Äthiopien steht vor der wohl größten Herausforderung seit dem Amtsantritt von Premier Abiy Ahmed. Gelingt es ihm nicht, den Konflikt mit der Vorgängerregierung zu beenden und die Pogrome zu stoppen, droht dem Land eine Implosion. Sie hätte schwere Folgen für das gesamte Horn von Afrika, meint Annette Weber.
Vor zwei Jahren lagen sich die Menschen im Norden Äthiopiens mit Freudentränen in den Armen: Der eiserne Vorhang zwischen Äthiopien und dem ehemaligen Kriegsgegner Eritrea war nach 18 Jahren geöffnet worden. Geschwister sahen sich zum ersten Mal, Großeltern hielten ihre Enkel in den Armen, die Telefonverbindungen funktionierten über Nacht. Ein neues Zeitalter schien angebrochen. Das Horn von Afrika, die Region, die für ihre verbitterten Bruderkriege, Hungersnöte und unbeugsamen Ideologien stand, bekam auf einmal einen Glanz. Besonders die Jugend – die mehr als die Hälfte der Bevölkerung stellt – war hoffnungsvoll. Viele erwarteten von dem neuen, jungen Premier Abiy Ahmed ein Leben in Würde und mit Arbeit. Abiy, ein Überraschungskandidat aus der Partei der Bevölkerungsmehrheit, die in der hundertjährigen Geschichte des Landes niemals die Regierungsgeschäfte geführt hatte, wurde zum Premierminister. Er wollte mit dem starren Entwicklungsstaatskonzept der Vorgängerregierung brechen, die von einer kleinen Gruppe, der Volksbefreiungsfront Tigrays (TPLF), geführt wurde. Abiy sprach von Demokratie, Privatisierung und Liebe als seinen Leitmotiven. Das schien unerhört, und spätestens durch den Friedensschluss mit dem benachbarten Erzfeind Eritrea war ihm etwas geglückt, das die Menschen im Land und in der Region gleichermaßen begeisterte und ihm den Friedensnobelpreis einbrachte.
Heute sind die Grenzen zwischen Eritrea und Äthiopien längst wieder geschlossen. Hunderte fielen in den vergangenen Monaten ethnischen Pogromen zum Opfer. Nach der Ermordung eines Sängers begannen wochenlange Proteste, die Regierung sperrte das Internet für Monate, Tausende Oppositionelle wurden verhaftet. Die Jugend, deren Proteste einst den Aufstieg von Abiy Ahmed befördert hatten, demonstriert angesichts der enttäuschten Hoffnung auf eine bessere Zukunft jetzt gegen seine Regierung. Anfang November passierte schließlich, was sich in den Wochen zuvor ankündigt hatte: Die TPLF lieferte sich ein Scharmützel mit der Nationalarmee. Internet-, Telefon- und Flugverbindungen zum nördlich an der Grenze zu Eritrea gelegenen Bundesstaat der Tigray wurden gestoppt. Das Kabinett verkündete den Ausnahmezustand für die Region, erklärte die TPLF zu einer terroristischen Vereinigung und setzte eine Parallelregierung in dem TPLF-geführten Bundesstaat ein. Truppen der nationalen Armee wurden aus anderen Landesteilen und aus Somalia an die Grenze zu Tigray verlegt. Beide Seiten behaupten nun, die Lage unter Kontrolle zu haben: Premier Abiy berichtet von gelungenen Bombardements auf die Flugabwehr der TPLF, die ihrerseits angibt, militärisch nicht geschwächt worden zu sein.
