Die Staatengemeinschaft war auf die Großkrisen der vergangenen Jahrzehnte schlecht vorbereitet. Das hat den Multilateralismus geschwächt. Vertrauen in multilaterale Kooperation kann durch gemeinsame Vorausschau auf künftige Herausforderungen wieder entstehen, meint Lars Brozus.
Der Multilateralismus steckt in einer Krise. Deswegen riefen internationale Spitzenpolitikerinnen und Spitzenpolitiker wie Angela Merkel, Ursula von der Leyen und António Guterres Anfang Februar dazu auf, bei der Bewältigung der Pandemie-Folgen auf multilaterale Zusammenarbeit zu setzen. Der Aufruf passt zur aktuellen Arbeit der Bundesregierung an einem »Weißbuch Multilateralismus«, die eine lebhafte Diskussion in der Fachöffentlichkeit ausgelöst hat. Auch die jüngst publizierten Empfehlungen eines Bürgerrates, in dem ausgeloste Bürgerinnen und Bürger unter Schirmherrschaft von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble »Deutschlands Rolle in der Welt« erörterten, betonen die Bedeutung des Multilateralismus für Deutschland.
Weitgehend unstrittig ist der Befund: Seit einigen Jahren verfolgen insbesondere mächtige Staaten wie die USA, China und Russland ihre Interessen verstärkt unilateral. Sie zeigen wenig Kooperationsbereitschaft bei Territorialfragen, Abrüstungs- und Wirtschaftsabkommen und stehen sich in festgefahrenen Gewaltkonflikten wie in Libyen oder Syrien gegenüber. Als Folge der Abkehr vom Multilateralismus sind zentrale internationale Institutionen wie der UN-Sicherheitsrat oft blockiert. Berlin bekam dies während der nichtständigen Mitgliedschaft in diesem Gremium 2019/20 zu spüren, als es Moskau und Peking für eine Blockade der UN-Hilfslieferungen nach Syrien verantwortlich machte. Zwar versuchen kooperationswillige Mittelmächte wie Deutschland und Frankreich Gegenakzente zu setzen, etwa durch die Gründung der Allianz für den Multilateralismus. Aber in der Summe hat die Bereitschaft zur internationalen Zusammenarbeit in den vergangenen zwanzig Jahren deutlich nachgelassen.
Im gleichen Zeitraum hat die globale Interdependenz, also die wechselseitige Abhängigkeit zwischen Staaten, Wirtschaft und Gesellschaft, jedoch erheblich zugenommen. Die Globalisierung vertieft die internationale Arbeitsteilung in Produktions- und Lieferketten. Die transnationale Mobilität ist exponentiell gewachsen: Immer mehr Menschen bleiben mit verschiedenen Orten und Gesellschaften verbunden – durch Migration ebenso wie durch Tourismus. Schließlich vernetzen digitale Medien die sozialen Lebenswelten über die durch das Internet zunehmend erschlossenen Kontinente hinweg.
In der Pandemie zeigt sich die Anfälligkeit der verbundenen Welt: Aufgrund der in China und Indien verhängten Lockdowns kam es zu Produktionsausfällen und Unterbrechungen von Lieferketten, die zeitweise zu Engpässen bei der Belieferung mit Arzneimitteln und medizinischer Schutzausrüstung in der EU führten. Umgekehrt brach der Export aus Europa nach Asien ein.
Die politische Zusammenarbeit hinkt der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Globalisierung hinterher, wie die unzureichenden Bemühungen um gemeinsame Maßnahmen gegen die Pandemie belegen: Anders als noch in der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008 gingen von den G20 im vergangenen Jahr kaum nennenswerte Steuerungsimpulse aus. Und die Appelle der UN, wie der Aufruf zum globalen Waffenstillstand, um die Pandemiebekämpfung zu erleichtern, verhallen weitgehend wirkungslos. Das zeigte auch die wiederaufgeflammte Auseinandersetzung zwischen Armenien und Aserbaidschan.
