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UN@75: Weder versammelt noch vereint

Die UN, die wir brauchen für die Zukunft, die wir wollen

SWP-Aktuell 2020/A 90, 09.11.2020, 4 Pages

doi:10.18449/2020A90

Research Areas

Vor einem Jahr rief die Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) eine »Decade of Action« für die 2030-Agenda und die Ziele für nachhaltige Entwicklung aus. Der Ausbruch der Covid-19-Pandemie zwang die UN, ihre Planungen für 2020 anzupassen. UN-Generalsekretär António Guterres reagierte bereits im März mit einem Bericht, der die 2030-Agenda zur »Roadmap« aus der Pandemie erklärte. Konflikte unter den UN-Mitgliedstaaten behinderten hingegen zunächst eine rasche Reaktion der General­versammlung und des Sicherheitsrats. Seit Mitte März wird überwiegend in digitalen Formaten gearbeitet, das galt selbst für die Eröffnung der 75. Generalversammlung durch die Staats- und Regierungschefs. Welche Leistungsfähigkeit beweist die Welt­organisation im Jahr der Pandemie, insbesondere mit Blick auf das im Kontext der 2030-Agenda entwickelte neue Leitmotiv »Build Back Better«?

Bei der Analyse der Stärken und Schwächen der UN wird unterschieden zwischen den UN (Plural) als intergouvernementale Ver­sammlung der Mitgliedstaaten (die »erste UN«) und der UN (Singular) als Apparat der Sekretariate (die »zweite UN«). Als »dritte UN« bezeichnen einige Experten die infor­mellen Netzwerke assoziierter staatlicher und nicht­staatlicher Institutionen und Akteure.

Die UN gelten als erfolgreich darin, globale Normen zu setzen. Das beginnt bei der UN-Charta selbst und gilt für verbindliche Abkommen wie die Menschenrechtspakte oder das Pariser Klimaabkommen ebenso wie für rechtlich nicht bindende Vereinbarungen wie die 2030-Agenda mit ihren 17 Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDGs). Allerdings ist die Sprache von UN-Doku­menten oft bewusst vage gehalten, so dass Spielräume für die Interpretation der Um­setzungsdetails bleiben. Hier kann die zweite Stärke der UN greifen, ihre »con­vening power«: Im Rahmen formeller und informeller Treffen bietet die UN ihren Mitgliedstaaten Gelegenheit, sich über die Interpretation und Umsetzung der Normen auszutauschen, gemeinsame Initiativen anzustoßen oder Überprüfungsprozesse einzuleiten. Hier wird jedoch zugleich eine zentrale Schwäche sichtbar: Letztlich ist die UN auf freiwillige Beiträge ihrer Mit­glieder oder anderer Akteure angewiesen. Anreize stehen ihr kaum zur Verfügung, harte Sanktionen ohnehin nur dem Sicher­heitsrat.

Souveränität vor Multilateralismus

Ausgerechnet im Geburtstagsjahr musste wegen der Pandemie die Eröffnung der 75. UN-Generalversammlung am 22. Sep­tem­ber digital stattfinden. Nur eine Ver­treterin bzw. ein Vertreter jedes Mitglied­staats durfte persönlich in der großen Halle teilnehmen. Angesichts der 14-tägigen Qua­rantäne, in die sie sich hätten begeben müs­sen, waren keine Staats- und Regierungschefs angereist, ihre Redebeiträge waren vorab aufgezeichnet worden.

Der UN-Generalsekretär beklagte die mul­tiplen systemischen Krisen, unter denen die Welt leide, wobei die Pandemie vorhandene Fragilitäten noch verstärke. Gleichzeitig ver­hinderten geostrategische Konflikte multi­laterale Kooperation, obwohl diese ange­sichts der Pandemie und der Klimakrise nötiger sei denn je. Ähnlich listet die von der Generalversammlung am Vortag ver­abschiedete Erklärung (A/Res/75/1) zum 75. Jubiläum der UN eine Reihe enttäuschen­der Entwicklungen auf, die ein effektiveres Handeln der UN erfordert hätten. Daher gelte: »Wir sind nicht hier, um zu feiern, sondern um zu handeln.« In der Erklärung bestätigen die Mitgliedstaaten, dass die UN immer dann am erfolgreichsten agiert habe, wenn die Mitglieder hinreichend politischen Willen gezeigt und Ressourcen eingebracht hätten. Allerdings führt dieselbe Erklärung zwölf Selbstverpflichtungen auf, die unver­bindlich bleiben – genau dafür hatten ein­zelne Mitgliedstaaten bei den Verhandlun­gen über das Dokument gesorgt. Der Gene­ralsekretär wird lediglich aufgefordert, Emp­fehlungen zu erarbeiten, wie die »gemein­same Agenda« umgesetzt werden könne.