Die Eskalation begann, nachdem der Premierminister aufgrund der Covid-19-Pandemie die ersten freien Wahlen, die für Mai 2020 angekündigt waren, auf unbestimmte Zeit verschoben hatte. Einige Monate zuvor hatte er die bis dahin regierende Einheitspartei aufgelöst und die Wohlstandspartei gegründet. In diesem Zuge hatte er die Übermacht der TPLF in der Regierung reduziert und bislang außen vorgelassene Bundesstaaten wie die Somali- und Afar-Region stärker eingebunden. Die TPLF stellte daraufhin die Legitimität der Regierung infrage, Premier Abiy hält sie für einen Gegner des ethnischen Föderalismus. Anfang September führte sie unabhängige Wahlen in ihrem Bundesstaat Tigray durch, bei denen die Volksbefreiungsfront die absolute Mehrheit erzielte. Nichtsdestotrotz kann sie nicht auf einen nennenswerten Rückhalt in der äthiopischen Bevölkerung zählen.
Die verhärteten Fronten zeugen von einer Schwäche der Regierung Abiy Ahmeds, dem es weder gelang, die ethnonationalistischen Spaltungen einzudämmen, noch die Bevölkerung vor ethnischen Pogromen zu schützen. Der Premierminister hatte darauf vertraut, dass der Bau des Nilstaudamms GERD eine breite Unterstützung der gesamten Bevölkerung erfahren und damit zu einem national einigenden Projekt werden könnte. Diese Hoffnung droht zu scheitern.
Eskaliert die Situation in Tigray weiter, weil das Land in einen Bürgerkrieg schlittert, könnte dies das Ende der Transition unter Abiy Ahmed bedeuten. Es droht die Gefahr, dass ihm andere Landesteile oder die Armee die Gefolgschaft verweigern. Verliert die TPLF den Konflikt, könnte sie sich zu einer bewaffneten Opposition – im eigenen Land oder der Region – entwickeln. Darüber hinaus besteht das Risiko, dass der eritreische Präsident Isayas Afewerki seine Chance wittert, durch ein Eingreifen in den Konflikt auf der Seite Äthiopiens wieder zu einem wichtigen Player in der Region zu werden. Äthiopien geriete in Abhängigkeit und wäre geschwächt.
Eine Implosion Äthiopiens hätte ungeheure Konsequenzen nicht nur für das bevölkerungsreichste Land der Region, sondern auch für das gesamte Horn von Afrika. Ein regionaler Krieg würde die fragile Transition im Sudan gefährden. Auch das Abkommen zum Nilstaudamm oder die entscheidend von Äthiopien mitgetragene Mission der Afrikanischen Union zur Stabilisierung Somalias wären direkt von einer Fragmentierung des Landes betroffen.
Eine gegenseitige Anerkennung von TPLF und Regierung als legitime Akteure wäre ein erster notwendiger Schritt zu Beilegung des Konfliktes. Vermittlungsgespräche könnten dann von der regionalen Intergovernmental Authority on Devolopment (IGAD) unter Führung des Sudans geführt werden. Die Afrikanische Union, Europa und andere Partner des Landes sollten sich auf eine gemeinsame Linie zur Deeskalation verständigen. Auch die Treuhänder des Äthiopisch-Eritreischen Friedensabkommens, Saudi Arabien und die Vereinten Arabischen Emirate, könnten als Garanten des Abkommens eine wichtige Rolle spielen.
Ein Waffenstillstand aber kann nur ein Anfang sein. Die Unzufriedenheit wächst in allen Regionen Äthiopiens, Autonomiebestrebungen verbreiten sich, dem ethnischen Föderalismus droht ein konfliktreicher Zerfall. Um hier entgegenzuwirken, ist es zum einen unerlässlich, dass ethnische Pogrome durch die Sicherheitskräfte verhindert werden. Zum anderen muss der Premier politisch Inhaftierten faire Prozesse garantieren, wenn die Bevölkerung ihn weiter unterstützen soll. Um die Hoffnung auf Aufbruch, demokratische Veränderung und inklusivere Machtverteilung nicht gänzlich zu zerstören, ist ein umfassender nationaler Dialog unumgänglich.
Vertrauen schaffen in der Krise
doi:10.18449/2020A30
Wie die Europäer sich an einer alternativen Konfliktlösung beteiligen können
doi:10.18449/2020A13
Hoffnung auf Transformation in Äthiopien