Politische Entscheidungsträger sind mit einer Vielzahl von hypothetischen Krisen konfrontiert, für die der Staat gleichzeitig Vorsorge treffen soll. Die Kosten einer angemessenen Vorbereitung auf alle denkbaren Ereignisse übersteigen die zur Verfügung stehenden Ressourcen allerdings bei weitem. Daher müssen Entscheidungsträger auswählen, welche Krisen Vorsorge-Priorität genießen sollen. Für diese Entscheidung spielen Faktoren wie die öffentliche Sichtbarkeit und Eintrittswahrscheinlichkeit der Krise sowie das erwartete Ausmaß der von ihr verursachten Schäden ebenso eine Rolle wie analogiebasiertes Schlussfolgern und politische Intuition. Die Corona-Krise verdeutlicht, dass diese Zukunftsheuristiken mit Entscheidungsrisiken einhergehen. Trotz eindringlicher Warnungen vor den Folgen einer möglichen Pandemie war kaum ein Staat gut gerüstet. Fundierter ließen sich Vorsorge-Entscheidungen treffen, wenn die Erkenntnisse systematischer Vorausschau berücksichtigt würden.
Weltweit sind mittlerweile mehr als 6,3 Millionen mit dem neuartigen Coronavirus Infizierte registriert, über 380 000 Menschen sind verstorben – die Dunkelziffern dürften deutlich höher sein. Das Welternährungsprogramm fürchtet, dass die Zahl hungernder Menschen infolge der Corona-Krise bis Ende 2020 um 130 Millionen zunehmen könnte. Nach Schätzungen des Internationalen Währungsfonds werden sich die ökonomischen Einbußen in diesem und dem nächsten Jahr weltweit auf etwa 9 Billionen Dollar belaufen. Das entspricht der kombinierten Jahreswirtschaftsleistung Japans und Deutschlands vor der Krise. Die in Deutschland in eigens aufgelegten Programmen mobilisierbaren Mittel, unter anderem zur Absicherung von Arbeitsplätzen und als Schutzschirme für Gebietskörperschaften und Wirtschaftsbranchen, könnten laut Deutscher Bank ein Volumen von bis zu 1,9 Billionen Euro erreichen.
Kaum Vorsorge trotz Warnungen
Eine bessere Vorbereitung auf die Pandemie hätte nur einen Bruchteil der Kosten gefordert, die für die Bewältigung der Corona-Folgen aufzuwenden sein werden. Bill Gates sprach auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2017 davon, dass die Kosten einer weltweit adäquaten Pandemie-Vorbereitung auf 3,4 Milliarden Dollar pro Jahr geschätzt würden (die Verluste, die ohne Vorbereitungsmaßnahmen drohen, bezifferte er demgegenüber mit jährlich bis zu 570 Milliarden Dollar – aus heutiger Sicht wohl zu konservativ). Die Einlagerung ausreichender Mengen von Schutzausrüstung und Diagnosematerial in Verbindung mit einer besseren Vorbereitung des Gesundheitssystems, einschließlich der Ausstattung von Krankenhäusern mit mehr Intensivpflegeplätzen, hätte die Chancen auf eine frühzeitige Eindämmung des Virus deutlich erhöht. Und Leben gerettet.
Daher bewegt Politik und Gesellschaft die Frage, warum nicht besser vorgesorgt wurde. Denn ein schwarzer Schwan, also ein komplett überraschendes Ereignis, das die Welt unvorbereitet trifft, ist die Corona-Krise nicht. Warnungen vor einer bevorstehenden Pandemie mit gravierenden globalen Auswirkungen gab es von staatlichen wie nichtstaatlichen Akteuren sowohl national als auch international. In Deutschland wird oft auf den vom Bundestag veröffentlichten Bericht des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) zur Risikoanalyse im Bevölkerungsschutz 2012 verwiesen. Thematisiert wurde darin eine »Pandemie durch Virus Modi-SARS«. Ein anderes Beispiel ist der jährliche Global Risks Report des World Economic Forum (WEF), der 2019 vor der Verbreitung von Infektionskrankheiten warnte.
