Staaten verfolgen auf internationaler Ebene zunehmend offen und selbstbewusst nationale Interessen. Die USA zum Beispiel haben internationale Regelwerke zur Abrüstung, zum Handel und zum Klimaschutz aufgekündigt. Andere Akteure mit globalem Machtanspruch wie China und Russland betreiben eine aggressive Territorialpolitik. Mit Großbritannien droht die Europäische Union (EU) einen wichtigen Partner zu verlieren, was ihre Fähigkeit zu einer strategisch ausgerichteten Politik auf internationaler Ebene beeinträchtigen würde. Die Aushöhlung der regelbasierten internationalen Ordnung macht eines deutlich: Notwendig ist eine vorausschauende und wirksame Politik zur Gestaltung der Zukunft. Denn je geringer die Bindungskraft internationaler Vereinbarungen, desto niedriger ist die Hemmschwelle für nicht abgestimmtes Vorgehen. Als Folge könnten Krisen und Konflikte künftig häufiger und unerwarteter auftreten. Daher sollten Staaten, die den Multilateralismus fördern wollen, in gemeinsame strategische Vorausschau investieren. Ein multiperspektivischer Ansatz könnte Situationen aufzeigen, in denen Handeln mit Gleichgesinnten Chancen bietet für die proaktive Gestaltung internationaler Politik.
Als Reaktion auf den schwindenden Rückhalt für eine regelbasierte internationale Ordnung haben die Bundesregierung, Frankreich und mehr als fünfzig andere Staaten eine »Allianz für den Multilateralismus« initiiert. Sie wurde am Rande der diesjährigen Generalversammlung der Vereinten Nationen (VN) vorgestellt. Ziel der Allianz ist es, die Kooperation ihrer Mitglieder in verschiedenen Politikfeldern zu fördern. Die Zusammenarbeit dürfte umso ertragreicher ausfallen, je besser den Partnern Folgendes gelingt: ihre unterschiedlichen Sichtweisen, Interessen und Präferenzen mit Blick auf zentrale Herausforderungen für die internationale Gemeinschaft einander anzunähern. Gemeinsame strategische Vorausschau kann diese Annäherung begünstigen; dies ließe sich im Rahmen der Allianz testen.
Aufgaben und Funktionen strategischer Vorausschau
Strategische Vorausschau hat zum Ziel, die politische Entscheidungsebene frühzeitig auf mögliche Ereignisse und Entwicklungen aufmerksam zu machen, für die rechtzeitig Handlungsoptionen bereitstehen sollten. Wirksam ist sie dann, wenn sich abzeichnende Chancen und Krisen in einem Stadium erkannt werden, in dem noch genug Zeit bleibt für erfolgversprechendes Handeln.
Konzeptionell besteht die Aufgabe darin, Ereignisse und Entwicklungen zu erkennen, die für die internationale Politik relevant werden könnten. Zusätzlich sollen Entscheidungsträger für Handlungsoptionen sensibilisiert werden, mit denen sie Krisen und Chancen begegnen können. Strategische Vorausschau hat somit zwei Funktionen: Analyse und Präskription.
Auf der analytischen Ebene unterscheidet man zwischen Ereignis- und Entwicklungsvorausschau. Erstere ist darauf ausgerichtet, konkrete Ereignisse zu antizipieren, die Auswirkungen auf die internationale Politik haben könnten. Dazu zählen etwa unerwartete Machtwechsel oder plötzliche militärische Eskalationen in strategisch wichtigen Regionen, aber auch unangekündigte Zahlungsausfälle systemrelevanter Schuldner.
Die Entwicklungsvorausschau versucht demgegenüber, längerfristigen Trends auf die Spur zu kommen. Darüber hinaus analysiert sie, welche politikfeldübergreifenden Wechselwirkungen die Trends haben könnten, beispielsweise technologische Innovationen (wie Cyberattacken als militärisches Mittel oder die Rolle sozialer Medien in Wahlkämpfen). Ebenso wichtig ist die Auswahl und Beobachtung von Indikatoren, die die Stabilität eines Landes oder einer Region anzeigen, wie die ökonomische und demographische Entwicklung, die Zufriedenheit mit den politischen Institutionen, das Ausmaß gesellschaftlicher Ungleichheit oder die Veränderung von Umweltbedingungen. Sach- und Länderexpertise gehen gleichermaßen in die Analyse ein.
In präskriptiver Hinsicht lautet die Aufgabe, aus den analytischen Erkenntnissen Folgerungen für politisches Handeln zu ziehen. Zum einen müssen Fragen beantwortet werden wie: Worauf sollten sich Regierungen und Parlamente perspektivisch vorbereiten? Welche Ressourcen und Fähigkeiten werden benötigt, um erfolgreich mit eher langfristigen Herausforderungen umzugehen? Zum anderen werden Ideen und Vorschläge dafür entwickelt, wo und wie Entscheidungsträger kurzfristig eingreifen können, um sich andeutende Krisen zu vermeiden oder Chancen zu nutzen.