Während diese Art der impliziten Ausbremsung schon länger üblich ist, waren die Ansagen beim Auftakt der diesjährigen Generaldebatte deutlich expliziter: Die ers­ten Staats- und Regierungslenker, die nach Guterres sprachen, betonten nicht nur die Souveränität ihres Landes und den Vorrang nationaler Interessen, sondern auch ganz ausdrücklich ihren Willen, primär uni- und bilateral zu handeln.

Präsident Bolsonaro – der Repräsentant Brasiliens spricht traditionell zuerst – machte deutlich, dass er für die Bewältigung der Pandemie auf Technologie- und Innovations-Partnerschaften mit denjenigen Ländern setze, die Brasiliens Souveränität respektieren. So verbat er sich die »brutale Desinformationskampagne« über Brasiliens Umgang mit dem Amazonas-Regenwald.

Die UN-Botschafterin der USA, Kelly, pries in ihrer Ankündigung des US-Präsi­denten dessen diplomatische Errungenschaften im Hinblick auf Israel, Nordkorea, Syrien und Afghanistan. US-Präsident Trump bilanzierte, Erfolge habe in den letz­ten Jahren vor allem die US-Politik erzielt, nicht etwa die »failed approaches of the past« – zumindest indirekt kritisierte er damit auch die Aktivitäten der UN. Trump legte den anderen Staats- und Regierungschefs sein Motto »my country first« nahe, denn diese Maxime sei die einzig wahre Grundlage für Kooperation.

China wiederum nutzte die Chance, eine neue Art von Multilateralismus zu propa­gie­ren. Präsident Xi lehnte jegliche Politisie­rung der Pandemie ab (Trump hatte das Land beschuldigt, die Welt mit dem »China-Virus« überflutet und die Weltgesundheitsorganisation kontrolliert zu haben) und erklärte Chinas Motto: »put people and life first«. China unterstütze vor allem die ar­men Länder in ihrem Kampf gegen Covid-19 und für Entwicklung. Er betonte die chine­sische Unterstützung für »win-win coopera­tion« und »shared benefits«, ein Kampf der Kulturen und ideologische Einmischung solle dabei vermieden werden. Xi ließ un­erwähnt, dass auch China diese Koopera­tion primär auf Basis bilateraler Verträge betreibt.

Spätere Sprecher in der Generaldebatte unterstützten die UN, wie etwa Frankreichs Präsident Macron oder der Präsident des Europäischen Rates Michel. Dennoch ver­deutlichen diese ersten Statements: Die Mitgliedstaaten der UN (die erste UN) sind zutiefst uneins, viele Gremien und Prozesse infolgedessen blockiert. Dieser Umstand sollte bei Debatten über UN-Reformen nicht aus dem Blick geraten.

Nachteile digitaler UN-Formate

Die Pandemie verstärkt diese Probleme noch, denn sie schwächt massiv die »con­vening power« der UN und beeinträchtigt die Arbeitsweise der Mitgliedstaaten. Im Laufe des Jahres war deutlich geworden, dass zwischenstaatliche Verhandlungen im digitalen Format schwierig sind. So hatte es viel Zeit und Kraft gekostet, im Sicherheitsrat eine Resolution zur Fortsetzung grenz­überschreitender Hilfslieferungen nach Syrien auszuhandeln; das Ergebnis war ein Minimalkompromiss. Es fehlt die Möglichkeit informeller persönlicher Begegnungen der Diplomatinnen und Diplomaten. Diese Gespräche sind aber wichtig, um Verhandlungen voranzubringen oder gemeinsame Aktionen zur Realisierung beschlossener Ziele zu initiieren. Oft ermöglichen infor­melle Absprachen und Tauschgeschäfte erst den Konsens, der für Resolutionen und Abkommen nötig ist. Der Austausch mit nichtstaatlichen Akteuren kann Einsichten jenseits offizieller Berichte vermitteln und inspiriert Positionen und Interventionen in den Debatten und Verhandlungen.

