Der im Europäischen Rat erzielte Kompromiss könnte die Grundlagen der europäischen Zusammenarbeit auf neue Füße stellen. Ohne die Pandemie wäre dieser Schritt nicht denkbar gewesen, zugleich stellt die Krise das größte Risiko für das Gelingen eines dauerhaften Integrationserfolgs dar. Eine Analyse von Peter Becker.
Die Europäische Union hat Handlungsfähigkeit bewiesen – nach episch langen, harten und zum Teil quälenden Verhandlungen haben die Staats- und Regierungschefs der 27 Mitgliedstaaten am 21. Juli 2020 einen Kompromiss gefunden. Mit seiner Verständigung auf einen neuen mehrjährigen Finanzrahmen (MFR) für die nächsten sieben Jahre und einen auf vier Jahre befristeten europäischen Konjunkturhaushalt unter der Überschrift »Next Generation EU« (NGEU) hat der Europäische Rat ein immenses Finanzpaket mit einem Umfang von insgesamt 1,8 Billionen Euro geschnürt.
Diese Einigung beinhaltet einige fundamentale Neuerungen: die Möglichkeit der EU, zur Finanzierung des Konjunkturhaushalts nun selbst Kredite in bisher nicht gekanntem Umfang an den Finanzmärkten aufzunehmen, und die Einführung neuer Finanzierungsquellen für den EU-Haushalt. Weitgehende Maßnahmen also, die vor der Pandemie-Krise undenkbar erschienen und kaum durchsetzbar waren. Ob sie aber als großer Schritte hin zu einer vertieften Integration zu werten sind, wird sich erst noch erweisen müssen. Denn der erzielte Kompromiss ist nur ein Auftakt, dem bis Ende des Jahres eine Reihe weitere Schritte folgen muss, damit er zu einem wirklichen europäischen Erfolg werden kann.
Zunächst muss der politische Konsens des Europäischen Rates in konkrete Gesetzestexte gegossen werden. Auch hier sind harte Verhandlungen zwischen den beiden europäischen Gesetzgebern, dem Ministerrat der Mitgliedstaaten und dem Europäischen Parlament, zu erwarten. Dann müssen alle nationalen Parlamente den weitreichenden Neuerungen bei der Finanzierung des europäischen Budgets zustimmen. Schließlich müssen die neuen Regelungen in angewandte Politik umgesetzt und mit Leben gefüllt werden. Dies ist eine gewaltige Aufgabe für den deutschen Vorsitz im Ministerrat, denn alle Elemente des Pakets sollen bis zum 1. Januar 2021 in Kraft treten. Zudem ist jeder Schritt mit einem hohen Risiko des Scheiterns oder der Blockade verbunden.
Die Zustimmung der nationalen Parlamente zu der erstmaligen Verschuldung der EU in Höhe von 750 Mrd. Euro und den neuen Finanzierungsquellen ist nicht nur ein zeitliches Problem, sondern auch ein politisches, denn die Größe des Schritts zu einer enger zusammenwachsenden Union ist unübersehbar; seine Legitimation erfordert breite parlamentarische Debatten. Doch für eine sorgfältige Abwägung der Integrationsschritte und ihrer Folgen bleibt unter dem Druck der Covid-19-Krise und der unbedingt erforderlichen schnellen europäischen Reaktion kaum ausreichend Zeit.
Nicht leichter dürfte es werden, die gefundenen Kompromisse des Gipfels in konkrete Programme umzusetzen. So müssen die Mitgliedstaaten sogenannte Aufbau- und Resilienzpläne mit ihren Reform- und Investitionsvorhaben erarbeiten, um europäische Fördermittel aus dem neuen Aufbaufonds abrufen zu können. Diese Pläne müssen sie der Europäischen Kommission zur Prüfung und Billigung vorlegen. Dabei sollen sie die sogenannten länderspezifischen wirtschaftspolitischen Reformempfehlungen sowie die Klimaschutz- und die Digitalisierungsziele der EU beachten. Sowohl die Mitgliedstaaten als auch die Europäische Kommission müssen also sehr schnell konkrete Ideen entwickeln, wofür das Geld sinnvoll verwendet werden soll. Denn die Fördergelder sollen erst fließen, wenn die Mitgliedstaaten die zugesagten Reformanstrengungen wirklich aufgenommen und die vereinbarten Etappenziele tatsächlich erreicht haben. Dies macht die genaue Prüfung und ein kontinuierliches Monitoring der nationalen Umsetzung erforderlich. Dass es den Mitgliedstaaten ernst damit ist, dass das Geld nur im Gegenzug für nachhaltige Strukturreformen und Investitionen fließt, haben die sehr harten Debatten im Europäischen Rat gezeigt.
Es ist eine kaum zu lösende Aufgabe, die nationalen Pläne in der Kürze der Zeit zu erstellen und zu bewerten sowie neue Formen des Monitorings aufzubauen. Wissenschaftliche Gutachten oder die Begleitung weitreichender nationaler Strukturreformen durch Kommissionen, wie sie zum Beispiel in Deutschland zum Braunkohleausstieg erfolgte, sind in wenigen Monaten kaum vorstellbar. Trotz des hohen Drucks, schnell und wirkungsvoll auf die Folgen der Pandemie zu reagieren, müssen Nachhaltigkeit und Zielgenauigkeit der Maßnahmen mit einer sorgfältigen Bewertung der Programme und der einzelnen Maßnahmen verbunden werden. Nur so kann das in den Verhandlungen des Europäischen Rats sichtbar gewordene Misstrauen zwischen den Mitgliedstaaten überwunden werden.
Ein hohes Tempo bei der Umsetzung der vom Europäischen Rat vorgezeichneten Schritte ist zweifelsohne nötig. Für diese Dynamik bei den Verhandlungen über die konkreten Rechtsgrundlagen kann die deutsche Ratspräsidentschaft sorgen. Um jedoch den Kompromiss des Europäischen Rats zu einem wirklichen und langfristigen Integrationserfolg zu machen, müssen das gegenseitige Vertrauen zwischen den Mitgliedstaaten wieder wachsen und die Unionsbürgerinnen und -bürger diesen Integrationsschritten zustimmen. Das sind große Aufgaben, die gegenseitiges Verständnis, Toleranz und auch Zeit erfordern. Ob die Quadratur des Kreises gelingen kann, bleibt abzuwarten. Immerhin hat der EU-Gipfel die Diskussion über die Weiterentwicklung der EU angestoßen.
Der Vorschlag der EU-Kommission für einen neuen Finanzrahmen und einen Aufbaufonds
doi:10.18449/2020A56
Die Forderung nach Corona-Bonds dominiert die Diskussion über eine angemessene Reaktion der Europäischen Union auf die Folgen der Corona-Krise. Stattdessen sollte die EU langfristig ermächtigt werden, selbst Steuern einzunehmen und sich zu verschulden, meint Peter Becker.
Die EU-Kommission hat einen neuen Vorschlag für den nächsten mehrjährigen EU-Haushalt angekündigt. Peter Becker meint, dass dieser sich nicht zu weit vom Stand der bisherigen Verhandlungen entfernen darf und möglichst schnell verabschiedet werden sollte.
Die Verhandlungen über den mehrjährigen Finanzrahmen 2021–2027
doi:10.18449/2019S14