Strategische Vorausschau in der politischen Praxis
Strategische Vorausschau auf internationale Politik ist traditionell eine hoheitliche Aufgabe, die im nationalstaatlichen Rahmen erfüllt wird. Die meisten Regierungen sind von einer gesamtstaatlichen Vorausschau-Praxis indessen weit entfernt. Im Regelfall dominieren Silo-Ansätze, die ihren Ursprung haben in den verschiedenen Aufgaben, Ausrichtungen und Organisationskulturen der jeweils zuständigen Ressorts. Eine typische Folge sind »blinde Flecken« in der Analyse.
In Deutschland sind das Auswärtige Amt (AA), das Bundesministerium der Verteidigung (BMVg) und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) primär mit internationalen Angelegenheiten befasst. In den Leitlinien der Bundesregierung »Krisen verhindern, Konflikte bewältigen, Frieden fördern« von 2017 haben die drei Ressorts vereinbart, sich mit Blick auf Krisenfrüherkennung untereinander besser abzustimmen. Sie sind sich also dessen bewusst, dass es problematisch ist, Vorausschau nebeneinander und nicht miteinander zu betreiben.
Aus dem Bundestag kommen gelegentlich Initiativen, die seine außen-, entwicklungs- und sicherheitspolitische Arbeit strategischer und vorausschauender ausrichten wollen. So könnte auf Ausschussebene regelmäßig über denkbare strategische Herausforderungen informiert werden. Weiterhin sind Sachverständigenanhörungen vorstellbar. Über die politischen Maßnahmen der Bundesregierung im Umgang mit solchen strategischen Herausforderungen ließe sich im Plenum debattieren. Allerdings steht auch für das Parlament die Früherkennung von Krisen und Konflikten im Vordergrund.
Bei den wichtigsten internationalen Partnern Deutschlands ist die Situation ähnlich, etwa in Großbritannien, Frankreich und den USA. Häufig sind die Beziehungen zwischen den verschiedenen staatlichen Einrichtungen, die vorausschauen, eher kompetitiv als kooperativ. Für die zwischenstaatliche Ebene in puncto Vorausschau gilt, dass Regierungen zwar fallweise zusammenarbeiten, zum Beispiel der deutsche mit dem französischen Planungsstab in den jeweiligen Außenministerien. Aber selten geschieht dies systematisch. Inter- bzw. supranationale Akteure wie EU, Nato und VN arbeiten ebenfalls vorausschauend; auch sie richten ihre Aufmerksamkeit primär auf Krisen und Konflikte.
Der Mehrwert gemeinsamen Vorausschauens
Dabei spricht nichts dagegen, dass strategische Vorausschau auch auf Situationen hinweist, die eine wünschenswerte Entwicklung ankündigen. Ein multilateraler Ansatz scheint für die Früherkennung von Chancen besonders geeignet. Die Zusammenarbeit mit Partnern aus unterschiedlichen Regionen und Kulturen kann den Blick für das globale Geschehen erweitern und gleichzeitig schärfen. So können die bestehenden »blinden Flecken« nationalstaatlicher Ansätze reduziert werden: erstens die mangelnde Wahrnehmungsfähigkeit der Analysten für Ereignisse und Entwicklungen, die außerhalb ihrer Vorstellungskraft liegen, die vom jeweiligen Erfahrungshintergrund geprägt ist; zweitens die Priorisierung von Krisen und Konflikten in den meisten Vorausschau-Aktivitäten. Gemeinsame strategische Vorausschau kann den Wahrnehmungsraum ausweiten und diese Fixierung überwinden. Entscheidungsträger können dann besser für unverhoffte Handlungschancen sensibilisiert werden.
Die systematische Kooperation diverser Partner führt verschiedene Perspektiven zusammen. Das muss nicht konfliktfrei verlaufen – Verständnis für die Sichtweisen, Interessen und Präferenzen der anderen entsteht aber bereits im Prozess, wenn man sich darauf einigt, auf welchen thematischen und geographischen Herausforderungen der Fokus liegen sollte. Unterschiedliche Sichtweisen ergänzen sich so zu Multiperspektivität. Getestet werden könnte dieser Ansatz im Rahmen der »Allianz für den Multilateralismus«. Bewährt sich das Vorgehen, könnte man perspektivisch darüber nachdenken, wie sich gemeinsame strategische Vorausschau länderübergreifend institutionalisieren ließe, etwa in Lagezentren oder »Situation Rooms«. Zusätzliches Ziel wäre das Einüben kooperativer Handlungsprozesse. In operativer Hinsicht wird dadurch schnelleres Agieren in Entscheidungssituationen erleichtert – eine wichtige Voraussetzung für effektiven Multilateralismus.