Zu viele denkbare Krisen
Gelegentlich wird unterstellt, dass die Politik ignorant gegenüber diesen Warnungen gewesen sei und deshalb nur mangelhaft vorgesorgt habe. Dabei wird jedoch unterschätzt, dass im Strom der Alltagspolitik unzählige Warnungen, Vorschläge und Ideen um die Aufmerksamkeit der Entscheidungsträger konkurrieren. Die BBK-Berichte analysierten über die Jahre hinweg etliche Extremereignisse, auf die Deutschland vorbereitet sein sollte. Neben der Pandemie wurden genannt: extremes Schmelzhochwasser (ebenfalls 2012), Wintersturm (2013), Sturmflut (2014), Freisetzung radioaktiver Stoffe aus einem Kernkraftwerk (2015), Freisetzung chemischer Stoffe (2016) sowie Dürre (2018). Auch der Global Risk Report des WEF nannte 2019 außer einer Pandemie eine Vielzahl von Phänomenen, die sich zu Krisen auswachsen könnten, darunter Klimawandel, Massenvernichtungswaffen, Cyberattacken, Wasserknappheit und Spekulationsblasen. Darüber hinaus wiesen die WEF-Berichte der Jahre vor (und nach) 2019 auf zahlreiche weitere Risiken hin, die ebenfalls politischer Aufmerksamkeit bedürften.
Abgesehen von BBK und WEF veröffentlichen viele weitere Institutionen und Akteure Risikoberichte und Krisenwarnungen. Sich auf all diese denkbaren Ereignisse gleichermaßen vorzubereiten überfordert die staatlichen Ressourcen und Kapazitäten. Entscheidungsträger müssen daher auswählen, für welche Krisen Vorsorge getroffen werden soll. Gängige Kriterien für solche Entscheidungen sind die Wahrscheinlichkeit des Ereigniseintritts sowie das erwartete Ausmaß der verursachten Schäden. Beide Faktoren sind jedoch keine fixen Größen, wie die Corona-Krise verdeutlicht: Aus den vorliegenden Warnungen ließ sich nicht ableiten, dass der weltweite Krisenfall im Winter 2019/20 unmittelbar drohte. So wird im WEF-Bericht von 2019 die Verbreitung von Infektionskrankheiten gemessen an der mutmaßlichen Schadenshöhe zwar auf Platz 10 geführt. In der Liste der zehn Risiken mit der höchsten Eintrittswahrscheinlichkeit fehlen die Infektionskrankheiten jedoch – wie auch im Global Risks Report 2020. Und selbst Fachleute waren sich zu Beginn der Pandemie uneins über die zu erwartende Entwicklung.
Riskante Zukunftsheuristiken
Entscheidungsträger greifen daher neben der Kalkulation von Eintrittswahrscheinlichkeit und Schadenshöhe auch auf politische Intuition und einfache Zukunftsheuristiken zurück. Dabei spielen drei Faktoren eine Rolle: Erfahrungen aus der Vergangenheit, die in Analogieschlüssen verarbeitet werden, die Relevanz des Ereignisses in der öffentlichen Debatte sowie die Chancen, eine politische Entscheidung durchzusetzen.
Gerade unter Bedingungen von Zeitmangel und Informationsunsicherheit verwenden Entscheidungsträger gern Analogien, die Lehren aus der Geschichte spiegeln sollen. Unzutreffende Schlussfolgerungen bleiben dabei nicht aus. Vor der aktuellen Covid-19-Pandemie traten mehrere vergleichbare Infektionskrankheiten auf. Zwei davon wurden ebenfalls von Erregern aus der Familie der Corona-Viren verursacht: SARS (2003) und MERS (2012). Die globale Verbreitung konnte jedoch abgewendet werden. Damit bewahrheiteten sich ursprüngliche Befürchtungen, wonach es tausende von Todesfällen und nachhaltige wirtschaftliche Verwerfungen geben könne, glücklicherweise nicht. Entsprechend geriet das von verwandten pathogenen Erregern ausgehende Pandemie-Risiko wieder aus dem Blickfeld.
