Immer mehr Menschen sind immer länger auf der Flucht. Dabei findet eine zunehmend größere Zahl von Menschen in Städten statt in Lagern Zuflucht. Das birgt zwar Chancen für lokale Integration, belastet aber die Stadtverwaltungen stark und entspricht selten den Wünschen der Regierungen von Aufnahmeländern, die meist eine Unterbringung in Lagern außerhalb von Städten bevorzugen. Auch humanitäre Organisationen – wie das Hohe Flüchtlingskommissariat der Vereinten Nationen (UNHCR) – sind mit urbanen Fluchtsituationen häufig überfordert. Angesichts dessen sollte sich die Bundesregierung anlässlich des ersten Globalen Flüchtlingsforums am 17./ 18. Dezember 2019 in Genf dafür einsetzen, dass bewährte Ansätze zur Unterstützung betroffener Städte angepasst und neue Ansätze geschaffen werden.
Ende 2018 waren 70,8 Millionen Menschen auf der Flucht. Seit Jahren steigt ihre Zahl an. Für die große Mehrheit von ihnen sind keine dauerhaften Lösungen in Sicht, Fluchtsituationen halten zusehends länger an. Während der humanitäre Bedarf steigt, reichen die zur Verfügung stehenden Mittel immer weniger aus, um die Bedürftigen zu versorgen. Zudem nimmt die Finanzierungsbereitschaft der Geberländer ab. So hat UNHCR gegen Ende 2019 erst weniger als die Hälfte der benötigten Mittel erhalten. Damit gerät auch die Praxis unter Druck, Menschen auf der Flucht in Lagern unterzubringen. Jahrzehntelang war es üblich, auf diese Weise humanitäre Hilfe zu leisten. Die Unterbringung in Lagern erleichterte die Versorgung der Menschen logistisch und organisatorisch ebenso wie die Koordination der beteiligten Hilfsorganisationen. Zweifellos werden Lager auch künftig in Notfällen genutzt werden müssen, um große Menschenmengen relativ schnell und geordnet mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen. Da sie aber auf längere Sicht hohe Kosten für die internationale Gebergemeinschaft verursachen und Zukunftsperspektiven für die Bewohnerinnen und Bewohner fehlen, bieten Lager keine nachhaltige Lösung.
Dass sie dennoch weiterhin errichtet werden, liegt vor allem am Interesse der Aufnahmeländer, Flüchtlinge und Binnenvertriebene an einem Ort zu halten und ihre Bewegungsfreiheit zu begrenzen. Dahinter steht oft auch der Wunsch, zu verhindern, dass diese Menschen mit der lokalen Bevölkerung zusätzlich um Arbeitsplätze, Wohnraum oder natürliche Ressourcen wie Land und Wasser konkurrieren. Risiken wie eine Ausbreitung von Gewaltkonflikten (z.B. als Folge der Anwesenheit bewaffneter Kämpfer) sollen durch die Unterbringung in Lagern ebenfalls reduziert werden. Die Geschichte zeigt jedoch, dass es für die erhofften Wirkungen kaum Garantien gibt: In den 1980er Jahren zum Beispiel nutzten bewaffnete afghanische Widerstandskämpfer »Flüchtlingsdörfer« in Pakistan als Basis ihrer Operationen. Neuere Forschungsergebnisse weisen zudem darauf hin, dass gerade die Unterbringung in Lagern lokale Konflikte verursachen kann.
Flüchtlinge bevorzugen Städte
Auch wenn viele Aufnahmeländer großes Interesse haben, Flüchtlinge und Binnenvertriebene in Lagern unterzubringen, die von ihnen selbst oder internationalen Organisationen verwaltet werden: Weltweit nimmt der Anteil von Menschen auf der Flucht ab, die in Lagern leben. Inzwischen kommen schätzungsweise nur noch 30 Prozent in Lagern unter. Allerdings liegen lediglich für etwa die Hälfte der 20 Millionen Flüchtlinge weltweit Informationen über deren Unterbringung vor. Mittlerweile dürfte ungeachtet dessen die Mehrheit der Flüchtlinge in städtischen und stadtnahen Gebieten Zuflucht finden – UNHCR rechnet mit einem Anteil von über 60 Prozent. Bei den 40 Millionen Menschen, die im eigenen Land vertrieben wurden, beläuft sich der Anteil der in Städten Untergekommenen auf bis zu 80 Prozent.
