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Begrenzte rechte Neuordnung im Europäischen Parlament

Die Rekonfiguration der Rechtsaußenfraktionen im EU-Parlament nach den Wahlen 2024 und ihre Auswirkungen

SWP-Aktuell 2024/A 46, 10.09.2024, 8 Seiten

doi:10.18449/2024A46

Forschungsgebiete

Aus den Europawahlen 2024 sind Rechtsaußenkräfte gestärkt hervorgegangen. Im Europäischen Parlament (EP) selbst aber bleiben sie gespalten. Zu der gewachsenen national-konservativen Fraktion EKR gesellen sich nun die Fraktionen Patrioten für Europa (PfE) und Europa der Souveränen Nationen (ESN). Obgleich die PfE infolge der Zusammenarbeit mit dem französischen Rassemblement National und dem ungarischen Fidesz zur drittgrößten Fraktion im Parlament aufgestiegen ist, dürfte ihr direkter Einfluss auf die Parlamentsarbeit gering bleiben. Das Kerninteresse der Fraktion und ihrer Mitglieder ist ohnehin eher auf Finanzmittel, Aufmerksamkeit und die natio­nale Arena gerichtet. Sind Parteien der Fraktion zu Hause an der Regierung beteiligt, können sie ihr Land im Rat und gegebenenfalls sogar im Europäischen Rat vertreten. Diese Entwicklung wird die europäische Politik viel stärker verändern als die Gespal­tenheit der Rechtsaußen-Abgeordneten im EP.

Eines der politischen Themen, die das Um­feld der Europawahlen 2024 – wie auch schon 2019 und 2014 – dominierten, war ein erwarteter »Rechtsruck« in Form von Zuwächsen für Rechtsaußenparteien. Doch sind die Wahlergebnisse differenzierter ausgefallen, wodurch sich auch ihre Vek­toren für politische Einflussnahme in der neuen Legislaturperiode verändern. Drei Entwicklungen kamen zusammen:

Erstens erzielten Parteien aus dem Rechtsaußenspektrum die größten Gewinne in den EU-Gründerstaaten. In Frankreich wurde der Rassemblement National (RN) deutlich stärkste Kraft, die Alternative für Deutschland legte auf knapp 16 Prozent zu (bei der Europawahl 2019 kam sie auf 11 Pro­zent), die Partei Fratelli d’Italia der italie­nischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni hat den Anteil gewonnener Stim­men im Vergleich zu 2019 (6,44 Prozent) auf 28,8 Prozent etwas mehr als vervierfacht – ihre weiter rechts außen stehende Koalitionspartnerin Lega erlitt allerdings große Ver­luste – und in den Niederlanden erreichte die PVV (Partij voor de Vrijheid) von Geert Wilders 17 Prozent. Weitere größere Zuwächse verbuchten etwa die FPÖ in Österreich als stärkste Kraft oder in Bul­garien die Partei Vazrazhdane (Wieder­geburt). Da Deutschland, Frankreich und Italien als größte EU-Staaten auch die meis­ten Abgeordneten ins EU-Parlament entsen­den, haben sich die Zugewinne der genann­ten Parteien besonders stark ausgewirkt.

Zweitens ist das Bild bezogen auf die gesamte EU indes differenzierter. In drei EU-Staaten vor allem Nordeuropas haben Rechtsaußenparteien im Vergleich zu 2019 an Zustimmung eingebüßt (Finnland, Schwe­den, Ungarn). In vielen mittel- und osteuropäischen Staaten, darunter Tsche­chien, Estland oder Polen, waren die Zu­wächse 2024 zudem begrenzt. Ein Vergleich der Ergebnisse der letzten beiden Wahlen lässt vor allem erkennen, dass die großen Zugewinne der Rechtsaußenparteien bereits 2019 stattgefunden haben.