In der Realität internationaler Politik liegen Krisen und Chancen oft nah beieinander. Beispielhaft illustrieren lässt sich dies anhand des Arabischen Frühlings: 2010/11 erfassten Massenproteste praktisch den gesamten Nahen und Mittleren Osten. In Tunesien, Ägypten und Libyen haben sie zur Ablösung der Machthaber geführt, während in Syrien ein bis heute andauernder Bürgerkrieg begonnen hat. Die Volksaufstände hatten ihre Ursache in der tiefen Unzufriedenheit mit den Lebensumständen in der Region, die von Korruption, Perspektivlosigkeit und staatlicher Repression geprägt waren. Bei aller Gewalt, mit der sie einhergingen (und teils bis heute gehen), boten sie auch eine Chance für regionale Transformation. Schnell zeigte sich, dass dies jedoch nur mit massiver Unterstützung von außen möglich sein würde. Entsprechende Pläne lagen indes nicht vor; folglich war die internationale Reaktion im Wesentlichen durch Krisenmanagement geprägt.
Aus der Geschichte kann man lernen: Eine gemeinsame strategische Vorausschau hätte womöglich frühzeitig Ideen dafür erarbeiten können, mit welchen Maßnahmen insbesondere die EU die politische, soziale und ökonomische Transformation gezielter und effektiver hätte unterstützen können. Konflikte zwischen den an der Vorausschau beteiligten Staaten über Ziele und Maßnahmen wären früh(er) thematisiert worden und hätten die Entscheidungsfindung in der unmittelbaren Handlungssituation weniger belastet.
Allerdings wird selbst ein multiperspektivischer Ansatz nicht jede revolutionäre Situation oder Chance auf Transformation im Vorfeld antizipieren können. Die wissenschaftliche Auswertung von Vorhersagewettbewerben (»Forecasting Tournaments«) zeigt hingegen, dass multiperspektivisch zusammengesetzte Teams besser abschneiden als homogene Vergleichsgruppen. Im 2011 gestarteten »Good Judgment Project« ging es darum, Fragen nach dem Eintritt hypothetischer Ereignisse auf internationaler Ebene zu beantworten. In diesem über fünf Jahre laufenden Wettbewerb mit mehr als 3000 Teilnehmern erzielten fachliche Laien eine höhere Treffergenauigkeit als Experten oder professionelle Analysten – obgleich Letztere auf nicht öffentlich zugängliche Informationen zurückgreifen konnten.
Diversität und Transparenz als Erfolgsfaktoren
Multiperspektivität scheint sich also auszuzahlen und wäre eine zentrale Voraussetzung für länderübergreifend organisierte strategische Vorausschau. Damit diese gelingt, dürfen die Analyseteams nicht homogen zusammengesetzt sein, sondern müssen einen hohen Grad an Diversität aufweisen. Wesentliche Auswahlfaktoren können Alter, Geschlecht, ethnischer, kultureller und religiöser Hintergrund, kognitive Dispositionen sowie die politische Einstellung sein.
Um die Diversität der Sichtweisen zu erhöhen, können in die Analyse Erkenntnisse nicht staatlicher Akteure einbezogen werden – häufig eine wichtige zusätzliche Informationsquelle. Indessen sind »shrinking spaces« und staatliche Repression nicht nur für die Zivilgesellschaft in immer mehr Ländern ein massives Problem, sondern auch für die Forschung. Feldforschung unter autoritären Bedingungen wird riskanter für die Wissenschaftler und ihre lokalen Quellen, als Folge werden fundierte Informationen über relevante Entwicklungen spärlicher. Regierungen, die gemeinsame strategische Vorausschau betreiben wollen, sollten sich deshalb dafür einsetzen, dass wissenschaftliche Forschung unter sicheren Bedingungen stattfinden kann.
Heute stehen so viele quantitative Daten über globale Ereignisse und Entwicklungen zur Verfügung wie nie zuvor. Zwar erleichtert das den Aufbau datenbankgestützter Modelle für strategische Vorausschau, die komplexe und hochauflösende Analysen von Ländern und Regionen ermöglichen. Gleichzeitig sind aber auch die Manipulationsmöglichkeiten von Daten und Informationen immens gewachsen. Das nutzen nicht nur autoritäre Regime. Im Rahmen der gemeinsamen strategischen Vorausschau müssen sich jedoch alle beteiligten Akteure darauf verlassen können, dass die verwendeten Daten nicht unzulässig manipuliert werden. Vertrauen zwischen den Partnern ist ebenso Voraussetzung für den Austausch sensibler Informationen.
Transparenz ist zudem wichtig, um Entscheidungsträger davon zu überzeugen, politische Maßnahmen auf der Grundlage von Empfehlungen umzusetzen, die auf Zukunftsanalysen basieren. Sie lässt sich durch die Einführung kompetitiver Elemente in der strategischen Vorausschau vergrößern. Die guten Erfahrungen aus Vorhersagewettbewerben könnten dabei helfen.
Die Partner, die sich an der gemeinsamen strategischen Vorausschau beteiligen, sollten einen solchen Wettbewerb länderübergreifend ausrichten; damit wäre das Ziel vergleichsweise einfach zu verwirklichen: eine höhere Diversität und Multiperspektivität mit Blick auf die Früherkennung von relevanten Ereignissen. Das könnte ein erster Schritt auf dem Weg zu weiteren gemeinsamen Vorausschau-Aktivitäten sein.
Dr. Lars Brozus ist Wissenschaftler in der Forschungsgruppe Amerika.
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ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2019A55