Menschen auf der Flucht ziehen (Groß-) Städte zum einen vor, weil deren Anonymität mehr Schutz vor Verfolgung und leichteren Zugang zu Diasporanetzwerken verspricht, zum anderen weil sie sich Arbeitsplätze und bessere Schulbildung oder Gesundheitsversorgung erhoffen. Ihre Bewegungsfreiheit ist außerhalb eingezäunter Lager mit Zugangskontrollen auch weniger eingeschränkt. In Städten lässt sich der Wunsch vieler Menschen auf der Flucht nach mehr Rechten und mehr Freiheiten eher verwirklichen.
Städte als Akteure in Fluchtkrisen
Dass es Menschen auf der Flucht mehr und mehr in Städte zieht, steht im Einklang mit einem breiteren Trend der Urbanisierung: Bis zum Jahr 2050 werden 6,7 Milliarden (68 Prozent) der Weltbevölkerung in Städten leben (derzeit sind es 4,2 Milliarden [55 Prozent]). Laut Prognosen der VN-Hauptabteilung für wirtschaftliche und soziale Angelegenheiten (UN DESA) wird diese Entwicklung nahezu ausschließlich durch das Wachstum von Städten in Schwellen- und Entwicklungsländern getrieben – sie sind auch die Hauptaufnahmeländer für die weltweit insgesamt 70 Millionen Menschen auf der Flucht. Betroffene Stadtverwaltungen in Entwicklungsländern sind insofern doppelt gefordert: Abgesehen von der generellen Urbanisierung müssen sie in Fluchtsituationen sowohl den unmittelbaren Notfall wie auch den längerfristigen Umgang mit den Flüchtlingen und ihre Integration bewältigen. Auch dort, wo keine Integration gewünscht oder möglich ist, sind es städtische Strukturen, die öffentliche Güter und Basisdienstleistungen bereitstellen. Dies beansprucht aber gerade in Entwicklungsländern die ohnehin knappen Ressourcen von Städten und übersteigt in der Regel ihre personellen und finanziellen Kapazitäten. Daher benötigen sie internationale Unterstützung.
Herausforderungen für internationale Helfer
Die international für humanitäre Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit (EZ) Verantwortlichen haben diese Herausforderung erkannt, doch fällt es ihnen schwer, sich auf urbane Kontexte einzustellen. UNHCR hat erst im Jahr 2009 eine entsprechende Leitlinie erarbeitet und 2014 mit der »Policy on Alternatives to Camps« seine Präferenz für Lager aufgegeben. Gleichwohl fehlen UNHCR Instrumente, um Städte systematisch bei der Aufnahme von Flüchtlingen zu unterstützen.
Die Unübersichtlichkeit von Städten und die für humanitäre Akteure oft ungewohnte Notwendigkeit, mit städtischen Verwaltungen zusammenzuarbeiten, sind für diese Schwierigkeiten mitverantwortlich. Zudem führt die mangelnde Verzahnung humanitärer und entwicklungspolitischer Programme dazu, dass vielfach Parallelsysteme aufgebaut werden, statt städtische Kapazitäten zu stärken. Mobile Kliniken von Hilfsorganisationen beispielsweise verbessern in Notfällen zwar die Gesundheitsversorgung kurzfristig, tragen aber nicht dazu bei, dass die gesamte Bevölkerung nachhaltig besser versorgt wird. Ähnliches gilt für die Versorgung mit Wasser, Wohnraum oder für die Müllabfuhr. Menschen auf der Flucht sind zudem nicht immer als solche registriert und lassen sich nur schwer von der (armen) Stadtbevölkerung unterscheiden. Humanitäre Organisationen wie UNHCR sind häufig daran gebunden, ihre Hilfsleistungen nicht nach Bedürftigkeit zu gewähren, sondern nach Status (z.B. für Flüchtlinge). Auch das erschwert es, die Unterstützungsmaßnahmen so zu gestalten, dass die (städtische) Aufnahmegesellschaft ebenfalls profitieren kann. Wichtig wäre daher, Städte situationsbezogen zu unterstützen und bei der Hilfe stets zu berücksichtigen, wie sich die städtischen Verwaltungskapazitäten stärken lassen und welchen Bedarf die Städte im jeweiligen Kontext haben. Dies mag zeitaufwändig sein, ist aber angesichts der zunehmenden Dauer von Fluchtsituationen durchaus lohnend.