Den qualitativen Unterschied zu 2019 markierte, drittens, eine öffentliche Diskus­sion darüber, ob und unter welchen Bedin­gungen Parteien der politischen Mitte mit Rechtsaußenparteien zusammenarbeiten sollten. Die Europäische Volkspartei (EVP) stellte drei Kriterien auf, die für eine Koope­ration mit (Teilen) der nationalkonservativen Fraktion der Europäischen Konserva­tiven und Reformer (EKR) erfüllt sein müss­ten: pro EU, pro Ukraine und pro Rechts­staatlichkeit. Diese Kriterien zielten vor allem auf eine Zusammenarbeit mit der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni ab, schlossen hingegen weiter rechts außen stehende Parteien aus. Im Gegensatz dazu lehnten die europäischen Sozialdemo­kraten (S&D), die Liberalen und die Grünen eine Koope­ration mit sämtlichen Rechts­außenparteien ab, zu denen sie auch die EKR zählen – und machten diese Ablehnung wiederum zur Bedingung für eine Zusammenarbeit mit der EVP, beginnend mit der Wahl der Kommissionspräsidentin. Im Anschluss an die Europawahlen erreichte Ursula von der Leyen im EU-Parlament die mehrheitliche Zustimmung zu ihrer Wie­derwahl ohne Meloni und die EKR durch Unterstützung der EVP, der Sozialdemokraten, der Liberalen und der europäischen Grünen.

Die fluiden Fraktionen des EU-Parlaments

Einfluss auf die Zusammensetzung des EU-Parlaments und die Mehrheiten hat auch, wie sich nationale Abgeordnete im Parla­ment zu Fraktionen zusammenfinden. Die Formierung der Fraktionen vereinbaren die gewählten Abgeordneten in der Regel zu Beginn der Legislaturperiode; schließlich werden wichtige Positionen im Parlament, wie Ausschussvorsitzende, Delegations­leiter:innen, oder im Parlamentspräsidium unter Berücksichtigung der Fraktionsgröße verteilt. Abgeordnete können aber jederzeit die Fraktion wechseln – und tun dies auch wesentlich häufiger als auf nationaler Ebene.

Blickt man auf die vergangene Legislatur­periode, so wird das Phänomen deutlich: Der EVP-Fraktion, der größten, gut orga­nisierten Fraktion, haben sich innerhalb der letzten Legislaturperiode 12 zusätzliche Mitglieder des Europäischen Parlaments (MEPs) angeschlossen – sieben davon gehörten vorher einer der beiden Rechts­außenfraktionen an –, 19 Abgeordnete wiederum haben die EVP verlassen. Zu Letz­teren zählten auch die 11 Abgeordneten, die der ungarischen Fidesz angehören; sie kamen im März 2021 einem Ausschluss zuvor, indem sie von sich aus die Fraktion ver­ließen. Die liberale Renew-Fraktion kann in diesem Kontext als Auffangfraktion bezeichnet werden; hat sie doch im Laufe der letzten Legislaturperiode insgesamt zehn MEPs aus vier verschiedenen Fraktionen (EKR, EVP, Grüne, S&D) aufgenommen. Ungeachtet dessen bestehen die Mitte-links- und Mitte-rechts-Fraktionen nun schon seit vielen Legislaturperioden in ihrer aktuellen Form (siehe SWP-Studie 9/2019).

Die meisten Verschiebungen gab und gibt es im europaweit gespaltenen Spek­trum rechts der EVP. In der letzten Legis­laturperiode war dort neben der EKR die rechts­populistische bis rechtsextreme Frak­tion Identität und Demokratie (ID) angesie­delt. Schon vor den Europawahlen 2024 deutete sich an, dass es hier zu Beginn der Legislatur 2024–2029 größere Änderungen geben würde. So schloss die ID auf Initiative von Marine Le Pen die AfD nach mehreren Skandalen um ihren Spitzenkandidaten Maximilian Krah aus. Gleichzeitig suchte Viktor Orbán mit seiner seit 2021 fraktionslosen Fidesz öffentlich Anschluss an die EKR oder die ID, im aus seiner Sicht besten Fall an eine fusionierte Fraktion aus ID und EKR.

Umbau in begrenztem Rahmen

Grafik

Grafik: Wechsel der Mitglieder des Europäischen Parlaments zwischen den Rechtsaußenfraktionen um die Europawahl 2024

Nachdem wochenlang Gerüchte über einen Zusammenschluss von EKR- und ID-Frak­tion unter Beteiligung von Fidesz kursierten, gründeten sich schließlich zwei neue Fraktionen (siehe Grafik). Neben der natio­nal-konservativen EKR-Fraktion formieren sich nun die rechts-nationale Fraktion Patrioten für Europa (PfE) – die zu großen Teilen identisch ist mit der bis 2024 beste­henden ID – und die Fraktion Europa der Souveränen Nationen (ESN), die sich dem Rechtspopulismus bzw. in Teilen dem Rechtsextremismus zuordnen lässt.