Kontroverser als der Befund fällt die Debatte über die richtige Therapie aus. Der eingangs erwähnte Aufruf setzt darauf, dass von der gemeinsamen Bedrohung durch die Pandemie ein Impuls zur Wiederbelebung multilateraler Zusammenarbeit ausgeht. Andere Vorstellungen zielen darauf ab, die wechselseitige Abhängigkeit zu reduzieren. So besinnen sich China, Indien und die USA auf Konzepte handelspolitischer Autarkie, selbst wenn die partielle Abkopplung vom Weltmarkt Nachteile mit sich bringt. Schließlich versucht ein Konzept wie die in der EU diskutierte strategische Autonomie beides miteinander zu verbinden: Größere Unabhängigkeit bei Beibehaltung von internationalem Engagement und Kooperationsbereitschaft.
Vergegenwärtigt man sich den Verfall des Multilateralismus, dann wird ersichtlich, dass ein wesentlicher Grund in der Vielzahl der überraschenden Krisen zu sehen ist, mit denen die internationale Gemeinschaft seit der Jahrtausendwende konfrontiert war. Sie haben die Beziehungen zwischen den maßgeblichen Staaten nach und nach verhärtet und ihre Bereitschaft zu kooperativem Handeln untergraben.
Die Krisen beschädigten den Multilateralismus dabei direkt oder indirekt: Dem 11. September 2001 folgte der Krieg der USA gegen den Irak, der wiederum den Westen spaltete. Die Annektierung der Krim durch Russland 2014 führte zur Suspendierung von dessen G8-Mitgliedschaft und verschloss einen wichtigen Kanal nach Moskau. In der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise kam es zwar zu multilateraler Kooperation, die den befürchteten Kollaps der Finanzmärkte und Staatsbankrotte in der späteren Eurozonenkrise verhindern half. Die Auswirkungen der vereinbarten Maßnahmen, darunter Arbeitslosigkeit, Armut und Austerität, verschärften jedoch die sozialen Gegensätze in der EU und den USA. Davon profitierten politische Kräfte, die sich gegen die vermeintliche Fremdbestimmung durch Brüssel beziehungsweise für »America first« aussprachen. Die Folge: Brexit und die Präsidentschaft Donald Trumps.
Der Umkehrschluss liegt nahe: Wenn Krisen internationale Kooperation unterminieren, könnte gemeinsame Vorausschau multilaterale Zusammenarbeit stärken. Vorausschau gewinnt an politischer Glaubwürdigkeit, wenn sie frühzeitig auf Krisen aufmerksam macht. Die Kombination von Szenariotechnik mit konkreten Prognosen ist der vielversprechendste Ansatz dafür. Ein multilateraler Rahmen ist für die Vorbereitung auf die vielen denkbaren Herausforderungen der Zukunft besonders geeignet, denn Diversität und Multiperspektivität tragen zu besseren Vorhersagen und Szenarien bei. Und die erfolgreiche Bewältigung von Zukunftsherausforderungen, bevor sie sich zu Krisen auswachsen, schafft Vertrauen in die multilaterale Handlungsfähigkeit der internationalen Gemeinschaft.
Lars Brozus beteiligt sich an der Debatte über das »Weißbuch Multilateralismus«, unter anderem im Peacelab-Blog.
Die Corona-Pandemie und ihre Folgen werden die globale Ordnung langfristig prägen. Wie das aussehen könnte, ist Thema eines SWP-Sammelbands zum Thema. Isabel Fannrich-Lautenschläger spricht mit Hanns Maull und Lars Brozus über ihren Beitrag zu Zukunftsszenarien und Potenzialen einer vorausschauenden Politik.
Beitrag zu einer Sammelstudie 2020/S 26, 17.12.2020, 90 Pages, pp. 11–14
Beitrag zu einer Sammelstudie 2020/S 18, 10.09.2020, 108 Pages, pp. 32–39
Systematische Vorausschau als Grundlage evidenzbasierter Vorsorgepolitik
doi:10.18449/2020A42
Herausforderungen, Chancen und Erfolgsfaktoren
doi:10.18449/2019A55
Effektive Früherkennung in der politischen Praxis