies als Instru­ment, mit dem sie ihren Willen signalisieren kön­nen, den Verlauf eines begrenzten Kon­fliktes funda­mental zu ändern und damit einen Gegner abzuschrecken. Beide Anliegen könnten die USA nicht weiter verfolgen, sollte SP die nukleare Teilhabe in Frage stellen.

Um auf Bidens SP-Äußerungen einzu­gehen, könnte Berlin gemeinsam mit Paris und London einen Dreischritt vorschlagen: Erstens erklären alle Nato-Staaten öffentlich, dass kon­ventionelle Fähigkeiten von überragender Bedeutung, aber dennoch nicht das einzige Mittel seien, um nicht­nukleare Angriffe abzuschrecken und solche gegebenenfalls zu beenden. Zwei­tens wäre im Sinne der Reduzie­rung nukle­arer Risi­ken das Ziel zu bekräftigen, die kon­ven­tio­nelle Überlegenheit der Nato sicher­zu­stel­len, damit die Schwelle für einen nukle­aren Ersteinsatz der Allianz möglichst hoch bleibt. Diese Vorschläge betreffen die Fähig­keit der Nato zur kon­ventionellen Verteidigung.

Als Ergänzung könnte drittens ein neues Konsultationsformat befürwortet werden, das sämtliche Alliierten einschließt, die sich von Bidens SP-Idee betroffen fühlen. Gemeint sind hier vor allem Frankreich, das nicht an den Beratungen der Nuklearen Planungsgruppe und der High Level Group teilnimmt, sowie Polen, das nicht in der »Quad« (USA, Großbritannien, Frankreich, Deutschland) vertreten ist. Dieses neue Format würde sich langfristig und gemeinsam jenen Fragen widmen, die SP für das Bündnis aufwirft. Das Ziel sollte sein, unter Alliierten ein besseres Ver­ständ­nis für die Probleme herzustellen, die ein­zelne Länder mit verschiedenen nuklearen Strategien haben. Dabei muss offen bleiben, ob ein Konsens erzielt werden kann und welche Voraussetzungen erfüllt sein müss­ten, damit eine SP mit den Sicherheitsinter­essen der USA und aller Verbündeten in Einklang stände. Es wäre bereits ein Gewinn, wenn diese Kon­sultationen suk­zessive das Ver­trauen dafür stärken wür­den, dass neben den militärischen Fähig­keiten auch aus­reichend politischer Wille vorhanden ist, die Sicher­heit Europas zu gewährleisten.

Dr. Liviu Horovitz, Dr. Jonas Schneider und Lydia Wachs sind Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen in der Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Dr. Claudia Major leitet die Forschungsgruppe Sicherheitspolitik. Das Aktuell entstand im Rahmen des Projekts STAND (Strategic Threat Analysis and Nuclear (Dis-)Order).

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2021

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