Vordergründige Stabilität in der EKR

Die seit der 7. Wahlperiode des Europäischen Parlaments bestehende EKR hat sich als relativ stabil erwiesen. Dies gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass sämtliche Rechts­außenfraktionen, die sich nach 2009 neben der EKR gegründet haben, nie mehr als eine Legislaturperiode überstanden haben. Gegründet als Zusammenschluss der bri­tischen Konservativen Partei mit der natio­nal-konservativen polnischen PiS und der tschechischen ODS, war die EKR in der Legislaturperiode 2014–2019 (77 Ab­geordnete) noch drittstärkste Kraft; in der ausgelaufenen Legislaturperiode 2019–2024 war sie nur noch fünftstärkste Kraft. Nach einigen Wechseln kommt sie in der aktuellen Legislaturperiode auf Platz vier hinter der neu gegründeten Fraktion PfE. Dominiert wurde sie nach dem Ausschei­den der Tories im Zuge des Brexits von der polnischen PiS. Giorgia Melonis Fratelli d’Italia übernahmen in der letzten Legis­latur zunächst die Rolle des Juniorpartners. Seit ihrem Erfolg bei den Parlamentswahlen in Italien, spätestens aber seit den Europawahlen 2024 dominiert die Partei mit 24 MEPs die EKR-Fraktion sowohl zahlenmäßig als auch inhaltlich. Abgesehen von der ODS in Tschechien unter Ministerpräsident Petr Fiala und den Fratelli d’Italia unter Minis­terpräsidentin Meloni sind Parteien der EKR auch als Koalitionspartnerinnen an den Regierungen Kroatiens und Finnlands betei­ligt und stützen in Schweden die Minder­heits­regierung.

Dabei erlebte die EKR trotz ihrer relativen Stabilität in der 8. und 9. Wahlperiode diverse Fraktionswechsel, welche die Zahl ihrer Abgeordneten und ihre Zusammen­setzung veränderten. So startete die EKR in die 8. Wahlperiode mit 70 Abgeordneten und beendete sie mit einem Nettozuwachs von sieben Abgeordneten – trotz der Ab­wanderung der AfD-Delegation. Hierbei spielten insbesondere Zugänge aus der EVP-Fraktion, beispielsweise von italienischen Abgeordneten, die von Forza Italia zu Fra­telli d’Italia wechselten, und die durchaus umstrittene Aufnahme der rechts-natio­nalen Partei »Schwedendemokraten« eine Rolle. Auch in der nun ausgelaufenen 9. Wahlperiode (2019–2024) wuchs die EKR an: von zu Beginn 62 auf am Ende 69 Abgeordnete. Das lag vor allem am Wechsel italienischer Abgeordneter zu Fratelli d’Ita­lia (insgesamt 6 MEPs), aber auch am Wie­dereintritt der Partei »Die Finnen«, die nach Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine die ID-Fraktion verließen.

In der nun eröffneten 10. Wahlperiode speisen sich die aktuell 78 Abgeordneten aus insgesamt 23 nationalen Delegationen, von denen 11 bereits in den vorangegangenen Wahlperioden der EKR angehörten; bei 9 Delegationen handelt es sich um Parteien, die neu ins Parlament gewählt worden sind. Die litauische Bauernpartei kommt aus der Grünenfraktion, ein Abgeordneter aus Est­land wechselte von der ID zur EKR.

Insgesamt zeichnet sich die EKR mit Blick auf die sie tragenden Delegationen aus Italien, Polen und zum Teil auch Tsche­chien und auf die Nettoanzahl ihrer Ab­geordneten nach wie vor durch große Kon­tinuität aus, gerade im Vergleich zu der nun aufgelösten ID-Fraktion; zu großen Teilen besteht sie aber auch aus sehr klei­nen und neuen nationalen Delegationen. So stellen weniger als die Hälfte der natio­nalen Delegationen zwei oder mehr Ab­ge­ordnete. Daher muss auch in der 10. Wahl­periode weiterhin sowohl mit einigen Fluk­tuationen als auch mit Schwierigkeiten bei der Koordination der vielen kleinen Delega­tionen gerechnet werden.