Nach diesen Erfahrungen war eins fast unvermeidlich: Gemäß der Logik politischer Abwägung zwischen begrenzten Vorsorge-Ressourcen einerseits und öffentlicher Sichtbarkeit – sowie dem daraus resultierenden Druck – potentieller Krisen andererseits würden Entscheidungsträger zu dem Analogieschluss neigen, dass aufwendige und kostenintensive Maßnahmen zur Vorbereitung auf künftige Virusausbrüche keine hohe Priorität auf der Vorsorge-Agenda einnehmen müssten.
Bezeichnenderweise fiel die Entscheidung über Vorsorgemaßnahmen in einigen jener Staaten anders aus, die von den vorhergehenden Virusausbrüchen stärker tangiert waren. So investierten beispielsweise Südkorea und Taiwan mehr in entsprechende Gesundheitsvorkehrungen. Politisch ließ sich dies aufgrund der gesellschaftlichen Erfahrung größerer Vulnerabilität gut rechtfertigen. In der aktuellen Pandemie profitieren beide Staaten von den Entscheidungen, die sie damals getroffen haben. Die gesellschaftliche Akzeptanz der Maßnahmen gilt als wichtiger Faktor für den Erfolg, den Präsident Moon im April bei den Parlamentswahlen in Südkorea hatte.
Vorbereitung durch Vorausschau
Im Umkehrschluss ist davon auszugehen, dass globaler Gesundheitspolitik künftig deutlich mehr Aufmerksamkeit und Ressourcen zugewendet werden. Das ist in der Sache längst überfällig. Es löst aber nicht das prinzipielle Problem, dass weiterhin zu viele Risiken um politische Aufmerksamkeit konkurrieren – und dies bei absehbar drastisch schrumpfenden Verteilungsspielräumen. Deutlich wird dies etwa in der Diskussion darüber, welche Politikfelder von den mutmaßlich unabwendbaren Sparmaßnahmen verschont bleiben müssten. Vorneweg marschiert hier die Verteidigungspolitik, deren Protagonisten gute Gründe für ihre Abwehrhaltung gegenüber drohenden Einsparungen anführen können. Aber niemand weiß natürlich, wie groß das Risiko einer militärischen Konfrontation tatsächlich ist und welche Vorsorgemaßnahmen angemessen sind.
Oder doch? Wissenschaftliche Studien zeigen, dass sich die Genauigkeit von Vorhersagen künftiger Ereignisse (die sogenannten Forecasts) systematisch steigern lässt. Je fester die Politik auf die Vorhersagen systematischer Vorausschau vertrauen kann, desto eher erscheinen fundierte Entscheidungen darüber möglich, für welche Ereignisse Vorsorge angebracht ist. Das würde den politischen Streit über die Prioritäten versachlichen, die Qualität der Debatte erhöhen und evidenzbasierte Vorsorgepolitik fördern.
Die Studien stützen sich auf die Ergebnisse eines Projekts, an dem seit 2011 mehrere tausend Personen teilgenommen haben, Laien ebenso wie Fachleute. Der Versuchsaufbau sieht vor, dass die Teilnehmer möglichst viele Vorhersagen über das Eintreffen oder Ausbleiben konkreter Ereignisse abgeben. Den Projektteilnehmern werden dabei Fragen zur Beantwortung vorgelegt. Aktuelle Beispiele für solche Fragen könnten sein: Wird Joe Biden die Präsidentschaftswahlen in den USA gewinnen? Wird Russland den Open-Skies-Vertrag verlassen, wenn die USA ihn aufkündigen? Wird das Weltwirtschaftswachstum im ersten Quartal 2021 positiv ausfallen? Wird 2020 eines der fünf wärmsten Jahre seit Beginn der Wetterdatenaufzeichnungen sein?
