Die Forderung nach Corona-Bonds dominiert die Diskussion über eine angemessene Reaktion der Europäischen Union auf die Folgen der Corona-Krise. Stattdessen sollte die EU langfristig ermächtigt werden, selbst Steuern einzunehmen und sich zu verschulden, meint Peter Becker.
Die Europäische Union steht an einer Wegscheide, es geht um ihre Existenz, die Stunde der Wahrheit hat geschlagen, es droht das Auseinanderbrechen der EU – mit derart drastischen Bildern begründen die Befürworter einer gemeinsamen Verschuldung der EU-Mitgliedstaaten ihre Forderung nach sogenannten Corona-Bonds. Sie werfen dem reichen Norden Herzlosigkeit und fehlendes Mitgefühl vor, er zeige kein Verständnis für das geteilte europäische Schicksal. Nur wenn die Länder des Nordens endlich über ihren Schatten springen und ihre ideologischen Vorbehalte überwinden, könne die europäische Integration diese Krise bestehen. Wer nicht für Eurobonds ist, sei unsolidarisch und antieuropäisch.
Der Vorschlag sieht vor, dass die Staaten in der Eurozone gemeinsame Schuldscheine ausgeben. Mit dem so eingenommenen Geld sollen die sozialen und ökonomischen Folgen der Krise abgefedert werden. Die hoch verschuldeten Staaten des Südens profitieren nach dieser Idee von der Bonität der Länder des Nordens und erhalten das dringend benötigte Geld zu besseren Konditionen. Doch für welches Europa stehen diese Corona-Bonds? Nach allem, was von den Befürwortern der Idee bislang erläutert wurde, wären es die nationalen Regierungen, die sich verständigen, gemeinsame Schuldscheine ausgeben und damit Geld für nationale Budgets bereitstellen. Und sie würden auch bestimmen, welcher Staat wie viel Geld von dem eingenommenen Kapital erhält. Wofür das Geld ausgegeben wird, würde schließlich die jeweilige nationale Regierung entscheiden. Corona-Bonds als Rückschritt zu einem Europa der Vaterländer. Allem Anschein nach spielen die supranationalen Organe der EU in diesem zwischenstaatlichen Modell keine Rolle.
Doch ein europäisches Instrument sollte europäisch verwaltet werden: Die Europäische Kommission als europäische Exekutive sollte die Bonds ausgeben und die Konditionen der gemeinsamen Verschuldung festlegen. Das Geld würde in den gemeinsamen Haushalt der EU fließen. Und da das Haushaltsrecht das Königsrecht eines Parlamentes ist, sollte das Europäische Parlament – das einzige direkt legitimierte Organ der EU – mitentscheiden und die korrekte Verwendung der Gelder kontrollieren.
Die Ausgabe von Corona-Bonds ohne eine solche Einbindung der EU-Organe würde die in der Eurokrise vor einem Jahrzehnt so vehement kritisierte Exekutivlastigkeit der europäischen Integration weiter verstärken. Denn es wären erneut die Regierungen in den Mitgliedstaaten, die über die neuen Bonds und deren Verwendung entscheiden würden; die Parlamente könnten diese Entscheidungen dann lediglich absegnen.
Eine wahrhaft europäische Lösung könnte langfristig darin bestehen, die Organe der EU mit den Zuständigkeiten auszustatten, die für eine schnelle Krisenreaktion gebraucht werden. So könnte die EU die Befugnis erhalten, eigene Bonds auszugeben, dieses Geld in den EU-Haushalt fließen zu lassen und für gemeinsame europäische Ziele auszugeben. Das Europäische Parlament könnte die Ziele und die Ausgabenprioritäten vorgeben, die Europäische Kommission würde diese europäische Politik umsetzen, und der Europäische Rechnungshof würde kontrollieren, ob die Gelder korrekt ausgegeben werden. Die gemeinsamen Schulden müssten dann aus dem EU-Haushalt getilgt werden, der sich über eigene europäische Steuereinnahmen finanzieren würde. Die Europaparlamentarier schließlich müssten ihren Wählern erklären, warum und wofür sie Steuern erheben und das EU-Geld ausgeben.
Das wäre eine wirklich europäische Antwort auf die Krise. Sie würde sicherlich nicht jetzt und direkt helfen, aber das würden Corona-Bonds ebenso wenig. In jeder Krise liegt auch eine Chance – die EU sollte diese Chance nicht mit dem Kampf für die falschen Lösungen verpassen.
Die EU-Kommission hat einen neuen Vorschlag für den nächsten mehrjährigen EU-Haushalt angekündigt. Peter Becker meint, dass dieser sich nicht zu weit vom Stand der bisherigen Verhandlungen entfernen darf und möglichst schnell verabschiedet werden sollte.
Die Verhandlungen über den mehrjährigen Finanzrahmen 2021–2027
doi:10.18449/2019S14