Patrioten für Europa (PfE): Neue Allianz um Orbán und Le Pen

Die wohl überraschendste Wendung war der Zusammenschluss der ungarischen Fidesz, der österreichischen FPÖ und der tschechischen Partei ANO, die im Juni 2024 das Gründungsdokument der Fraktion Pa­trioten für Europa präsentierten. Wenige Tage später wurde bekannt, dass die große französische RN-Delegation sowie die bisher in der ID tonangebende, aber inzwischen geschwächte Lega ebenfalls der neuen Frak­tion angehören werden. In ihrem Manifest beschreiben die Parteien ein Europa, das ihrer Ansicht nach von undurchsichtigen Institutionen und nicht legitimierten Büro­krat:innen beherrscht wird, die letzt­lich versuchen würden, das Europa der Natio­nalstaaten durch einen »europäischen Superstaat« zu ersetzen. Im Sinne des ver­meintlich originären Europas der Nationen müssten demnach die Institutionen zurück­erobert und die europäische Politik grund­sätzlich neu ausgerichtet werden, um die Souveränität der Nationalstaaten wiederherzustellen. Im Fokus stehen darüber hin­aus die massive Begrenzung von Migration sowie die Bewahrung des aus ihrer Sicht grundlegenden jüdisch-christlichen euro­päischen Erbes.

Die aus dem Stand drittstärkste Fraktion im EP rekrutiert sich mehrheitlich aus den nationalen Delegationen der nun aufgelösten ID-Fraktion; nicht dabei sind die kurz vor der Wahl ausgeschlossene AfD und die tschechische, weit rechts außen stehende SPD (Svoboda a přímá demokracie [Freiheit und Direkte Demokratie]). Aus anderen Fraktionen konnten die Patrioten die aus der liberalen Renew-Fraktion ausgetretene ANO-Partei des tschechischen Politikers Andrej Babiš und die aus der EKR stammende spanische Vox gewinnen. Die auf nationaler wie europäischer Ebene gestärkte portugie­sische Partei Chega! (»Es reicht!«) sowie die Delegationen der lettischen Latvija pirmajā vietā (»Lettland zuerst«), der griechischen »Stimme der Vernunft« und des tschechischen Wahlbündnisses Přísaha a Motoristé (»Eid und Kraftfahrer«), die sämtlich neu im Parlament sind, schlossen sich der PfE-Fraktion an.

Die dominanten nationalen Delegationen werden in den nächsten Jahren voraus­sichtlich der französische Rassemblement National (RN; 30 Abgeordnete) und die un­garische Fidesz (11 Abgeordnete) sein, zu­mal sie mit Viktor Orbán eine direkte Stim­me im Europäischen Rat haben. Schwere Verluste erlitt die in der ID noch tonangebende Lega, die von zuletzt 22 auf nur noch 8 Mandate geschrumpft ist und den Staffel­stab an den RN abgeben muss.

Im Vergleich zur ID-Fraktion der letzten Legislaturperiode (59 Abgeordnete vor Aus­schluss der AfD) ist die PfE mit 84 Abgeordneten deutlich stärker. Anders als die EKR wiederum setzt sich die PfE aus lediglich 13, im Durchschnitt größeren nationalen Delegationen zusammen, was die interne Koordination vereinfachen könnte. Zudem war innerhalb der alten ID-Fraktion ins­besondere jene Trennlinie relevant, die ent­lang der außen- und sicherheitspolitischen Vorstellungen des RN auf der einen und der italienischen Lega auf der anderen Seite verlief. Während sich die Lega in der letz­ten Legislaturperiode betont konstruktiv verhielt, fuhr der RN einen dezidiert anti­westlichen und Ukraine-Unterstützung ab­leh­nenden Kurs (siehe SWP-Aktuell 8/2024). Im Zuge der Schwächung der Lega und der Aufnahme der ebenfalls antiwestlich agie­renden Fidesz-Partei dürfte in dieser Frage das Pendel zugunsten des Kurses von Marine Le Pen und Viktor Orbán zurückschlagen.