Online-Abstimmungen sind nur für den Sicherheitsrat zugelassen. Das war ein Grund dafür, warum im Juli die Verhand­lungen über das Abschlussdokument des Hochrangigen Politischen Forums zu nach­haltiger Entwicklung (HLPF 2020) scheiter­ten. Im Rahmen des Forums fand das erste voll digitale UN-Treffen mit universeller Beteiligung, auch nationaler Delegationen, nach Beginn des Lockdowns statt. Während es dem UN-Sekretariat gut gelang, Panels und Berichtsprozesse zu den SDGs digital zu organisieren, scheiterten die Mitgliedstaaten trotz wochenlanger Verhandlungen daran, sich auf eine Ministererklärung zu einigen. Weder innerhalb der Verhandlungsgruppen noch zwischen ihnen gelang es, für alle akzeptable Kompromisse aus­zuhandeln. Bereits in den Vorjahren hatte es dabei zunehmend Probleme gegeben; eine Minis­tererklärung konnte bis dahin jedoch am Ende des HLPF per Abstimmung ver­abschiedet werden. Dieser Weg war nun versperrt, und so endete das HLPF 2020 ohne die mandatierte Erklärung. Damit ver­zichteten die Mitgliedstaaten auf das, was sie selbst dem Forum als zentrale Aufgabe vorgegeben haben: eine politische Führungsrolle wahrnehmen, Orientierungshilfe geben und Empfehlungen zur Weiterverfolgung erteilen. Zwar war das digitale Format für diese Unzulänglichkeiten nicht allein ver­antwortlich, es erschwerte jedoch die ohne­hin komplizierte Suche nach Kompromissen bzw. erleichterte es, deren Findung zu sabo­tieren.

Informelle Formate und Koalitionen

In Anbetracht der Krise der »ersten UN« raten Experten zu innovativen, flexiblen und gegebenenfalls dezentralen Formaten. In vielen Papieren, beispielsweise der Elders oder des Stimson Centers, wird eine bes­sere Zusammenarbeit mit denjenigen staat­lichen und nichtstaatlichen Akteuren emp­fohlen, die bereit sind, die UN mit Ideen und Taten zu unterstützen.

Tatsächlich versucht die UN schon län­ger, das Potential von informellen Formaten und Koalitionen der Willigen zu nutzen. Zur Eröffnung der Generalversammlung lud die UN beispielsweise beim »SDG Moment«, der »SDG Action Zone«, der »Global Goals Week« oder mittels digitaler Plattformen interessierte Staaten, sub- und nichtstaat­liche Stakeholder ein, die Aktivitäten vor­zustellen, mit denen sie die SDGs zu errei­chen versuchen. Allerdings hat die UN meist weder das Mandat noch die Mittel dafür, die Ergebnisse nachzuhalten oder zielführend mit multilateralen Prozessen zu verbinden. Das birgt die Gefahr eines Aktivismus, mit dessen Hilfe zwar Unterstützung mobilisiert wird. Doch der Nutzen ist bislang begrenzt, und von Kritikern wird auch die Legitimität unter Verweis auf die UN als zwischenstaatliche Organisation in­frage gestellt.

