Vor einem Jahr rief die Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) eine »Decade of Action« für die 2030-Agenda und die Ziele für nachhaltige Entwicklung aus. Der Ausbruch der Covid-19-Pandemie zwang die UN, ihre Planungen für 2020 anzupassen. UN-Generalsekretär António Guterres reagierte bereits im März mit einem Bericht, der die 2030-Agenda zur »Roadmap« aus der Pandemie erklärte. Konflikte unter den UN-Mitgliedstaaten behinderten hingegen zunächst eine rasche Reaktion der Generalversammlung und des Sicherheitsrats. Seit Mitte März wird überwiegend in digitalen Formaten gearbeitet, das galt selbst für die Eröffnung der 75. Generalversammlung durch die Staats- und Regierungschefs. Welche Leistungsfähigkeit beweist die Weltorganisation im Jahr der Pandemie, insbesondere mit Blick auf das im Kontext der 2030-Agenda entwickelte neue Leitmotiv »Build Back Better«?
Bei der Analyse der Stärken und Schwächen der UN wird unterschieden zwischen den UN (Plural) als intergouvernementale Versammlung der Mitgliedstaaten (die »erste UN«) und der UN (Singular) als Apparat der Sekretariate (die »zweite UN«). Als »dritte UN« bezeichnen einige Experten die informellen Netzwerke assoziierter staatlicher und nichtstaatlicher Institutionen und Akteure.
Die UN gelten als erfolgreich darin, globale Normen zu setzen. Das beginnt bei der UN-Charta selbst und gilt für verbindliche Abkommen wie die Menschenrechtspakte oder das Pariser Klimaabkommen ebenso wie für rechtlich nicht bindende Vereinbarungen wie die 2030-Agenda mit ihren 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs). Allerdings ist die Sprache von UN-Dokumenten oft bewusst vage gehalten, so dass Spielräume für die Interpretation der Umsetzungsdetails bleiben. Hier kann die zweite Stärke der UN greifen, ihre »convening power«: Im Rahmen formeller und informeller Treffen bietet die UN ihren Mitgliedstaaten Gelegenheit, sich über die Interpretation und Umsetzung der Normen auszutauschen, gemeinsame Initiativen anzustoßen oder Überprüfungsprozesse einzuleiten. Hier wird jedoch zugleich eine zentrale Schwäche sichtbar: Letztlich ist die UN auf freiwillige Beiträge ihrer Mitglieder oder anderer Akteure angewiesen. Anreize stehen ihr kaum zur Verfügung, harte Sanktionen ohnehin nur dem Sicherheitsrat.
Souveränität vor Multilateralismus
Ausgerechnet im Geburtstagsjahr musste wegen der Pandemie die Eröffnung der 75. UN-Generalversammlung am 22. September digital stattfinden. Nur eine Vertreterin bzw. ein Vertreter jedes Mitgliedstaats durfte persönlich in der großen Halle teilnehmen. Angesichts der 14-tägigen Quarantäne, in die sie sich hätten begeben müssen, waren keine Staats- und Regierungschefs angereist, ihre Redebeiträge waren vorab aufgezeichnet worden.
Der UN-Generalsekretär beklagte die multiplen systemischen Krisen, unter denen die Welt leide, wobei die Pandemie vorhandene Fragilitäten noch verstärke. Gleichzeitig verhinderten geostrategische Konflikte multilaterale Kooperation, obwohl diese angesichts der Pandemie und der Klimakrise nötiger sei denn je. Ähnlich listet die von der Generalversammlung am Vortag verabschiedete Erklärung (A/Res/75/1) zum 75. Jubiläum der UN eine Reihe enttäuschender Entwicklungen auf, die ein effektiveres Handeln der UN erfordert hätten. Daher gelte: »Wir sind nicht hier, um zu feiern, sondern um zu handeln.« In der Erklärung bestätigen die Mitgliedstaaten, dass die UN immer dann am erfolgreichsten agiert habe, wenn die Mitglieder hinreichend politischen Willen gezeigt und Ressourcen eingebracht hätten. Allerdings führt dieselbe Erklärung zwölf Selbstverpflichtungen auf, die unverbindlich bleiben – genau dafür hatten einzelne Mitgliedstaaten bei den Verhandlungen über das Dokument gesorgt. Der Generalsekretär wird lediglich aufgefordert, Empfehlungen zu erarbeiten, wie die »gemeinsame Agenda« umgesetzt werden könne.