Noch bleibt abzuwarten, ob die PfE an­ders als die frühere ID-Fraktion mehr als ein Zweckbündnis sein und im Parlament ge­schlossener auftreten wird. Während von den Parteien der ID einzig die Lega an einer nationalen Regierung beteiligt war, rangiert die PfE in dieser Hinsicht knapp hinter der EKR – mit Viktor Orbáns Fidesz führt nun eine ihrer Parteien eine Regierung an, und nach der im Juli 2024 vollzogenen Neubil­dung der niederländischen Regierung ist neben der Lega in Italien eine weitere Partei an einer natio­nalen Regierung (Niederlande) beteiligt.

Europa der Souveränen Nationen (ESN) in der Fundamentalopposition

Schließlich bildete sich um die aus der ID ausgeschlossene AfD-Delegation die Frak­tion ESN. Als deren Gründungsdokument gilt gemeinhin die sogenannte »Sofia-Erklä­rung« vom April 2024. Ähnlich wie im Grün­dungsdokument der PfE-Fraktion wird darin das Narrativ von der »Diktatur einer nicht gewählten [EU-]Bürokratie« bemüht, die die nationale Souveränität der Mitgliedstaaten unterminieren würde, und die aus ESN-Sicht existentielle Krise Europas und die Be­drohung seiner Werte beschworen. Inhalt­liche Schwerpunkte sind: Bürokratieabbau, Zurückdrängung des vermeintlichen Ein­flusses multinationaler Konzerne und die Aufnahme von Friedensverhandlungen, um den Krieg in der Ukraine zu beenden. In Aus­richtung und Wortwahl sind sich das Mani­fest der Patrioten und die Sofia-Erklärung sehr ähnlich; die Trennlinie zwischen PfE und ESN bleibt insofern politisch unscharf.

Für die angebrochene 10. Legislatur­periode ist zu erwarten, dass die AfD-Dele­gation mit ihren 14 Abgeordneten die 25-köpfige Fraktion sowohl inhaltlich als auch personell dominieren wird. Die Bandbreite der ESN ist sehr groß: von einem rechts­konservativen französischen Abgeordneten der Reconquête über die selbst in Orbáns Ungarn als weit rechts außen und revisionistisch geltende Partei Mi Hazánk Mozga­lom (Unsere-Heimat-Bewegung) oder die ultranationalistische Partei Vazrazhdane (Wiedergeburt) aus Bulgarien bis hin zur tschechischen »SPD«, die in der Vergangenheit ein Referendum über den Austritt Tschechiens aus der EU durchsetzen wollte. An­gesichts dessen macht die Fraktion der­zeit den Eindruck, als fungiere sie als Auf­fangbecken für jene Rechtsausleger im EP, die aus diversen Gründen nicht Teil der EKR- oder der PfE-Fraktion geworden sind. Dabei verfügen nur drei der acht nationalen Delegationen (Bulgarien, Deutschland und Polen) über mehr als ein MdEP, was für die Fraktionsführung einen höheren Ko­ordi­nationsaufwand bedeuten dürfte.

Insbesondere die Frage, ob die Ukraine im Krieg gegen Russland weiter unterstützt werden sollte, könnte in der neuen Fraktion als Spaltkeil wirken. Während sich die AfD ebenso wie die bulgarische, slowakische und ungarische Delegation, die eine bemerkens­werte Nähe zu Russland verbindet, gegen eine Fortsetzung dieser Unterstützung aus­sprechen, sind die polnische und die litau­ische Delegation (insgesamt vier Abgeord­nete) eher dafür, die Unterstützung auf­rechtzuerhalten. Der politische Frieden in­ner­halb der Fraktion ist deshalb besonders relevant, weil die ESN von 25 Abgeordneten aus acht Mitgliedstaaten gebildet wird; da­mit liegt sie knapp über der Mindestgröße von 23 Abgeordneten aus sieben Mitgliedstaaten, die für den Fraktionsstatus erfor­derlich ist. Keine der ESN-Parteien ist bis­lang an einer nationalen Regierung beteiligt.