Bewährte Ansätze anpassen
UNHCR und andere VN-Organisationen können diese Herausforderung nicht allein bewältigen. Gemeinsam mit Akteuren der Entwicklungszusammenarbeit sollten sie betroffene Städte oder Stadtteile frühzeitig identifizieren und gezielt unterstützen. Dafür müssen einerseits Geber darauf achten, dass ihre Finanzierungsvorgaben Hilfsmaßnahmen für Menschen auf der Flucht und die aufnehmende Stadtbevölkerung gleichermaßen zulassen. Andererseits müssen bewährte Methoden und Instrumente an Fluchtkontexte angepasst werden. Drei von ihnen erscheinen besonders relevant.
Erstens tragen Bargeldtransfers in humanitären Notlagen dazu bei, dass Betroffene sich selbst bedarfsgerecht versorgen können und Handlungsfähigkeit und Würde zurückerhalten. Für die Hilfsorganisationen entfällt teure Logistik (z.B. für Kauf, Lagerung und Verteilung von Nahrungsmitteln), und anstatt lokale Märkte und Preise mit Gratislebensmitteln zu verzerren, werden Handelsaktivitäten vor Ort belebt und vorhandene Strukturen eher gestärkt. In Fluchtsituationen ist es wichtig, die arme lokale Bevölkerung einzubeziehen, um sozialen Spannungen vorzubeugen. Außerdem ist es sinnvoll, die Hilfe mit mittel- und langfristigen Ansätzen wie Mikrokrediten, weiteren Finanzdienstleistungen oder beruflicher Bildung zu verknüpfen, um Perspektiven zu schaffen.
Zweitens bieten gebietsbezogene Ansätze (»area-based approaches«) den Vorteil, dass anstelle einer Zielgruppe (z.B. Binnenvertriebene) oder eines Sektors (z.B. Wasser- und Sanitärversorgung) ein bestimmtes Gebiet wie ein Stadtviertel umfassend mit Hilfsleistungen unterstützt wird. Lokale Behörden und die ansässige Bevölkerung müssen dabei eng beteiligt werden, um Erfolg und Nachhaltigkeit zu sichern und die lokale Verwaltung zu stärken. Gleichzeitig kann so Konflikten vorgebeugt werden, die entstehen können, wenn zum Beispiel Flüchtlinge humanitäre Hilfe erhalten, die arme lokale Bevölkerung aber nicht. Auf diese Weise lassen sich gezielt jene Städte oder Stadtteile unterstützen, die stärker als andere von Fluchtbewegungen betroffen sind. Neben begleitenden Informations- und Kommunikationskampagnen sind niedrigschwellige lokale Angebote für Streitschlichtung und Mediation dabei ebenso wichtig wie die Abstimmung mit stadt- oder landesweiten Programmen.
Drittens sollten Bürgermeister und Bürgermeisterinnen aufnehmender Städte größeren politischen und fiskalischen Handlungsspielraum erhalten. Je dezentralisierter ein Land ist, desto realistischer lassen sich Kompetenzen verlagern und ausbauen, die die lokale Integration von Menschen auf der Flucht fördern. Aber auch in zentralisierten Staaten können Kapazitäten betroffener Stadtverwaltungen langfristig aufgebaut werden, eventuell kombiniert mit der Unterstützung von Dezentralisierungsprozessen.