Während diese Art der impliziten Ausbremsung schon länger üblich ist, waren die Ansagen beim Auftakt der diesjährigen Generaldebatte deutlich expliziter: Die ersten Staats- und Regierungslenker, die nach Guterres sprachen, betonten nicht nur die Souveränität ihres Landes und den Vorrang nationaler Interessen, sondern auch ganz ausdrücklich ihren Willen, primär uni- und bilateral zu handeln.
Präsident Bolsonaro – der Repräsentant Brasiliens spricht traditionell zuerst – machte deutlich, dass er für die Bewältigung der Pandemie auf Technologie- und Innovations-Partnerschaften mit denjenigen Ländern setze, die Brasiliens Souveränität respektieren. So verbat er sich die »brutale Desinformationskampagne« über Brasiliens Umgang mit dem Amazonas-Regenwald.
Die UN-Botschafterin der USA, Kelly, pries in ihrer Ankündigung des US-Präsidenten dessen diplomatische Errungenschaften im Hinblick auf Israel, Nordkorea, Syrien und Afghanistan. US-Präsident Trump bilanzierte, Erfolge habe in den letzten Jahren vor allem die US-Politik erzielt, nicht etwa die »failed approaches of the past« – zumindest indirekt kritisierte er damit auch die Aktivitäten der UN. Trump legte den anderen Staats- und Regierungschefs sein Motto »my country first« nahe, denn diese Maxime sei die einzig wahre Grundlage für Kooperation.
China wiederum nutzte die Chance, eine neue Art von Multilateralismus zu propagieren. Präsident Xi lehnte jegliche Politisierung der Pandemie ab (Trump hatte das Land beschuldigt, die Welt mit dem »China-Virus« überflutet und die Weltgesundheitsorganisation kontrolliert zu haben) und erklärte Chinas Motto: »put people and life first«. China unterstütze vor allem die armen Länder in ihrem Kampf gegen Covid-19 und für Entwicklung. Er betonte die chinesische Unterstützung für »win-win cooperation« und »shared benefits«, ein Kampf der Kulturen und ideologische Einmischung solle dabei vermieden werden. Xi ließ unerwähnt, dass auch China diese Kooperation primär auf Basis bilateraler Verträge betreibt.
Spätere Sprecher in der Generaldebatte unterstützten die UN, wie etwa Frankreichs Präsident Macron oder der Präsident des Europäischen Rates Michel. Dennoch verdeutlichen diese ersten Statements: Die Mitgliedstaaten der UN (die erste UN) sind zutiefst uneins, viele Gremien und Prozesse infolgedessen blockiert. Dieser Umstand sollte bei Debatten über UN-Reformen nicht aus dem Blick geraten.
Nachteile digitaler UN-Formate
Die Pandemie verstärkt diese Probleme noch, denn sie schwächt massiv die »convening power« der UN und beeinträchtigt die Arbeitsweise der Mitgliedstaaten. Im Laufe des Jahres war deutlich geworden, dass zwischenstaatliche Verhandlungen im digitalen Format schwierig sind. So hatte es viel Zeit und Kraft gekostet, im Sicherheitsrat eine Resolution zur Fortsetzung grenzüberschreitender Hilfslieferungen nach Syrien auszuhandeln; das Ergebnis war ein Minimalkompromiss. Es fehlt die Möglichkeit informeller persönlicher Begegnungen der Diplomatinnen und Diplomaten. Diese Gespräche sind aber wichtig, um Verhandlungen voranzubringen oder gemeinsame Aktionen zur Realisierung beschlossener Ziele zu initiieren. Oft ermöglichen informelle Absprachen und Tauschgeschäfte erst den Konsens, der für Resolutionen und Abkommen nötig ist. Der Austausch mit nichtstaatlichen Akteuren kann Einsichten jenseits offizieller Berichte vermitteln und inspiriert Positionen und Interventionen in den Debatten und Verhandlungen.