Möglichkeiten der Einfluss­nahme auf die EU-Politik

Der Fraktionsstatus bringt den nationalen Delegationen in der europaparlamenta­rischen Praxis entscheidende Vorteile. Das gilt insbesondere für die Verteilung von Schlüsselpositionen, wie etwa die Besetzung von Ausschussvorsitzen oder der für die Gesetzgebung zentralen Positionen als Berichterstatter:innen. Zwar können auch die fraktionslosen Mitglieder des EP gemein­same Kandidat:innen nominieren, die politische Praxis zeigt aber, dass die Wahr­scheinlichkeit eines Erfolgs solcher Nomi­nierungen gering ist.

Sollten sich PfE und ESN von der Frak­tionsneugründung Zugang zu genau diesen Spitzenpositionen versprochen haben, wäre ihr Kalkül nicht aufgegangen. Zu Beginn der Legislaturperiode werden die zentralen Positionen zwar rechnerisch nach Größe der Fraktionen verteilt, über die Besetzung wird aber jeweils abgestimmt. Obwohl die PfE drittgrößte Fraktion ist, hat ihr die Mehrheit im EP die Repräsentation im Prä­sidium des Parlaments und in den Vorsitzen aller Ausschüsse verwehrt. Dasselbe gilt für die ESN. Die EKR hingegen ist von diesem »cordon sanitaire« vollständig aus­genommen. Ihr wurden zwei Vize-Präsi­dent:innen im EP-Präsidium und drei Vorsitze von Ausschüssen zugesprochen, darunter die wichtigen Ausschüsse für Haushalt und Landwirtschaft.

Neben der Möglichkeit, Spitzenpositionen zu besetzen, genießen Fraktionen gegenüber fraktionslosen Abgeordneten weitere Vorteile. Diese betreffen etwa die Verteilung der Redezeit oder die Option, Anfragen mit der Möglichkeit der münd­lichen Beantwortung an die Kommission zu richten. Darüber hinaus verfügen die Fraktionen über deutlich mehr finanzielle Mittel und eine größere Autonomie bei der Ver­wendung jener Mittel, die ihnen aus dem Haushalt des EP zugewiesen werden.

Die EKR-Fraktion hat sich zwar nicht an der Wiederwahl von der Leyens beteiligt, könnte ihren politisch-institutionellen Ein­fluss in der angelaufenen Legislaturperiode jedoch ausbauen, falls sie sich als akzep­table Partnerin der EVP präsentiert.

Mit Blick auf den möglichen Einfluss der Patrioten für Europa wird neben dem Parla­ment vor allem dem Rat und dem Euro­päischen Rat beson­dere Aufmerksamkeit zu widmen sein. Denn in dem Bestreben, die Ratsformationen für sich zu nutzen, dürfte das eigent­liche Ziel der Neugründung lie­gen: Zwar wird bisher nur eine Regierung allein von einer PfE-Partei gestellt (jene Un­garns), doch ist in Italien die Lega bereits an der Regierung beteiligt, und in den Nieder­landen stellt die PVV von Geert Wilders zwar nicht den Ministerpräsidenten, der ein parteiloser Kompromisskandidat ist, hat als größte Partei jedoch massiven Einfluss in der regierenden Koalition. Im Vergleich zur nun aufgelösten ID sind mit Vox, ANO und Fidesz drei Parteien hinzugekommen, die Regierungsverantwortung haben oder darauf hoffen, sie nach den nächsten natio­nalen Parlamentswahlen zu erlangen. Das­selbe gilt für die FPÖ. Mittelfristig könnte dies für Viktor Orbán bedeuten, dass seine zunehmende Isolation im Europäischen Rat ge­mildert wird und er seinen Einfluss aus­bauen kann.

Der brüchige EU-»cordon sanitaire«

Obwohl die europäischen Rechtsaußen­fraktionen gespalten sind, stellt deren Rekonfiguration in der neuen EU-Legis­laturperiode für die etablierten Parteien eine zentrale Herausforderung dar. Hand­lungsfähigkeit und politische Orientierung der EU werden dadurch stark beeinflusst. Im Umgang mit dieser Herausforderung zeichnen sich drei Strategien ab:

Die erste Strategie ist eine klare Aus­grenzung: Für größere politische Weichenstellungen findet sich im EU-Parlament nach wie vor eine pro-europäische Mehr­heit der Mitte, an der die Fraktionen rechts außen nicht beteiligt sind. Für die Wiederwahl von Ursula von der Leyen als Kom­missionspräsidentin (benötigt wurden 360 Stimmen, gewählt haben sie 401 MdEPs) war allerdings bereits die Unterstützung von vier Fraktionen not­wendig (2019 waren es drei, bei der Wahl von Jean-Claude Jun­cker 2014 nur zwei Frak­tionen). Im Euro­päischen Rat hatten sich von Rechtsaußenparteien geführte Regierungen – unter Giorgia Meloni (Italien, EKR) und Viktor Orbán (Ungarn, PfE) – enthalten bzw. gegen das Personalpaket gestimmt; die tschechische Regierung von Ministerpräsident Petr Fiala, dessen Partei zum moderaten Flügel der EKR gehört, hat dagegen im Europäischen Rat für von der Leyen votiert. Für von der Leyen haben auch weitere natio­nale Regierungen gestimmt, an denen Rechts­außenparteien beteiligt sind, etwa jene Finnlands oder die der Niederlande.

In der Arbeit des Parlaments selbst nimmt als zweite Strategie ein differenzierter »cordon sanitaire« Gestalt an. Es steht zu erwarten, dass die EKR nach den Beschlüssen zur Besetzung der Vorsitze auch bei der künf­tigen Verteilung der Positionen von Berichterstatter:innen ihrer Größe entspre­chend beteiligt wird; PfE und ESN dürften hin­gegen außen vor bleiben. Vor allem innerhalb der EVP mehren sich die Stim­men, die auch für die Bildung von Mehr­heiten eine Zusammenarbeit mit der EKR fordern. Im jetzigen Parlament könnten EVP und EKR aber selbst durch Einbezie­hung der Renew-Fraktion – mit der es in wirtschaftspolitischen Fragen Überschneidungen gäbe – ohne PfE oder ESN keine eigenen Mehrheiten organisieren. Der EKR fällt insofern auch noch nicht die Rolle der »Königsmacherin« rechter Mehrheiten zu.

Im Verlauf der Legislaturperiode sind Veränderungen zwischen und innerhalb der Rechtsaußenfraktionen wahrscheinlich. Wechsel bis hin zu einem (Teil-)Zusammen­schluss sind ebenso möglich wie ein Zu­sammenbruch oder weitere Spaltungen der drei Fraktionen. Die EKR dürfte die stabilste der drei Fraktionen bleiben, während ins­besondere die ESN im Innern deutlich in­stabiler ist. Angesichts ihrer Zusammen­setzung ist von der PfE zudem nicht zu er­warten, dass sie geeinter auftritt als die frü­here ID-Fraktion, die selten mehr als ein Zweckbündnis war.

Einfluss von rechts außen im Rat

Am brüchigsten ist der »cordon sanitaire« jedoch im Rat und im Europäischen Rat, in dem nationale Regierungen unabhängig von ihrer parteipolitischen Zusammensetzung Kompromisse aushandeln. Die dritte Stra­tegie ist insofern die pragmatische Ein­bindung von Regierungen, die von Rechtsaußenparteien geführt oder an denen solche Parteien beteiligt sind. Im Jahr 2000 erklärten 14 der damals 15 EU-Staaten, »kei­nerlei offizielle bilaterale Kontakte auf politischer Ebene mit einer österreichischen Regierung unter Beteiligung der FPÖ [zu] betreiben oder [zu] akzeptieren«. Diese Zei­ten sind lange vorbei. Inzwischen wird die italienische Ministerpräsidentin Giorgia Meloni als zum Teil zentrale politische Akteurin auf EU-Ebene ebenso allgemein akzeptiert wie in bilateralen Beziehungen etwa zu Deutschland. Die Reaktion natio­naler Regierungen von EU-Mitgliedstaaten auf die Bildung einer Regierung unter Füh­rung der PVV (PfE, vorher ID) in den Nieder­landen ist geprägt von Pragmatismus. Auch die Mehrheit der Mitglieder der Renew-Frak­tion beschloss nach internen Beratungen, ihre niederländische Mitgliedspartei VVD nicht dafür zu sanktionieren, dass sie die unter Führung von Geert Wilders aus­gehandelte Regierungskoalition unterstützt.