Bei der Auswertung von mehr als 880 000 Forecasts zeigt sich, dass manche Teilnehmer deutlich häufiger richtig liegen als andere. Den besten zwei Prozent gelang dies über mehrere Jahre hinweg. Werden diese konsistent überdurchschnittlich gut abschneidenden Forecaster in Gruppen zusammengefasst, ist die Trefferwahrscheinlichkeit ihrer gebündelten Vorhersagen noch größer. Zurückzuführen ist das unter anderem auf höhere Diversität, die Multiperspektivität befördert. Die besten Teams erzielen eine um etwa 30 Prozent höhere Vorhersagegenauigkeit als Vergleichsgruppen, die Zugang zu nachrichtendienstlich eingestuften Informationen haben. Durch Trainingsmaßnahmen lässt sich die Vorhersagegenauigkeit zusätzlich steigern.
Das bedeutet zwar nicht, dass die Krisen nach Corona künftig auch nur annähernd vollständig antizipiert werden könnten. Eine Erhöhung der Trefferquote um 30 Prozent impliziert aber, dass sich die Anzahl der Krisen, für die Vorbereitungen getroffen werden sollten, deutlich reduzieren würde. Wenn präzisere Aussagen darüber vorliegen, welches Ereignis mit höherer Wahrscheinlichkeit eintreten wird, lässt sich gezielter vorsorgen. Gerade kostenintensive und unbequeme Vorsorgemaßnahmen ließen sich gegenüber einer womöglich skeptischen Öffentlichkeit besser rechtfertigen – insbesondere dann, wenn auch nichtstaatliche Akteure und staatsunabhängige Einrichtungen in den Entscheidungsprozess einbezogen werden.
Mehrebenen-Institutionalisierung
Für die Institutionalisierung systematischer Vorausschau bieten sich in Deutschland diverse Anknüpfungspunkte. Das Auswärtige Amt verfolgt verschiedene Ansätze, sich abzeichnende Krisen frühzeitig zu erkennen. Ergänzend könnte systematische Vorausschau bereits im Vorbereitungsdienst trainiert und erprobt werden. Über Zeit ließe sich ein Pool methodisch geschulter Diplomaten aufbauen, die regelmäßig Vorhersagen treffen. Von der Alltagspraxis im Auswärtigen Dienst ist das gar nicht so weit entfernt. Eine wichtige Aufgabe der Diplomatie besteht ohnehin in der Auseinandersetzung mit und der Vorbereitung auf denkbare Entwicklungen. Die Steigerung der Vorhersagepräzision würde dazu beitragen, den Handlungsempfehlungen mehr entscheidungsrelevantes Gewicht zu verleihen.
Die Seminare zur Strategischen Vorausschau der Bundesakademie für Sicherheitspolitik stellen eine weitere Möglichkeit dar, die Forecast-Methode in der Administration zu verankern. Schließlich befasst sich das BBK im Rahmen des Risikomanagements mit der Identifikation und Analyse von Risiken. Die Erkenntnisse sollen zur Entscheidungsfindung und zur Vorsorgeplanung herangezogen werden. Systematische Vorausschau könnte dabei helfen, die mutmaßlich relevantesten Krisen aus der Vielzahl an denkbaren Risiken auszuwählen. Zudem ist das BBK als nationale Kontaktstelle des Sendai-Rahmenwerks für Katastrophenvorsorge auch international vernetzt.
Auf internationaler Ebene könnte systematische Vorausschau in multilateralen Zusammenhängen institutionalisiert werden. Allerdings wäre hier viel stärker experimentell vorzugehen. Denn traditionell ist Vorausschau Aufgabe der Nationalstaaten. Entsprechend begrenzt ist oft das Blickfeld, aus dem auf denkbare Krisen geschaut wird. Größere Diversität würde dieses Blickfeld erweitern. So könnte über Zeit eine multiperspektivische Vorausschau möglich werden, die nationale Interessen transzendiert und dazu beiträgt, globale Herausforderungen frühzeitiger und mit größerer Treffsicherheit zu erkennen. Die von Deutschland und Frankreich begründete Allianz für den Multilateralismus könnte hier einen Impuls setzen.
Dr. Lars Brozus ist Leiter (a. i.) der Forschungsgruppe Amerika.
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ISSN 1611-6364
doi: 10.18449/2020A42