Fazit
Städte sind als Erste für die Bewältigung von Fluchtsituationen zuständig und wollen Güter wie Unterkunft oder die Versorgung mit Wasser oder Gesundheitsleistungen schon aus Eigeninteresse zur Verfügung stellen. Dafür benötigen sie internationale Unterstützung. Um von Fluchtkrisen betroffene Städte in Entwicklungsländern wirksam und nachhaltig bei der Aufnahme und Integration von Menschen auf der Flucht zu unterstützen, ist die Orientierung an ihrem Bedarf und ihren Ressourcen zentral. Die skizzierten Ansätze haben sich bereits bewährt, müssen aber an die jeweiligen Kontexte angepasst und auf ihre Eignung geprüft werden: Bargeldtransfers etwa sind nur dort erfolgreich, wo es Lebensmittel zu kaufen gibt. Sind diese knapp, sollten Lebensmittellieferungen in Betracht gezogen werden. Neben den Kapazitäten der städtischen Verwaltungen sollten internationale Hilfsakteure auch mögliche Risiken berücksichtigen, beispielsweise mangelhafte demokratische Legitimation von Stadtverwaltungen, unzureichende Rechenschaftslegung gegenüber der Bevölkerung oder gar eine aktive Beteiligung an Gewaltkonflikten.
Trotz ihrer Bedeutung wird Städten in den weitgehend staatenzentrierten globalen Politikprozessen wie dem Ende 2018 erarbeiteten Globalen Flüchtlingspakt der Vereinten Nationen keine zentrale Rolle zugewiesen. Beim ersten Globalen Flüchtlingsforum im Dezember 2019 in Genf werden Städte aller Voraussicht nach nicht ausreichend vertreten sein. Die Bundesregierung sollte sich dafür einsetzen, dass der Anspruch des Multi-Akteur- und Partnerschaftsansatzes künftig auch durchgesetzt wird. Dafür müssen bestehende transnationale Städtenetzwerke systematischer einbezogen werden. Diese Foren werden häufig durch Städte aus (Industrie-)Staaten geprägt. Kaum vernommen wird dagegen die Stimme von Stadtverwaltungen aus Entwicklungsländern, die ungleich stärker betroffen sind. Das gilt besonders für Verwaltungen jenseits der häufig im Fokus stehenden Hauptstädte. Ihnen sollte eine Teilnahme an entsprechenden Foren und Austauschprogrammen durch Reisezuschüsse und Stipendien ermöglicht werden. Trotz bzw. gerade wegen ihrer Unterschiedlichkeit bergen der Austausch und die Zusammenarbeit von Städten aus Entwicklungs- und Industrieländern großes Potenzial.
Von Flucht betroffene Städte sollten im Dickicht des bisweilen unübersichtlichen Gemenges von Netzwerken und Fördermöglichkeiten besser beraten und unterstützt werden. Zudem sollten ihnen bei Bedarf ein passendes Bündel von Maßnahmen angeboten und kurzfristig zusätzliche Verwaltungsexpertinnen und ‑experten bereitgestellt werden. Die Entscheidung darüber, ob dafür eine neue Koordinierungsstelle (etwa im Rahmen des neuen VN-Migrationsnetzwerks) oder bestehende Strukturen (wie der Weltverband der Kommunen – »United Cities and Local Governments«, UCLG) besser geeignet sind, muss sich daran orientieren, was betroffenen Städten am besten hilft.
David Kipp ist Wissenschaftler, Nadine Biehler ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Globale Fragen. Dieses Aktuell wurde verfasst im Rahmen des vom Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung geförderten Projekts »Flucht, Migration und Entwicklung – Herausforderungen und Handlungsmöglichkeiten für deutsche und europäische Politik«.
© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2019
Alle Rechte vorbehalten
Das Aktuell gibt die Auffassung des Autors und der Autorin wieder.
SWP-Aktuells werden intern einem Begutachtungsverfahren, einem Faktencheck und einem Lektorat unterzogen. Weitere Informationen zur Qualitätssicherung der SWP finden Sie auf der SWP-Website unter https://www. swp-berlin.org/ueber-uns/ qualitaetssicherung/
SWP
Stiftung Wissenschaft und Politik
Deutsches Institut für Internationale Politik und Sicherheit
Ludwigkirchplatz 3–4
10719 Berlin
Telefon +49 30 880 07-0
Fax +49 30 880 07-100
www.swp-berlin.org
swp@swp-berlin.org
ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2019A67