Online-Abstimmungen sind nur für den Sicherheitsrat zugelassen. Das war ein Grund dafür, warum im Juli die Verhandlungen über das Abschlussdokument des Hochrangigen Politischen Forums zu nachhaltiger Entwicklung (HLPF 2020) scheiterten. Im Rahmen des Forums fand das erste voll digitale UN-Treffen mit universeller Beteiligung, auch nationaler Delegationen, nach Beginn des Lockdowns statt. Während es dem UN-Sekretariat gut gelang, Panels und Berichtsprozesse zu den SDGs digital zu organisieren, scheiterten die Mitgliedstaaten trotz wochenlanger Verhandlungen daran, sich auf eine Ministererklärung zu einigen. Weder innerhalb der Verhandlungsgruppen noch zwischen ihnen gelang es, für alle akzeptable Kompromisse auszuhandeln. Bereits in den Vorjahren hatte es dabei zunehmend Probleme gegeben; eine Ministererklärung konnte bis dahin jedoch am Ende des HLPF per Abstimmung verabschiedet werden. Dieser Weg war nun versperrt, und so endete das HLPF 2020 ohne die mandatierte Erklärung. Damit verzichteten die Mitgliedstaaten auf das, was sie selbst dem Forum als zentrale Aufgabe vorgegeben haben: eine politische Führungsrolle wahrnehmen, Orientierungshilfe geben und Empfehlungen zur Weiterverfolgung erteilen. Zwar war das digitale Format für diese Unzulänglichkeiten nicht allein verantwortlich, es erschwerte jedoch die ohnehin komplizierte Suche nach Kompromissen bzw. erleichterte es, deren Findung zu sabotieren.
Informelle Formate und Koalitionen
In Anbetracht der Krise der »ersten UN« raten Experten zu innovativen, flexiblen und gegebenenfalls dezentralen Formaten. In vielen Papieren, beispielsweise der Elders oder des Stimson Centers, wird eine bessere Zusammenarbeit mit denjenigen staatlichen und nichtstaatlichen Akteuren empfohlen, die bereit sind, die UN mit Ideen und Taten zu unterstützen.
Tatsächlich versucht die UN schon länger, das Potential von informellen Formaten und Koalitionen der Willigen zu nutzen. Zur Eröffnung der Generalversammlung lud die UN beispielsweise beim »SDG Moment«, der »SDG Action Zone«, der »Global Goals Week« oder mittels digitaler Plattformen interessierte Staaten, sub- und nichtstaatliche Stakeholder ein, die Aktivitäten vorzustellen, mit denen sie die SDGs zu erreichen versuchen. Allerdings hat die UN meist weder das Mandat noch die Mittel dafür, die Ergebnisse nachzuhalten oder zielführend mit multilateralen Prozessen zu verbinden. Das birgt die Gefahr eines Aktivismus, mit dessen Hilfe zwar Unterstützung mobilisiert wird. Doch der Nutzen ist bislang begrenzt, und von Kritikern wird auch die Legitimität unter Verweis auf die UN als zwischenstaatliche Organisation infrage gestellt.