Gleichzeitig ist es der zweiten UN aber durchaus gelungen, ihre Kontakte zur gesell­schaftlichen Basis über Öffentlichkeitsarbeit zu stärken. Anfang des Jahres hatte der UN-Generalsekretär die »UN75«-Initiative gestartet, um die Prioritäten der Menschen und ihre Erwartungen an die UN besser zu verstehen. Die Kampagne umfasste eine Online-Umfrage, an der sich weltweit mehr als eine Million Menschen beteiligten, rund eintausend lokale Dialoge, zwei Meinungsumfragen, eine Medien-Ana­lyse in 70 Ländern sowie eine Auswertung wissenschaftlicher Beiträge. Der Bericht »The Future We Want – The UN We Need« stellt die Ergebnisse vor: Die Befragten sahen den Zugang zu grundlegenden Dienstleis­tungen (Gesundheitsfürsorge, Wasser- und Sanitärversorgung, Bildung) als prioritäre Aufgabe in der Pandemie. Gleichzeitig war die Mehrheit von ihnen am meisten besorgt über die künftigen Auswirkungen des Klima­wandels und der Umweltzerstörung, mehr noch als über Gesundheitsrisiken oder bewaffnete Konflikte und politische Gewalt. Um die UN effektiver zu machen, unterstützen die Beteiligten unter anderem eine intensivere Zusammenarbeit mit zivilgesell­schaftlichen Netzwerken, Jugendlichen, Frauen und lokalen Regierungen. In einer Erklärung hat ein breites Bündnis zivil­gesell­schaftlicher Organisationen dazu wei­tere Vorschläge unterbreitet, unter ande­rem einen Focal Point im UN-Sekretariat für die Zivilgesellschaft oder einen globalen Petitionsmechanismus. Das Problem ist: Ohne Unterstützung der Mitgliedstaaten wird die UN diese Vorschläge nicht in die Tat umsetzen können.

Build Back Better – auch die UN

Die »drei UNs« haben sich in der Krise un­terschiedlich gut geschlagen: Der UN-Gene­ralsekretär hat mittlerweile eine umfassende Reaktion des gesamten UN-Systems zur Pan­demie organisiert. Obwohl seit Monaten im Home Office, war das UN-Sekretariat in der Lage, viele Prozesse und auch das Leitthema »Build Back Better« (bzw. jüngst »Recover Better«) weiterzuentwickeln. Nun müssten sich UN-Mitgliedstaaten finden, die voran­gehen und das neue Leitmotiv mit Leben erfüllen. Die Reaktionen der Staaten auf die Pandemie zeigen (jenseits von Empfehlungen oder Einzelbeispielen) bislang nicht, dass Regierungen Nachhaltigkeit zu einem zentralen Kriterium ihrer Antwort machen. Deutschland sollte sich dafür einsetzen, dass der Europäische Aufbauplan, der zur Bewältigung der Pandemie-Folgen ausgearbeitet wird, viel stärker mit dem Green Deal der EU und den SDGs verknüpft wird.

Auch die »Allianz für den Multilateralis­mus« hat bei einem Ministertreffen im September ihren Einsatz für »Building Back Better« beschworen. Eine spezifische Initia­tive wurde jedoch nicht vorgestellt. Die Mit­glieder der Allianz könnten gemeinsam mit Partnern erarbeiten, wie sie ihre Investitionen, Konjunkturpakete und Entwicklungsprogramme so ausgestalten, dass sie eine nachhaltigere, klimafreundlichere und resi­lientere Entwicklung fördern.

Beim Treffen wurde der Access to COVID-19 Tools Accelerator (ACT-A) positiv hervor­gehoben. Diese Multi-Stakeholder-Initiative arbeitet darauf hin, Menschen weltweit und möglichst rasch Zugang zu Tests, Be­handlungen und Impfungen zu verschaffen. ACT‑A ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Zusammenarbeit mit der »dritten UN« Schwächen multilateraler Governance kom­pensieren kann. Das Beispiel zeigt aber auch, dass dies nur gelingen wird, wenn hin­reichend politische und materielle Unterstützung aufgeboten wird. Und den Multi­lateralismus stützt es dann, wenn die UN maßgeblich eingebunden ist. So hat die Weltgesundheitsorganisation bei ACT‑A eine führende Rolle.

Prinzipiell sollte die Allianz ihre Initiativen strategisch so entwickeln, dass diese Blockaden in der ersten UN überwinden helfen und UN-Prozesse nicht verlagert, sondern gestärkt werden. Gleichzeitig soll­ten sie sich dafür engagieren, die zweite UN in die Lage zu versetzen, derartige Initiativen kompetent zu begleiten. Vertrauen in einen UN-geführten vernetzten Multilateralismus aufzubauen könnte ein Schritt auf dem Weg sein zu den UN, die wir brauchen für die Zukunft, die wir wollen.

Dr. Marianne Beisheim ist Wissenschaftlerin in der Forschungsgruppe Globale Fragen.

© Stiftung Wissenschaft und Politik, 2020

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