Bei Entscheidungen im Rat/Europäischen Rat, die Einstimmigkeit erfordern, sitzen nun EKR- und PfE-Vertreter:innen mit am Tisch, die aufgrund ihres Veto-Rechts die Möglichkeit haben, etwa wichtige Initiativen in Belangen der Außen- und Sicherheits­politik zu behindern oder gänzlich zu blo­ckieren. Parteien der ESN sind bisher noch an keiner nationalen Regierung beteiligt.

Doch auch die für Verhandlungen im Rat so wichtige Blockademinderheit bei Abstimmungen mit qualifizierter Mehrheit ist in Sichtweite: Hierfür werden mindestens vier nationale Regierungen benötigt, die 35 Prozent der EU-Bevölkerung reprä­sentieren. Regierungen mit EKR- und/oder PfE-Beteiligung kommen derzeit nur auf 26,1 Prozent. Sollten im Laufe der aktuellen Legislaturperiode Rechtsaußenparteien in einem großen (z.B. Frankreich, Spanien) oder in mehreren mittelgroßen EU-Staaten an deren Regierungen beteiligt werden, würden sie auch bei Mehrheitsentscheidun­gen über eine Blockademinderheit und damit richtungsweisende Gestaltungsmacht verfügen. Ein Blick auf die vergangenen Legislaturperioden zeigt aber auch, dass offene Blockaden im Rat und im Euro­päischen Rat, selbst durch rechtsgerichtete Regierungen, äußerst selten sind. Meist werden Entscheidungen im Konsens getrof­fen und offene Konfrontationen vermieden. Darüber hinaus verfügt die EU durchaus über Möglichkeiten, mit blockierenden Mitgliedstaaten effektiv umzugehen, etwa indem sie Entscheidungen an ein Junktim knüpft oder unter Ausschluss der blockierenden Staaten selektiv zusammenarbeitet. Aller­dings wurden diese Taktiken bisher nur mit einer kleinen Zahl von Veto-Akteu­ren erprobt; würde die Zahl von Rechts­außenregierungen größer, dürfte die Wirk­samkeit dieser Optionen schwinden.

Wie groß der Einfluss von Rechtsaußenparteien auf die europäische Politik sein wird, wird sich insofern nicht im Euro­päi­schen Parlament entscheiden. Im Sinne des Wahlergebnisses dürften auch in der kom­menden Legislaturperiode Mehrheiten, die von der Unterstützung von Rechtsaußen­parteien abhängig sind, die absolute Aus­nahme bleiben – falls sie überhaupt zu­stande kommen. Auch wenn die Mehr­heitsbildung bei Beschlüssen über umstrit­tene Vorhaben schwieriger werden dürfte: Die Handlungsfähigkeit des Parlaments wird in dieser Legislaturperiode nicht durch Zu­gewinne und zusätzliche Fragmentierung im Rechtsaußenspektrum gefährdet sein.

Die strategische Herausforderung für Parteien der Mitte, insbesondere solche von Mitte-rechts, lässt sich so formulieren: Je intensiver sie versuchen, den »cordon sanitaire« auch gegenüber der EKR und gegenüber Regierungen aufrechtzuerhalten, an denen PfE-Parteien beteiligt sind, desto stärker begünstigen sie eine Annäherung zwischen EKR, PfE und ESN. Gleich­zeitig mehren sich innerhalb der EVP jene Parteien, die im eigenen Land mit Rechts­außenparteien koalieren und dafür auch auf EU-Ebene werben. Die Rechtsaußenfraktionen könnten ihrerseits versuchen, weiterhin ihr ohnehin bereits intensiv be­mühtes Opfernarrativ zu nutzen und die Erzählung einer »EU-Elite« fortzusetzen, die ihr Zu­gänge zu institutionellen und finan­ziellen Möglichkeiten verwehrt. Ein stär­kerer Einbezug der EKR aber hat das Poten­tial, die Spaltung im Rechtsaußenspektrum zu akzentuieren; gleichzeitig würde sie ihre In­halte gleichsam normalisieren und die Gren­zen nach rechts außen verwischen. Die Art und Weise, wie die EVP-Parteien diesen Balanceakt vollführen, wird maßgeblich darüber bestimmen, welchen Einfluss die Parteien von rechts außen haben.

Max Becker ist Forschungsassistent, Dr. Nicolai von Ondarza Leiter der Forschungsgruppe EU / Europa.

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