Gleichzeitig ist es der zweiten UN aber durchaus gelungen, ihre Kontakte zur gesellschaftlichen Basis über Öffentlichkeitsarbeit zu stärken. Anfang des Jahres hatte der UN-Generalsekretär die »UN75«-Initiative gestartet, um die Prioritäten der Menschen und ihre Erwartungen an die UN besser zu verstehen. Die Kampagne umfasste eine Online-Umfrage, an der sich weltweit mehr als eine Million Menschen beteiligten, rund eintausend lokale Dialoge, zwei Meinungsumfragen, eine Medien-Analyse in 70 Ländern sowie eine Auswertung wissenschaftlicher Beiträge. Der Bericht »The Future We Want – The UN We Need« stellt die Ergebnisse vor: Die Befragten sahen den Zugang zu grundlegenden Dienstleistungen (Gesundheitsfürsorge, Wasser- und Sanitärversorgung, Bildung) als prioritäre Aufgabe in der Pandemie. Gleichzeitig war die Mehrheit von ihnen am meisten besorgt über die künftigen Auswirkungen des Klimawandels und der Umweltzerstörung, mehr noch als über Gesundheitsrisiken oder bewaffnete Konflikte und politische Gewalt. Um die UN effektiver zu machen, unterstützen die Beteiligten unter anderem eine intensivere Zusammenarbeit mit zivilgesellschaftlichen Netzwerken, Jugendlichen, Frauen und lokalen Regierungen. In einer Erklärung hat ein breites Bündnis zivilgesellschaftlicher Organisationen dazu weitere Vorschläge unterbreitet, unter anderem einen Focal Point im UN-Sekretariat für die Zivilgesellschaft oder einen globalen Petitionsmechanismus. Das Problem ist: Ohne Unterstützung der Mitgliedstaaten wird die UN diese Vorschläge nicht in die Tat umsetzen können.
Build Back Better – auch die UN
Die »drei UNs« haben sich in der Krise unterschiedlich gut geschlagen: Der UN-Generalsekretär hat mittlerweile eine umfassende Reaktion des gesamten UN-Systems zur Pandemie organisiert. Obwohl seit Monaten im Home Office, war das UN-Sekretariat in der Lage, viele Prozesse und auch das Leitthema »Build Back Better« (bzw. jüngst »Recover Better«) weiterzuentwickeln. Nun müssten sich UN-Mitgliedstaaten finden, die vorangehen und das neue Leitmotiv mit Leben erfüllen. Die Reaktionen der Staaten auf die Pandemie zeigen (jenseits von Empfehlungen oder Einzelbeispielen) bislang nicht, dass Regierungen Nachhaltigkeit zu einem zentralen Kriterium ihrer Antwort machen. Deutschland sollte sich dafür einsetzen, dass der Europäische Aufbauplan, der zur Bewältigung der Pandemie-Folgen ausgearbeitet wird, viel stärker mit dem Green Deal der EU und den SDGs verknüpft wird.
Auch die »Allianz für den Multilateralismus« hat bei einem Ministertreffen im September ihren Einsatz für »Building Back Better« beschworen. Eine spezifische Initiative wurde jedoch nicht vorgestellt. Die Mitglieder der Allianz könnten gemeinsam mit Partnern erarbeiten, wie sie ihre Investitionen, Konjunkturpakete und Entwicklungsprogramme so ausgestalten, dass sie eine nachhaltigere, klimafreundlichere und resilientere Entwicklung fördern.
Beim Treffen wurde der Access to COVID-19 Tools Accelerator (ACT-A) positiv hervorgehoben. Diese Multi-Stakeholder-Initiative arbeitet darauf hin, Menschen weltweit und möglichst rasch Zugang zu Tests, Behandlungen und Impfungen zu verschaffen. ACT‑A ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Zusammenarbeit mit der »dritten UN« Schwächen multilateraler Governance kompensieren kann. Das Beispiel zeigt aber auch, dass dies nur gelingen wird, wenn hinreichend politische und materielle Unterstützung aufgeboten wird. Und den Multilateralismus stützt es dann, wenn die UN maßgeblich eingebunden ist. So hat die Weltgesundheitsorganisation bei ACT‑A eine führende Rolle.
Prinzipiell sollte die Allianz ihre Initiativen strategisch so entwickeln, dass diese Blockaden in der ersten UN überwinden helfen und UN-Prozesse nicht verlagert, sondern gestärkt werden. Gleichzeitig sollten sie sich dafür engagieren, die zweite UN in die Lage zu versetzen, derartige Initiativen kompetent zu begleiten. Vertrauen in einen UN-geführten vernetzten Multilateralismus aufzubauen könnte ein Schritt auf dem Weg sein zu den UN, die wir brauchen für die Zukunft, die wir wollen.
Dr. Marianne Beisheim ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Globale Fragen.
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doi: 10.18449/2020A90