Der neue italienische Regierungschef Mario Draghi wird sehr wenig Zeit haben, die strukturellen Probleme des Landes zu lösen, die schon seit Jahrzehnten bestehen. Entscheidend ist daher, dass nach ihm jemand das Ruder übernimmt, der auf seinen Errungenschaften aufbaut, meint Paweł Tokarski.
Eine politische Krise war das Letzte, was Italien in der Pandemie noch brauchen konnte. Und doch führte ein persönlicher Konflikt zwischen dem Vorsitzenden von Italia Viva, Matteo Renzi, und dem bisherigen Premierminister Giuseppe Conte Mitte Januar zum Scheitern der Koalition. Präsident Mattarella beauftragte daraufhin den 73-jährigen Mario Draghi – ehemaliger Chef der Europäischen Zentralbank – mit der Bildung einer technischen Regierung, der er als Ministerpräsident vorstehen wird: Während der Pandemie wäre es laut Mattarella riskant geworden, vorgezogene Wahlen zu organisieren. Und in der Tat hätten Neuwahlen den Kampf gegen die Pandemie verzögert; das und die Aussicht auf eine rechtspopulistische Regierung hätten sich zudem wohl negativ an den Finanzmärkten ausgewirkt – ein Risiko, das es in der ohnehin prekären Situation dringend zu vermeiden galt.
Mario Draghi tritt ein schweres Erbe an: In Italien hat die durch die Pandemie ausgelöste gesundheitliche, wirtschaftliche und soziale Krise die enormen strukturellen Probleme des Landes noch verstärkt. Die »sieben Todsünden« Italiens, wie sie der italienische Ökonom Carlo Cottarelli nannte, sind Steuerhinterziehung, Korruption, eine überbordende Bürokratie, ein ineffizientes Justizsystem, demografische Probleme, das Nord-Süd-Gefälle und die Schwierigkeit, innerhalb der Eurozone zu funktionieren. Als Folge der Pandemie sank das Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2020 um fast neun Prozent, die Staatsverschuldung stieg auf rund 160 Prozent des BIP, und über 400 000 Arbeitsplätze gingen verloren. Die Unfähigkeit der traditionellen Parteien, eine Lösung für die wirtschaftlichen Probleme zu finden, hält die Unterstützung für die rechtspopulistische Koalition (Lega, Fratelli d’Italia, Forza Italia) bei nahezu 50 Prozent.
Auch wenn fast alle wichtigen politischen Kräfte ihren Willen zur Zusammenarbeit mit der Regierung Draghi erklärt haben, bietet der Rahmen einer technischen Regierung den Rechtspopulisten Angriffsfläche. Gut denkbar, dass sie Draghi seine fehlende demokratische Legitimation vorwerfen werden. Es wird zudem zur Herausforderung für den neuen Regierungschef, das Land ohne eigene Parlamentsmehrheit zu regieren.
Oberste Priorität der neuen Führung wird das Management der Gesundheitskrise sein. Dabei geht es auch darum, Impfungen zu beschleunigen sowie Schulen und Arbeitsmarkt zu stützen. Hierfür gilt es, Gelder aus dem EU-Finanzhilfeplan zur Abmilderung der wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Covid19-Pandemie, NextGenerationEU, zu beantragen – und erfolgreich einzusetzen. Die erwarteten rund 200 Mrd. € aus diesem Fonds könnten dem wirtschaftlichen Aufschwung sowie den geplanten Strukturreformen im Bereich der öffentlichen Verwaltung, dem Steuerwesen und der Justiz zugutekommen; das eröffnet der neuen Regierung einen größeren Spielraum in der Wirtschaftspolitik. Als Chance für Draghi ist auch die Tatsache zu bewerten, dass er anders als die letzte technische Regierung unter Mario Monti (2011-2013) keine politisch kostspielige Haushaltskonsolidierung mit möglichen negativen Auswirkungen auf das BIP-Wachstum vornehmen muss. Dies ist hauptsächlich auf die Tatsache zurückzuführen, dass Draghis Regierung von Anfang an unter dem Schutzschirm der EZB agieren wird, die nicht zulassen wird, dass die Kosten für das Bedienen der Staatsschulden übermäßig ansteigen und eine weitere Abwärtsspirale in Gang setzen. Auch wurden die Fiskalregeln der Eurozone vorübergehend ausgesetzt; damit ist es möglich, die Wirtschaft durch fiskalpolitische Maßnahmen zu stützen. Schließlich darf nicht vergessen werden, dass die italienische Wirtschaft trotz der strukturellen Probleme viele Stärken hat: Italien ist eines der am umfassendsten industrialisierten Länder Europas und die zweitgrößte Exportnation nach Deutschland. Werden einige Wachstumshindernisse beseitigt und etwa Kredite durch den italienischen Bankensektor freigegeben, könnte das Tempo der Erholung deutlich anziehen. Draghis Erfahrungen aus dem Finanzministerium und dem Zentralbankwesen könnten ihm helfen, die entscheidenden Weichen zu stellen.
Angesichts der großen Herausforderungen, vor denen Draghis technische Regierung steht, sollte man mit Erwartungen dennoch vorsichtig sein. Die nächste Parlamentswahl steht in weniger als zweieinhalb Jahren an, und es ist nicht auszuschließen, dass sie vorgezogen wird. Das ist sehr wenig Zeit, wenn es darum geht, strukturelle Probleme anzugehen, die schon seit Jahrzehnten bestehen. Um einen Sieg der Rechtspopulisten abzuwenden, wird der neue Regierungschef alles daransetzen, vorgezogene Parlamentswahlen zu verhindern, bis die derzeitige moderate Mehrheit im Parlament den Nachfolger des Präsidenten Mattarella gewählt hat. Dessen Amtszeit endet im Februar 2022. Es ist nicht auszuschließen, dass Draghi selbst Mattarella nachfolgen wird. Seine Autorität und Macht als Präsident könnte er für die Stabilisierung der Politik nutzen, wie es die Rolle des italienischen Präsidenten traditionell vorsieht.
Im Jahr 2012 rettete Draghi als Chef der wichtigsten europäischen Finanzinstitution die Eurozone; in der aktuellen Krise wird er nun als Chef einer der politisch fragilsten Regierungen Europas agieren – eine ungleich ungünstigere Ausgangsposition. Draghi wird seine Zeit als Regierungschef bestmöglich nutzen, so viel ist sicher. Angesichts der massiven Unterstützung für die Populisten lautet jedoch die wichtigste Frage: Wird nach Draghi jemand das Ruder übernehmen, der seine Errungenschaften nutzt oder sie zerstört? Davon hängt nicht nur die Zukunft Italiens, sondern auch die der gesamten Eurozone ab.
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